Die Charismatische Bewegung 1

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2. Das Ende biblischer Gnadengaben?

Argumente für das Ende der „charismatischen Geistesgaben” heute ergeben sich zum einen aus einigen Aussagen des Neuen Testaments, zum anderen aus Entwicklungen der Kirchengeschichte und darüber hinaus aus Beobachtungen charismatischer Praxis.

1. Im Zentrum der Auseinandersetzungen um das mögliche Ende jener Zeichengaben aus 1Kor 12 + 14 steht die Ankündigung, dass Prophetie, Zungenrede und Erkenntnis aufhören werden, wenn „das Vollkommene” gekommen ist (1Kor 13,8-10). Uneinigkeit besteht unter den Exegeten darüber, wann das der Fall sein wird und was konkret unter dem „Vollkommenen” zu verstehen ist. Einige sehen darin den abgeschlossenen und deshalb „vollkommenen” Kanon des Neuen Testaments, was jedoch dadurch unwahrscheinlich erscheint, da Paulus in diesem Zusammenhang nicht vom schriftlich fixierten Wort Gottes spricht. Auch sonst wird das Wort Gottes zwar als vollkommen beschrieben (Ps 19,8; Jak 1,25), nie aber „das Vollkommene” genannt. Andererseits ist die Auslegung des „Vollkommenen” als Zustand in der Ewigkeit Gottes nicht ganz zufriedenstellend. Zwar entspräche diese Interpretation der Aussage des Paulus, „… dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt worden bin” (1Kor 13,12), andererseits soll auch dann noch das geistliche Leben von Hoffnung und Glauben gekennzeichnet sein (V. 13). Doch scheint dieses auf eine noch ungewisse Zukunft ausgerichtete Verhalten kaum zum Leben in der Gegenwart Gottes zu passen, in der es nichts mehr zu hoffen und zu glauben gibt, da doch alles erreicht und gewiss ist. Es wurde auch vorgeschlagen, „wenn das Vollkommene (teleios) da ist” als „wenn die vollkommene Reife erreicht ist” oder „wenn ihr erwachsen im Glauben geworden seid” zu übersetzen, was sprachlich durchaus möglich ist.11 Demnach wären neutestamentliche Prophetie und Zungenrede lediglich Gaben für die erste, noch unreife Zeit der Gemeinde. Nach deren lehrmäßiger und organisatorischer Festigung im 1. und 2. Jahrhundert hätten diese Gaben ihren Zweck erfüllt und könnten zurücktreten (vgl. Eph 4,13ff), zumal Paulus im Zusammenhang mit der Glossolalie von Unreife der Gemeinde spricht, die überwunden werden solle (1Kor 14,20). Diese Übersetzungsmöglichkeit spricht allerdings nicht für ein generelles Aufhören der Glossolalie, sondern lediglich für deren eingeschränkte Nutzung bei noch „unreifen”, geistlich „nicht erwachsenen” Christen.

In diesem Zusammenhang wird zurecht darauf hingewiesen, dass Paulus für das Aufhören von Prophetie und Erkenntnis ein anderes Verb benutzt als für das Ende des Zungenredens. Betont das erste (katargeo) eine aktive Handlung, hebt das zweite (pauo, im Medium) das eher selbstständige zur Ruhe kommen der Sprachenrede hervor (1Kor 13,8).12 Dieser Unterschied kann dahingehend ausgelegt werden, dass Gott Prophetie und Erkenntnis am Ende der Zeiten in einem autoritativen Eingriff beendet, wohingegen das Zungenreden schon vorher selbstständig ein Ende findet. Allerdings muss bei dieser Deutung beachtet werden, dass das Verb pauo auch das längere Aussetzen einer Tätigkeit meinen kann (Pause machen), wohingegen das andere Verb katargeo gewöhnlich ein absolutes Ende bezeichnet. Demnach wäre es durchaus möglich, dass die Sprachenrede nach längerem Aussetzen in späterer Zeit erneut auftritt.

