Wyllards wundersame Wege

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„Hatten Sie den Eindruck, dass sie einen Schlag bekam?“, fragte Heathcote.

„Nein, Sir. Ich kann nicht sagen, dass ich diesen Einruck hatte. Aber das alles ging ohnehin so schnell, dass ich keine klare Vorstellung habe. Mein erster Gedanke war, wie ich sie retten könnte. Ich war gerade nach draußen auf das Trittbrett meines Waggons getreten, da stieß sie einen Schrei aus und fiel. Sie war am anderen Ende des Zuges. Bevor ich zu dem Wagen gelangen konnte, aus dem sie gefallen war, hatte die Lokomotive bereits gehalten, und die Fahrgäste stiegen aus.“

„Haben Sie herausgefunden, aus welchem Wagen sie gefallen ist?“, frage Heathcote.

„Ja, Sir. Es gab einen leeren Zweiter-Klasse-Wagen, der zweite nach der Lokomotive. Ich glaube, das war das Abteil. Dort waren ein kleiner Korb mit Erfrischungen und eine Zeitung, die nach meiner Vermutung der Verstorbenen gehörten.“

Der Korb stand auf dem Tisch. Er sah fremdartig aus; ein schlichter kleiner Korb mit einigen Kirschen in einem Kohlblatt und einer kleine Tüte mit Keksen. Bei der Zeitung handelte es sich um den französischen Figaro. Der Coroner übergab den Korb der Jury, die den Inhalt neugierig untersuchte. Es gab kein Stückchen beschriebenes Papier, keine alte Postkarte, keinen Brief; nichts, womit man das tote Mädchen identifizieren konnte oder was darauf hindeutete, aus welchem Ort sie stammte.

„Ihre Kleidung und der Inhalt ihrer Taschen wurden untersucht“, sagte Mr. Heathcote auf eine Frage von einem Mitglied der Jury. „Man hat aber kein Kennzeichen und keinen Anhaltspunkt gefunden. Ebenso hat man kein Gepäck entdeckt, das ihr gehören würde; das ist seltsam, denn es kommt nicht oft vor, dass jemand ohne Gepäck von London nach Cornwall reist. Ich habe bereits Kontakt mit der Londoner Polizei aufgenommen. Außerdem habe ich Anzeigen in der Times und in einer Pariser Zeitung aufgegeben. Vielleicht können wir auf diese Weise die Identität des Mädchens feststellen. In der Zwischenzeit lautet die Frage: Wie ist sie zu Tode gekommen?“

Der nächste Zeuge war ein Gepäckträger aus dem Bahnhof von Plymouth. Ihm war das Mädchen aufgefallen, während der Zug dort stand. Er hatte sie allein auf dem Bahnsteig gesehen und war sicher, dass sie mit niemandem gesprochen hatte. Sie war zwei- oder dreimal allein den Bahnsteig auf und ab gegangen, und er hatte den Eindruck gehabt, sie sei verwirrt oder ängstlich, als hätte sie jemanden erwartet, der nicht gekommen sei. Er hatte so viel damit zu tun gehabt, sich um das Gepäck anderer Leute zu kümmern, dass er sie nicht genauer beobachten konnte, aber sie war ihm aufgefallen, weil sie wie eine Ausländerin aussah. Er hatte gesehen, wie sie ein Zweiter-Klasse-Abteil nahe bei der Lokomotive belegte, als der Zug gerade anfuhr. Sie stieg eilig ein, und ihm schien, als habe jemand in dem Abteil ihr die Tür geöffnet und beim Einsteigen geholfen. Sicher konnte er das aber nicht sagen, dazu war er zu diesem Zeitpunkt zu weit entfernt. Er hatte die Verstorbene gesehen und in ihr die junge Person wiedererkannt, die ihm in Plymouth aufgefallen war.