Gegen den dauerhaften Einsatz des Zungenredens in der Gemeinde spricht deren Erklärung als Zeichen für ungläubige Juden „Ich will mit fremden Sprachen und fremden Lippen zu diesem Volk reden …” (1Kor 14,21; Jes 28,11ff). Durch das Zungenreden und andere Zeichengaben sollte Israel deutlich gemacht werden, dass Gott jetzt auch mit und durch Heiden handelt (Apg 10,44-46; Röm 11f.25-27; Gal 3,28). Da dieser Zweck zwischenzeitlich erfüllt ist und darüber hinaus in den meisten Gemeinden keine Juden mehr gegenwärtig sind, fällt damit auch der ursprüngliche Grund der Sprachenrede. Hierbei muss allerdings beachtet werden, dass in 1Kor 14,21 zwar von einem Zeichen für die Juden gesprochen wird, in den Versen vorher und nachher aber nicht von Juden, sondern von Ungläubigen (apistos) die Rede ist. Damit sind gewöhnlich alle Menschen gemeint, die dem Evangelium von Jesus Christus keinen Glauben schenken.13 Demnach wäre das Zungenreden nicht nur ein Zeichen für Juden, sondern auch für ungläubige Heiden. Sollten, gegen den sprachlichen Befund, mit der Glossolalie nur Juden angesprochen werden, könnte daraus kein Ende dieser Geistesgabe abgeleitet werden, da auch heute noch Juden dadurch überzeugt werden könnten, seien sie nun Besucher des entsprechenden Gottesdienstes oder hörten sie nur aus der Entfernung von diesem Phänomen. Außerdem ist es problematisch anzunehmen, dass der von Paulus angeführte Grund des Zungenredens als Zeichen für die Juden der einzige Zweck der Glossolalie sein muss, da er doch andernorts beispielsweise davon spricht, dass Zungenreden den Gläubigen selbst erbaut (1Kor 14,4) und eine Zwiesprache mit Gott ist (1Kor 14,2.28).

Gegen das fortwährende Zungenreden wird auch angeführt, dass es vor allem als Beglaubigungszeichen Gottes für die Wahrheit des Evangeliums diente. Nach dem Abschluss des neutestamentlichen Kanons habe die Bibel diese Funktion übernommen. Allerdings reduziert diese Interpretation den Zweck des Zungenredens unzulässig auf diesen Beglaubigungsaspekt und schlussfolgert ohne biblischen Beleg, dass ein solches Zeichen neben der Bibel heute nicht mehr von Gott gewollt sei. Dabei wäre es durchaus denkbar, dass Gott Glossilalie auch heute noch als außergewöhnliches Zeichen für ungläubige Zweifler nutzt, obwohl diese auch im Neuen Testament lesen könnten.

Zu Recht wird darauf hingewiesen, dass die Glossolalie im Neuen Testament keinen besonders herausgehobenen Status einnimmt. Außer in der Apostelgeschichte wird sie nur im ersten Korintherbrief erwähnt, in dem die Gemeinde wegen falschen Einsatzes und Überbewertung der Zungenrede zurechtgewiesen werden musste. Weil die Sprachenrede in den anderen Schriften des Neuen Testaments nicht erwähnt wird, schließt man, dass sie in den übrigen Gemeinden nur eine untergeordnete Rolle spielte oder schon im Verlauf der neutestamentlichen Zeit gänzlich zum Erliegen kam. Hier handelt es sich allerdings um eine Argumentation, die sich lediglich auf das Schweigen zahlreicher Schriften des Neuen Testaments stützt. Ein solches Vorgehen ist natürlich sehr spekulativ. Ebenso könnte über das Ende der Taufe oder des Abendmahls räsoniert werden, weil sie nicht in allen neutestamentlichen Schriften erwähnt werden. Darüber hinaus könnte auch einfach davon ausgegangen werden, dass alle Gemeinden die Glossolalie in dem von Paulus gesetzten Rahmen praktizierten und sich deshalb weitere Anweisungen erübrigten.

Immer wieder wird betont, dass die durch den Heiligen Geist gewirkten Zeichen in erster Linie der Beglaubigung der Sendung Jesu (vgl. Joh 3,2; Apg 2,22; Hebr 2,3f) und der von ihm bevollmächtigten Apostel (Röm 15,19; 2Kor 12,11f) dienten. Durch die von ihm bewirkten Wunder wollte Gott eine zuverlässige und glaubwürdige Basis für den Aufbau der zukünftigen Gemeinde schaffen (Eph 2,20; Offb 21,14). Nachdem Jesus und die Apostel dieses Fundament gelegt hatten, erübrigten sich diese Beglaubigungswunder. Insofern widerspiegeln die Zeichen und Wunder der Evangelien und der Apostelgeschichte eine historisch einmalige Zeit. Demnach richten sich die Wunderverheißungen Jesu ausschließlich an die von ihm berufenen Jünger in ihrer Funktion als Gründer der christlichen Gemeinde (Mk 16, 15-18). Auch im Alten Testament scheint Gott nur in der Zeit der Staatsgründung Israels durch Mose und Josua und später durch Elia und Elisa eine außergewöhnliche Zahl spektakulärer Wunder gewirkt zu haben, während sein Eingreifen zu anderen Zeiten weniger sichtbar ist. Demnach wäre das Wirken Gottes durch Zeichen und Wunder heilsgeschichtlich gesehen die Ausnahme, die Offenbarung durch sein Wort hingegen der Normalfall. Tatsächlich wird für die „letzte Zeit” von Jesus keine neue Epoche außergewöhnlicher Wunder Gottes vorhergesagt, sondern Christenverfolgungen (Mt 10,17; 24,9f; Joh 15,20; 2Tim 3,12) und spektakuläre Wunder falscher Propheten (Mt 24,5.11.24; 2Thess 2,9; Offb 13,13). Diese Aussagen machen deutlich, dass Wunder immer interpretationsbedürftig sind und auch von Dämonen bewirkt werden können. Eine besondere Häufung von Wundern in der Gegenwart jedenfalls kann biblisch kaum begründet werden. Immer wieder zitierte Prophetien des Alten Testaments (Joel 3,1; Jes 44,3; Hes 36,27; Am 8,10 - vgl. Apg 2,15ff) haben sich größtenteils in der Zeit Jesu und der Apostel erfüllt, andere Aussagen beziehen sich auf die Zeit, wenn Israel Jesus als Messias anerkennt oder wenn Gott auf der Erde regieren wird.

Nun sollte daraus aber auch nicht geschlussfolgert werden, dass heute gar keine Wunder von Gott bewirkt werden oder keine Zeichengaben (Zungenrede, Prophetie, Heilung usw.) gegeben werden könnten. Der Hinweis auf den Beglaubigungscharakter der Wunder Gottes zur Zeit Jesu schließt nicht aus, dass Gott sein Evangelium auch noch heute spektakulär von Menschen beglaubigen will oder aus irgend einer anderen Motivation durch Wunder handelt. Wird ein Grund des Wunderwirkens Gottes korrekt beschrieben, darf daraus eben nicht geschlossen werden, es gäbe keine anderen Gründe, aus denen Gott auch heute noch außergewöhnlich handelt (z.B. für die Mission, zur Zurechtweisung von Gläubigen, als Ermahnung an die Menschheit, aus Mitleid mit Leidenden usw.). Auch wenn das Neue Testament die Bedeutung von Zeichen und Wundern stark relativiert und deren absolutes Ende deutlich vorhersagt, kann das Aufhören von Zungerede, Prophetie, Heilung usw. in der Gegenwart daraus nicht zwangsläufig geschlossen werden.

2. Der immer wieder zu hörende Hinweis auf die Kirchengeschichte, in der die Zeichengaben schließlich weitgehend aufgehört hätten, ist zwiespältig. Zwar gab es in der nachapostolischen Zeit tatsächlich ein langsames Abflauen der Prophetie, des Zungenredens und der Heilungen. Diese Entwicklung ist wahrscheinlich aber auf den immer größer werdenden Missbrauch dieser Begabungen zurückzuführen. Ein große Zahl von Sektierer jener Zeit bedienten sich Wundertaten zur Beglaubigung ihrer Aussagen (z.B. Gnostiker, Montanisten), so dass in den Gemeinden eine zunehmende Skepsis gegenüber der Aussagekraft „übernatürlicher Mitteilungen” wuchs. Andererseits hörten auch reelles Zungenreden, Prophetie und Heilungen nie vollständig auf. In bestimmten Regionen und zu bestimmten Zeiten traten diese Zeichengaben immer wieder auf, ohne dass Betrug oder Okkultismus dahinter zu stecken schien (z.B. bei den Beginen, den Quäkern, den Methodisten, der Erweckungsbewegung).14 So werden auch aus der Zeit der Germanenmission zahlreiche Wunder berichtet, Offenbarungen, Heilungen, Dämonenaustreibungen usw. (z.B. bei Martin von Tours, Magnoald, Bonifatius). Allerdings überwog in der Kirchengeschichte zumeist der Mißbrauch dieser vorgeblichen Geistesgaben. Mystiker, Täufer, Pietisten und Inspiriertengemeinden beriefen sich auf Prophetie und Wundertaten Gottes.15 Damit wollten sie unter anderem Irrlehren, Morde und sexuelle Ausschweifungen rechtfertigen. Im 19.Jahrhundert waren es Prediger der Erweckungsbewegung, aber auch die Gründer der Mormonen, Adventisten und Neuapostolischen, die übernatürliche Mitteilungen Gottes zur eigenen Legitimation heranzogen: Gott habe ihre Berufung durch Wunder bestätigt, habe ihnen prophetisch den Termin für das Weltende, den Trick selbst Gott zu werden oder die Aufforderung, mehrere Frauen zu heiraten, mitgeteilt.16