Der nächste Zeuge war Dr. Menheniot. Er gab fachliche Auskünfte über die Todesursache; aber was die Umstände vor ihrem Sturz anging, konnte er nicht mehr sagen als der Schaffner. Doch, ein wenig mehr schon, denn er hatte gesehen, wie die Wagentür sich öffnete und das Mädchen auf das Trittbrett trat. Auf die Frage des Coroners antwortete er, doch, es sei ihm so vorgekommen, als hätte sie jemand hinausgestoßen, aber das könne er nicht beschwören. Die Tür hatte sich ganz plötzlich geöffnet, und er hatte gesehen, wie sie auf dem Trittbrett stand und sich an die offene Tür klammerte. Hätte sie Selbstmord begehen wollen, so schien es ihm, wäre sie sofort von dem Wagen über die Böschung gesprungen. Die Tatsache, dass sie auf dem Trittbrett stand und sich am Wagen festklammerte, ließ nach seiner Ansicht auf Widerstand schließen.

„Es könnte auch nur bedeuten, dass sie gezögert hat“, sagte Heathcote. „Was glauben Sie, wie lange blieb sie auf dem Trittbrett stehen?“

„Kaum eine Minute – vielleicht nicht mehr als dreißig Sekunden. Ich hörte das Signal des Schaffners, dass der Zug anhalten sollte, und dann hörte ich ihren Schrei, als sie abstürzte. Es geschah fast im gleichen Augenblick. Als ich sie zuerst sah, war die Lokomotive gerade auf der Brücke. Das vermittelt Ihnen den besten Eindruck von dem Zeitraum.“

„Nicht mehr als dreißig Sekunden“, sagte der Coroner, der jeden Yard der Bahnlinie kannte. „Gibt es hier sonst noch jemanden, der uns etwas über den Tod dieses armen Mädchens sagen kann?“

Es gab niemanden. Und das, obwohl sich zwanzig Personen im Raum befanden, die gestern Abend in dem Zug gesessen hatten, die in die Schlucht hinabgestiegen waren, um die zerschmetterte Gestalt zwischen Farn und Fingerhut liegen zu sehen, um neugierig das kleine weiße Gesicht und die im Tod für immer verstummten Lippen zu betrachten. Niemand sonst konnte noch mehr sagen, niemand kannte auch nur so viele Einzelheiten über die Katastrophe wie der Schaffner und Dr. Menheniot, die beide den Sturz beobachtet hatten. Ansonsten hatte anscheinend niemand auf der betreffenden Seite des Zuges aus dem Fenster gesehen.

„Wir werden die amtliche Untersuchung um zwei Wochen verschieben“, sagte Mr. Heathcote nachdrücklich, nachdem er sich flüsternd mit der Jury beraten hatte. „Die Angelegenheit ist zu rätselhaft, als dass man sie ohne sehr eingehende Ermittlungen abtun könnte. Zwei Wochen sind eine Menge Zeit, in der Bekannte der Verstorbenen sich melden können. Ich habe mit Blick auf ihre Identifizerung angeordnet, dass Fotografien angefertigt werden. Die Bestattung kann natürlich nicht über den üblichen Zeitraum hinaus verschoben werden.“

Unter den Zuschauern gab es makabre Charaktere, die den Fotografen um seine grausige Aufgabe beneideten. Die amtliche Untersuchung war eine Enttäuschung. Man hatte mit Offenbarungen gerechnet, und die waren nicht gekommen. Aber Mr. Heathcote hatte den Fall ja auch für zutiefst rätselhaft erklärt: Es lag etwas Tröstendes in dem Gedanken, er könne mehr wissen, als er noch für einige Zeit zu enthüllen bereit war.