 

So muss festgestellt werden, dass ein gänzliches Ende aller Zeichengaben in der Kirchengeschichte nicht nachzuweisen ist. Folglich liefert der Blick in die Geschichte keinen eindeutigen Beleg dafür, dass es in der Gemeinde heute weder Glossolalie noch Heilungen oder Prophetie mehr geben könne. Und selbst wenn diese Charismen in den vergangenen Jahrhunderten wirklich verschwunden wären, könnte daraus nicht abgeleitet werden, dass Gott diese Gaben dauerhaft nicht mehr haben wolle. Die Ursachen für das mögliche Verschwinden könnten nämlich ganz unterschiedlich sein: Ungehorsam der Kirche, kaum Zweifel an der Wahrheit der Bibel im Mittelalter, Nachlässigkeit der Gläubigen usw. Darüber hinaus kann auch in anderen Lebensbereichen der Gemeinde nicht unmittelbar von der geschichtlichen Entwicklung auf den Willen Gottes geschlossen werden. Das weitgehende Aufhören der Glaubenstaufe in der Kirchegeschichte des Mittelalters beispielsweise kann wohl auch kaum als Argument dafür herhalten, dass diese Taufpraxis von Gott nicht mehr gewollt sei. Es ist eben nicht unbedingt möglich, vom Sein auf das Sollen zu schließen. Bezüglich des Zungenredens und anderer Zeichengaben könnte ebenso argumentiert werden, die Gemeinde hätte die Glossolalie über einen längeren Zeitraum hinweg gegen den Willen Gottes vernachlässigt oder gar unrechtmäßig unterdrückt. Ebenfalls wäre es möglich, dass Gott erst wieder in der Neuzeit die Notwendigkeit sah, Christen in Zungen sprechen zu lassen, möglicherweise im Zusammenhang mit der neu aufbrechenden Weltmission.

3. Die charismatische Praxis von Zungenreden, Heilung und Prophetie weicht auffällig häufig von den eindeutigen biblischen Vorgaben ab. Da wird gelehrt, der Heilige Geist befähige alle Christen zur Glossolalie (dagegen: 1Kor 12,10f.30), Gott heile alle, die ihm vertrauen (dagegen: Phil 2,25ff; 2Tim 4,20), Prophetie könne gelernt werden (dagegen: Lk 1,67; 2Petr 1,21), Zungenrede müsse nicht ausgelegt werden (dagegen: 1Kor 14,27f), christliche Propheten könnten sich irren (dagegen: 5Mo 18,22; Jos 21,45) usw. Kritiker der Charismatischen Bewegung schließen daraus, dass diese „charismatischen Gaben” nicht von Gott bewirkt seien und es diese heute gar nicht mehr gäbe. Hierbei sollte jedoch beachtet werden, dass ein falscher Gebrauch der Geistesgaben deren echtes Vorkommen nicht verunmöglicht. Neben menschlich produziertem und möglicherweise okkultem könnte durchaus auch echtes Zungenreden, Heilen und Prophezeien stehen. Die offensichtlichen Differenzen zwischen biblischen Aussagen und der Praxis in einigen Teilen der Charismatischen Bewegung sollten angesprochen werden, ohne allerdings sofort Rückschlüsse auf die Legitimität der Geistesgaben heute zu ziehen.

Insgesamt gesehen können durchaus ernsthafte Argumente für das Ende der Zeichengaben in der Gegenwart vorgebracht werden. Eindeutige Belege für das Aufhören von Zungenrede, Prophetie und Heilungen sind das jedoch nicht. Deshalb konzentriert sich die Auseinandersetzung im Folgenden eher auf die charismatische Praxis und nicht so sehr auf die Frage, ob diese Gaben auch heute noch vorkommen können. (vgl. dazu Michael Kotsch: Die Charismatische Bewegung, Band 2, Lage 2008).