Julian Wyllard war von Penmorval in seinem eigenen Einspänner mit einem der schönsten Pferde im ganzen Distrikt gekommen. Bothwell Grahame, der gut zu Fuß war und vollkommen eigenständige Gewohnheiten hatte, war in gerader Linie über Hügel, Maisfelder und Wiesen gegangen. Der Herr des eleganten Pferdewagens und der hohen grauen Mauern von Penmorval war schon außer Sichtweite, bevor Bothwell die Zufahrt vor dem Vital Spark verließ. Er trieb sich dort eine Zeitlang herum und sprach mit einigen Bekannten aus Bodmin über die Untersuchung. Der junge Schotte war bis zu den Augenbrauen vom wahren kaledonischen Stolz seines Geschlechts durchtränkt, aber er hatte nichts von dem kleinlichen Stolz, der einen Mann höhnisch gegenüber jenem Teil der Menschenfamilie macht, der sein Brot mit niederen Berufen verdient. Er war zum Eisenbahngepäckträger oder dem Dorfkaufmann ebenso freundlich wie zum stolzesten Grundbesitzer der Grafschaft; er hatte nicht zweierlei Manieren für Hoch und Niedrig, und keine zweierlei Sprechweisen für Edle und Gemeine mit einem anderen Tonfall für die niedrigere Klasse. Bothwell hatte nie verstanden, warum manche Männer, mit denen er sich unterhielt, mit einem Kaufmann oder einem Diener so sprachen wie mit einem Hund oder eigentlich sogar noch viel weniger höflich als Bothwell mit seinen Hunden sprach. In den meisten Dingen war er ein standhafter Konservativer; aber in dieser einen Frage des Respekts gegenüber seinen Mitmenschen war er durch und durch ein Radikaler.

Jetzt lungerte er vor der Tür des Gasthofes herum und unterhielt sich mit den Bahnbeamten, die sich zu der amtlichen Untersuchung eingestellt hatten und Mr. Grahame als häufigen Reisenden zwischen Bodmin Road und Plymouth kannten.

„Eines ist bisher nicht zur Sprache gekommen“, sagte der Stationsvorsteher, „und das ist die Fahrkarte des Mädchens. Es war eine Fahrkarte nach Plymouth; und doch war das arme Ding hier und wollte nach Penzance. Warum ist sie weiter als bis zu ihrem ersten Ziel gereist, hm, Mr. Grahame? Warum ist sie auf dem Bahnsteig in Plymouth auf und ab gegangen, als rechnete sie damit, dort jemanden zu treffen? Warum ist sie im letzten Augenblick in den Zug gestiegen, gerade als er aus dem Bahnhof fahren sollte? Ist es nicht wahrscheinlich, dass die Person, derentwegen sie die Fahrkarte gelöst hatte, dieselbe war, die ihr auch beim Einsteigen geholfen hat und mit ihr weggefahren ist? Vielleicht ein Mann, der seine lästige ausländische Ehefrau loswerden wollte? Er sagt ihr, er wolle sich in Plymouth mit ihr treffen, und er ist auch dort, aber nicht auf dem Bahnsteig, wo sie mit ihm rechnet. Er versteckt sich in einem Eisenbahnwaggon und winkt sie heran, als der Zug gerade abfährt, so dass man ihn im Durcheinander und der Eile der Abfahrt am wenigsten beobachten wird.“

„Sie reimen sich da eine sehr schöne Geschichte zusammen, Mr. Chafy“, sagte Bothwell mehr oder weniger gleichgültig, als würde ihn das Rätsel, das die Gemüter in Bodmin so in Wallung brachte, nicht sonderlich interessieren. „Sie hätten Detektiv werden sollen. Aber wenn das arme Mädchen ermordet wurde und wenn der Mörder im Zug war: Wie kommt es dann, dass ein so scharfsinniger Mann wie Sie ihn nicht zu fassen bekommen hat, als Sie die Bestandsaufnahme der Fahrgäste gemacht haben? Mr. Wyllard hatte Ihnen den Auftrag gegeben, das weiß ich noch.“

„Mörder tragen kein Kainsmal, Mr. Grahame“, sagte Edward Heathcote, der gerade aus der Tür des Gasthofes getreten war und Bothwells Worte gehört hatte. „In unserem zivilisierten Zeitalter sind die Mörder selbstherrliche Gentlemen von hinterlistiger Art, und sie tragen ebenso wenig einen Makel an sich wie Sie oder ich.“

 

„Ich glaube, der Tod des Mädchens war ein Unfall“, sagte Bothwell mit einem Hauch von Ungeduld, „eines dieser tiefen Geheimnisse, die so einfach sind wie das ABC. Vielleicht hat sie an der Tür gestanden und die Landschaft bewundert, und dann hat die Tür sich geöffnet, als sie sich dagegen gelehnt hat. Möglicherweise hat sie sich so weit gefangen, dass sie noch ein paar Sekunden auf dem Trittbrett stand, aber dann stürzte sie ab und kam ums Leben.“

„Keine sehr plausible Erklärung, mein lieber Grahame. Sie glauben, sie habe sich gegen die Tür gelehnt und die Landschaft betrachtet, und plötzlich öffnete sich die Tür und sie fiel hinaus? Wie kommt es dann, dass sie mit dem Gesicht zum Wagen auf dem Trittbrett stand, als Menheniot und der Schaffner sie gesehen haben? Hat sie sich auf dem Trittbrett herumgedreht wie auf einer Achse, was glauben Sie? Eine ziemlich schwierige Leistung, selbst für einen Akrobaten.“

„Sie brauchen gar nicht so verteufelt schlau zu tun“, gab Bothwell zurück, der diesen Nachmittag anscheinend vollkommen aus dem Häuschen war. „Herauszufinden, wie die junge Frau zu Tode kam, ist nicht meine Aufgabe.“

„Nein“, sagte der Coroner, „aber meine; und ich habe vor, sie zu erfüllen.“

„Es wäre nicht der erste eigenartige Fall, dem Sie auf den Grund gegangen sind, Mr. Heathcote“, sagte der Stationsvorsteher in einem Ton des Respekts, der fast an Ehrerbietung grenzte. „Sie erinnern sich doch sicher noch an den armen alten Onkel Taylor, der drüben bei Truro tot am Boden des Merrytree-Schachtes gefunden wurde? Sie haben dem Schurken, der ihn umgebracht hat, einen Strick um den Hals gelegt, ja, wirklich. Die wenigsten Männer sind so schlau, dass sie vor Ihnen etwas verbergen könnten.“

„Gute Nacht, Squire. Gute Nacht, Chafy“, sagte Bothwell und entfernte sich.

Heathcote folgte ihm.

„Wenn Sie nach Hause gehen, werde ich Sie ein Stück des Weges begleiten“, sagte er.

„Sind Sie zu Fuß hier?“, fragte Bothwell überrascht. „Was ist aus Timour geworden?“

„Timour steht ohne Hufeisen im Stall und wird für die Fuchsjagd vorbereitet.“

„Und Ihre anderen Pferde?“

„Ach, ich habe viele Pferde zum Reiten, wenn Sie das meinen. Aber bei diesem Wetter gehe ich lieber zu Fuß. Wie kommt es, dass Sie nicht im Einspänner Ihres Cousins nach Hause fahren?“

„Ich sitze nicht gern neben einem anderen Mann und lasse mich fahren“, sagte Bothwell knapp. „Außerdem gibt es Zeiten, da ist man lieber allein.“

Wenn das ein Wink mit dem Zaunpfahl sein sollte, verstand Mr. Heathcote ihn nicht. Er brachte sein Zigarren­etui zum Vorschein und bot Bothwell eine von seinen Patagas an. Heathcote war begeisterter Raucher und bekannt dafür, dass er guten Tabak bevorzugte; also nahm Bothwell die Zigarre und zündete sie an, aber die mürrische Ausstrahlung, die er angenommen hatte, als Mr. Heathcote sich als Gesellschaft anbot, heiterte sich nicht auf.

„Sie sehen heute Nachmittag nicht besonders gut aus, Grahame“, sagte Heathcote, nachdem sie ein kleines Stück gegangen waren und schweigend ihre Zigarren geraucht hatten.

„Ach, mit mir ist nichts“, antwortete der junge Mann beiläufig. „Ich war gestern lange auf und habe schlecht geschlafen, das ist alles.“

„Sie haben sich wegen der Angelegenheit von gestern Sorgen gemacht“, vermutete der Coroner.

„Das tote Gesicht des Mädchens hat mich verfolgt. Aber ich hatte auch ohne das meine eigenen Probleme.“

„In Indien haben Sie doch sicher viele tote Gesichter gesehen.“

„Ja, viele – schwarze und weiße –, aber es gibt manche Dinge, gegen die kann ein Mann sich nicht abhärten, und der plötzliche Tod ist eines davon.“