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11 Vgl. H.Hübner, Art.: teleios, in: Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament, H. Balz / G. Schneider Hrsg., Bd.3, 2.Aufl., Kohlhammer, Stuttgart 1992, Sp. 821-824

12 Vgl. H.Hübner, Art.: katargeo, in: Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament, H. Balz / G. Schneider Hrsg., Bd.2, 2.Aufl., Kohlhammer, Stuttgart 1992, Sp. 659-661 / G.Schneider, Art.: pauo, in: Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament, H. Balz / G. Schneider Hrsg., Bd.3, 2.Aufl., Kohlhammer, Stuttgart 1992, Sp.146

13 Vgl. G.Barth, Art.: apisteo, apistia, apistos, in: Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament, H. Balz / G. Schneider Hrsg., Bd.1, 2.Aufl., Kohlhammer, Stuttgart 1992, Sp. 290-295

14 Vgl. Oskar Föller, Charisma und Unterscheidung, Wuppertal: R.Brockhaus Verlag, 1994, S.10ff

15 Vgl. Oskar Föller, Pietismus und Enthusiasmus - Streit unter Verwandten, Wuppertal: R. Brockhaus, 1998

16 Vgl. Helmut Obst, Apostel und Propheten der Neuzeit, Berlin: Union Verlag, 1980

3. Die Geschichte charismatischer Frömmigkeit

Auch wenn die Charismatische Bewegung an sich nur wenige Jahrzehnte alt ist, gab es eine Reihe ähnlicher Bewegungen durch die ganze Kirchengeschichte. Zumeist finden sich allerdings nur bestimmte Aspekte charismatischer Frömmigkeit, wie die Betonung des Heiligen Geistes, eine hohe Emotionalität, das Auftreten von Zungenrede und Prophetie oder eine ausgeprägte Endzeiterwartung. Lediglich in der Bündelung ihrer Eigenschaften und ihrer Radikalität ist die Charismatische Bewegung bislang einzigartig.

Insbesondere in Krisenzeiten und während einschneidender gesellschaftlicher Umbrüche wurde die Bedeutung des Heiligen Geistes besonders hervorgehoben. Oftmals gilt der Heilige Geist als der dynamische, unberechenbare Teil der Trinität. Gerade wenn bestehende Vorstellungen und Ordnungen wanken, kann der Heilige Geist neue Formen schaffen, die den neuen Herausforderungen entsprechen. Hochgeschätzt wurde der Heilige Geist auch in den meisten prophetischen Bewegungen. So beispielsweise in den geistlichen Wirren am Ende des 1.Jahrtausends, in der Verunsicherung des Spätmittelalters (14.-15.Jahrh.) oder der industriellen Revolution (19.Jahrh.).

Wie in einer großen Pendelbewegung wechselten in der Kirchengeschichte immer wieder Phasen des Verstandes mit Phasen des Gefühls. Immer wenn man sich an die Vorteile des gläubigen Verstandes (bzw. Gefühls) gewöhnt hatte, wurde den Menschen die eigene Einseitigkeit bewusst und man begann sich nach der jeweiligen Ergänzung zu sehnen (Gefühl, bzw. Verstand), bis diese wiederum zur alltäglichen Gewohnheit wurden. Phasen der Betonung des Verstandes waren die Scholastik (10.- 12.Jahrh.), die Orthodoxie (16.-17.Jahrh.), die Aufklärung (18.Jahrh.) und die Zeit des ungebrochenen Fortschrittsglaubens in den 60er und 70er Jahren des 20.Jahrhunderts. Phasen der Betonung der Emotionalität in der Kirchengeschichte hingegen waren die Mystik, der Pietismus, die Erweckungsbewegung, die Romantik usw.

Zeichen und Wunder wurden in der Kirchengeschichte häufig in Missionssituationen beobachtet oder in Phasen, in denen der Glaube der Christen besonders in Frage gestellt wurde. Nachdem sich die Gemeinde etabliert bzw. der Glaube wieder gefestigt hatte reduzierte sich die Zahl der Wunder deutlich. Manche „übernatürlichen Erlebnisse” waren auch die direkte Folge der Betonung des gefühlvollen Glaubens. Bewusst und unbewusst wurden dann auch „Glaubenserfahrungen” selbst produziert. Auffällig häufig finden sich gut bezeugte Wunder in den ersten drei Jahrhunderten der Christenverfolgung im Römischen Reich, in der Zeit der Germanenmission (z.B. Martin von Tours, Bonifatius), während des Zusammenbruchs der mittelalterlichen Ordnungen (15.-16. Jahrhundert) und während der Glaubensmissionen im 19.Jahrhundert.

Zungenrede und Prophetie waren in der Kirchengeschichte beliebte Wege, feste Hierarchien aufzubrechen und das allgemeine Priestertum zu betonen. Gott spricht dann nicht mehr nur durch den ausgebildeten und anerkannten Geistlichen sondern durch jeden, der vom Geist Gottes getrieben wird. Darüber hinaus erhofften sich Christen immer wieder übernatürliche Offenbarungen, die Gottes Willen in einer aktuellen Frage deutlich werden lässt. Insofern wurden Prophetie und Zungenrede immer wieder als Ergänzung der biblischen Offenbarung betrachtet. Von der Kirche wurde das zumeist zurückgewiesen. Allzu oft bedienten sich auch sektiererische Bewegungen der Prophetie zur Begründung ihrer neuen Lehren und Praktiken. Aufgrund dieser überwiegend schlechten Erfahrungen wurden die Christen der Vergangenheit zunehmend kritisch gegenüber Prophetien. Eine besondere Konzentration prophetischer Aktivität findet sich im 2.Jahrhundert (z.B. Montanus), dann auch in kirchenkritischen Gruppen des Hochmittelalters und des 15.Jahrhunderts. In Erinnerung blieben hier hussitische Propheten, die das Ende der Welt ankündigten und die Vernichtung der Katholiken forderten. In der Reformationszeit meinten die Zwickauer Propheten und die Täufer von Münster (Jan Matthys), besondere Mitteilungen Gottes zu empfangen. Am Rande des Pietismus (1650-1750) und der Erweckungsbewegung (19. Jahrh.) nahmen kleinere religiöse Gruppen übernatürliche Offenbarungen Gottes für sich in Anspruch (z.B. Petersen, Inspirierten Gemeinden von Berleburg, Eva von Buttlar). Im 19.Jahrhundert wurde die Prophetie insbesondere von sektiererischen Gruppen praktiziert und hervorgehoben (z.B. Adventisten, Neuapostolische Kirche, Mormonen, Zeugen Jehovas). In den weitaus meisten Fällen erwiesen sich die vermeintlich göttlichen Prophetien im Nachhinein allerdings als Wunschvorstellungen, Irrtümer oder Verführungen, weshalb der Großteil der Christen die Prophetie skeptisch beurteilte.

In regelmäßigen Abständen wurde die Christenheit bisher von Phasen intensiver Endzeiterwartung ergriffen. Zumeist wurde die Erwartung des Gottesreiches durch äußere Zeichen wie einschneidende gesellschaftliche Bedrohungen (Seuchen, Kriege, Hungersnöte, Verarmung …) ausgelöst. Menschen sahen in den Problemen ihrer Zeit Zeichen des Endes bzw. Zeichen des Gerichtes Gottes. Das wiederum begünstigte einen stark emotional gefärbten Glauben und übernatürliche Zeichen, die als Geistesausgießung der Endzeit oder als Ausweis echter geistlicher Umkehr gedeutet wurden. Ein Höhepunkt der Endzeiterwartung nach dem 1.Jahrhundert und der Völkerwanderung war das Ende des 1.Jahrtausends. Hexenängste und Bedrohungen durch den Islam führten im 14.und 15. Jahrhundert zu verstärkten Spekulationen um das Ende der Welt. Ebenso verhielt es sich in der Zeit des 30jährigen Krieges, in der industriellen Revolution und im Vorfeld des Jahrs 2000.

Ein weiteres Element charismatischer Frömmigkeit ist die Vorstellung verschiedener Stufen geistlicher Entwicklung, die ein Christ durchlaufen müsse. Diese Überzeugung entstammte in der Kirchengeschichte zumeist der Erfahrung eines gewissen christlicher Alltagstrotts, der so gar nicht mit den Erwartungen eines erfüllten geistlichen Lebens zusammen zu passen schien. Manche Christen sehnten sich dann nach einer intensiveren Beziehung zu Gott und nach einer emotionalen Selbstvergewisserung des eigenen Glaubens. Zur Vermittlung dieser Gottesnähe wurden dann in der Kirchengeschichte verschiedene Wege angeboten. Neben dem Glauben standen beispielsweise die Sakramente, die Taufe, die Kirchenzugehörigkeit, das Einhalten bestimmter Gebote, ein genau definiertes Bekehrungserlebnis, besondere Schwüre oder Segnungen, aber auch die Geistestaufe. Nur wer auch diese nächste oder übernächste Stufe des Christseins erreichte, konnte sich zumindest vorläufig der besonderen Nähe Gottes gewiss sein.

 
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