Er verfiel wieder in Schweigen und ging eine Zeit lang neben Heathcote her, ohne ein Wort zu sagen. Der Anwalt betrachtete den Soldaten, studierte ihn, als wäre er eine schwierige Seite in einem Buch. Edward Heathcote hatte einen beträchtlichen Teil seines Lebens damit zugebracht, solche lebenden Bücher zu studieren. Seine Kanzlei in Plymouth war von ganz besonderer Art gewesen. Man hatte ihm in delikaten Angelegenheiten vertraut; er hatte die Ehre adliger Familien bewahrt, war zwischen Vater und Sohn, Ehemann und Ehefrau getreten. Er war nicht nur Rechtsberater gewesen, sondern auch Führungs­gestalt, Philosoph und Freund. Sein Ruf von Feinfühligkeit und moralischem Charakter, seine edle Geburt und seine umfangreichen Finanzmittel hatten ihn zum auserwählten Träger so manchen Familiengeheimnisses gemacht, das man nur den wenigsten Anwälten anvertraut hätte. Sein Name war in Plymouth das Synonym für Ehre, und auch wenn er ein gewitzter Anwalt war, neigten seine Ratschläge stets in Richtung ritterlicher Gefühle und nicht zu strenger Gerechtigkeit.

Ein solcher Mann hatte sicher reichlich Gelegenheit gehabt, die Natur der Menschen auch unter den eigenartigsten Gesichtspunkten zu studieren. Deshalb kam jetzt ein gut geschulter Geist gegenüber Bothwell Grahame zum Einsatz, während er schweigend an den blühenden Hecken des entlangging, die den Weg säumten, seine Zigarre schmauchte und geradewegs vor sich ins Leere starrte.

Mr. Heathcote hatte in dem Jahr, seit er in Penmorval lebte, viel von Captain Grahame gesehen; aber einen solchen Blick der Besorgnis wie heute hatte er im Gesicht des Soldaten noch nie bemerkt. In der Brust des Mannes nagten Sorgen – und zwar keine von leichter oder banaler Art. Dessen war sich Edward Heathcote sicher; und er spürte sein eigenes Herz auf seltsame Weise sinken, als er Vermutungen über den geheimen Kummer anstellte, den Bothwell so gut wie möglich hinter seiner ein wenig mürrischen Gleichgültigkeit zu verbergen versuchte.

Als Coroner wie auch als Anwalt war Mr. Heathcote schon vor mehr als einer Stunde zu dem Schluss gelangt, dass das Mädchen, das jetzt im Vital Spark lag, ermordet worden war. Eine Person, die sie beseitigen wollte, hatte sie aus dem Eisenbahnwaggon gestoßen, hinuntergeworfen über die Brüstung in den entsetzlichen Abgrund. Ihren Mörder musste man in dem Zug suchen. Er war unter den scheinbar arglosen Reisenden gewesen, die alle Unkenntnis über die Identität des Mädchens vorschützten. Eine der dreiundzwanzig Personen, die der Stationsvorsteher Chafy in Bodmin Station gezählt und auf die Liste geschrieben hatte, musste zwangsläufig der Mörder sein. Dieser eine, wer er auch war, hatte sich so gut benommen, dass er die Prüfung durch den Stationsvorsteher vereitelt hatte. Er hatte keine Spur von Reue, Unruhe oder Angst gezeigt, sondern in jeder Hinsicht wie ein Unschuldiger gewirkt.

Aber wie stand die Sache, wenn der Verbrecher jemand war, den der Stationsvorsteher kannte und respektierte – ein Mann von Stand und Würde aus der Nachbarschaft, dessen Name als solcher schon den Verdacht zerstreute?

Ein solcher Mann wäre unbeobachtet aus dem Bahnhof gegangen; und wenn man an seinem Betragen irgendwelche Anzeichen der Erregung gesehen hätte, so hätte man sie auf freundliche Gefühle zurückgeführt, auf das natürliche Mitleid einer wohlwollenden Seele. Hätte irgendein hart gesottener Sohn der Arbeit, ein Fremder im Lande, ein Erntehelfer, Bergarbeiter oder Seefahrer irgendwelche Anzeichen von Fassungslosigkeit erkennen lassen, der Verdacht wäre sofort auf ihn gefallen. Aber wer würde den Soldaten verdächtigen, Mr. Wyllards Cousin, den großzügigen Müßiggänger, der zum Liebling aller geworden war?

Eine solche Annahme wäre wilde Spekulation gewesen, denn Bothwells Haltung und Benehmen waren so mit geheimem Kummer aufgeladen, dass es wohl kaum sein Arm gewesen sein konnte, der das arme Mädchen in den vorzeitigen Tod gestoßen hatte. Und doch ertappte sich der Coroner dabei, wie er in ungestümen Fantasien schwelgte, so schmerzlich es für ihn auch war, irgendwelche bösen Gedanken über Dora Wyllards Verwandten zu hegen.

Mehrere Überlegungen drängten sich ihm auf. Da waren zunächst Bothwells heutiges Benehmen, sein Eingeständnis einer unruhigen Nacht, sein offenkundiger Wunsch, allein zu sein, seine Unhöflichkeit, als sei er wegen schmerzlicher Gedanken nervös. Hinzu kam die Tatsache seiner gestrigen Reise nach Plymouth, einer Reise, die er unvermittelt unternommen hatte, ohne seinem Cousin eine Erklärung zu geben – scheinbar absichtslos, denn er hatte keinen Grund für seine Abwesenheit genannt, kein Geschäft, das er in der Stadt hätte erledigen wollen. Er war innerhalb weniger Stunden weggefahren und zurückgekehrt, und seine Reise war sowohl für seine Cousine als auch für deren Mann eine Überraschung gewesen. Und drittens war da noch sein unbeholfener Versuch, den Tod des Mädchens gerade jetzt und hier vor der Tür des Gasthofes zu erklären, ohne die Möglichkeit einer Unstimmigkeit einzuräumen. Wer sich entschuldigt, klagt sich an, sagt das Sprichwort. Bothwell hatte sich bemüht, die Katastrophe an der Bahnlinie zu erklären, und damit hatte er den Verdacht des Coroners geweckt.

Immerhin waren alle diese Glieder der Indizienkette von schwächster Natur; aber Edward Heathcote hatte es sich in den Kopf gesetzt, das Geheimnis der namenlosen Toten aufzuklären, und er war entschlossen, auch nicht den dünnsten Faden in dem dunklen Netz zu übersehen.

„Wyllard scheint sich vom Schrecken des gestrigen Abends erholt zu haben“, sagte er umgehend. „Ich habe nie gesehen, dass er besser aussah als heute Nachmittag.“

„Wyllard ist ein Mann aus Eisen“, erwiderte Bothwell leichthin. „Ich glaube manchmal, es gibt in seinem Herzen nur eine einzige weiche Stelle, und das ist die Liebe zu meiner Cousine. In dieser Hinsicht ist er eindeutig menschlich. Ich habe nie einen hingebungsvolleren Ehemann gesehen. Und ich habe nie ein glücklicheres Paar gekannt.“

Bothwell seufzte, als würde die Erwähnung des Glücks anderer den Gedanken an sein eigenes Elend wachrufen. So jedenfalls deutete Edward Heathcote das Seufzen.

Vollständig in seine eigenen Sorgen vertieft, hatte Both­well für den Augenblick vergessen, dass er mit dem Mann redete, den seine Cousine zurückgewiesen hatte, um Julian Wyllard zu heiraten. Brautwerbung und Eheschließung hatten stattgefunden, während Bothwell im fernen Osten war. Es war für ihn nie mehr gewesen als eine Erzählung; und die Erzählung war ihm jetzt, als er vom Eheglück seiner Cousine sprach, nicht gegenwärtig.

„Ich bin froh, dass es so ist, sehr froh“, sagte Heathcote ernst.

Er sprach vollkommen aufrichtig. Seine Liebe war so selbstlos gewesen, dass das Wohlergehen seiner Abgöttin für ihn von größerer Wichtigkeit war als die eigene Glückseligkeit. Er hatte ihr ohne Kampf abgeschworen, weil ihr Glück das Opfer verlangte. Und sie war glücklich. Das war alles, was zählte. Er hatte den Preis bezahlt und den Lohn eingestrichen. Er hatte sie von ganzem Herzen und mit aller Kraft geliebt; er hatte nie aufgehört, sie zu lieben. Sein Eheleben, das der Außenwelt ein Leben des häuslichen Glücks zu sein schien, war von seiner Seite nur ein Leben der Resignation gewesen. Er hatte ein Mädchen ohne Freunde geheiratet, das ihn liebte – das ihm das Geheimnis der Liebe überraschend und in der ganzen Unschuld des unerfahrenen Mädchenseins anvertraut hatte. Er hatte ein hilfloses Mädchen in sein Herz und sein Heim aufgenommen, weil es auf dieser Erde für sie anscheinend kein anderes Obdach gab; und er hatte sich alle Mühe gegeben, sie glücklich zu machen. Das war ihm gelungen, und so erfuhr sie nie, dass seine wohlüberlegte Freundlichkeit, die sie wie mit einer balsamischen Luft einhüllte, dieses grenzenlose Wohlwollen, das auf sie herableuchtete wie die Sonne, keine Liebe war. Sie war eine der glücklichsten Frauen und eine der stolzesten Gattinnen in den Ländern des Westens gewesen; und als sie starb, segnete sie ihn, der ihr Leben zu einem Segen gemacht hatte.

Und jetzt waren Klatsch und Tratsch voll des Mitleids für den Verlust und die Einsamkeit des Witwers – eines armen Hinterbliebenen, der in einem einsamen alten Herrenhaus lebte, mit einer jüngeren Schwester, den Zwillingstöchtern, die erst vier Jahre alt waren, und einer alten Hausdame, die sich um die Schwester, die Kinder, das Haus und die Dienstboten kümmerte und in ihrer eigenen Person den Geist von Sparsamkeit, Sauberkeit, Besonnenheit, Klugheit und anderen häuslichen Tugenden verkörperte. Alle Menschen in der Nachbarschaft von Bodmin und auch seine alten Freunde in Plymouth dachten und sprachen von Mr. Heathcote, als würde er von der Last seines Verlustes zu Boden gedrückt, und alle hofften, dass er bald wieder heiraten würde.

The Spaniards lag in einem Tal zwischen dem Bahnhof Bodmin Road und Penmorval. Es war Bothwells Weg zum Haus seiner Cousine, und so hatte er keine Ausrede, um sich von dem Coroner zu trennen, wenn er dazu geneigt gewesen wäre. Das alte schmiedeeiserne Tor zwischen den grauen Granitpfeilern, die jeweils vom Wappen der Heath­cotes gekrönt waren, stand weit offen, und das von Rosen und Myrthen bewachsene Pförtnerhaus strahlte an dem Sommerabend eine Schläfrigkeit aus, als stünde es am Eingang zu Dornröschens verzaubertem Reich. Selbst die alten Bäume, die großen Edelkastanien mit ihrem üppigen Blattwerk sahen aus, als wären sie in einem Jahrhundert der Muße über alle Vernunft hinausgewachsen. Kein großspuriger Sohn hatte am Geburtsort der Heathcotes die Axt des Verschwenders an die schönen alten Bäume gelegt. Nur die weite Fläche einer Pferdekoppel und ein Rasen lagen zwischen dem großen alten Tor und dem Haus, und dieses war zwar von beträchtlicher Geräumigkeit, erhob aber kaum Anspruch auf die Würde eines Herrenhauses. Das Gebäude war lang, niedrig und weitläufig – ein Haus mit vielen kleinen Zimmern, seltsam gewundenen Korridoren, unzähligen Türen und Fenstern und niedrigen, schwer vertäfelten Decken. Ein Haus, in dem fremde Besucher und ihre Bediensteten dazu neigten, Geister zu sehen und unirdische Stimmen von düsterem Ton zu hören – wobei die Familie allerdings in aller Stille von Generation zu Generation fortgedauert hatte, ohne dass es irgendwelche Eingriffe aus der Welt des Spirituellen gegeben hätte. Menschen, die aus den nagelneuen Häusern in Earl’s Court oder Turnham kamen, wandten ein, es müsse in The Spaniards unbedingt spuken, und erschauderten jedes Mal, wenn die Mäuse hinter den Wandpaneelen herumhuschten oder wenn der Wind in den Zweigen der blattreichen Bäume säuselte, die Rasen und Koppel säumten.

 

Bothwell glaubte, Mr. Heathcote werde sich am Tor von The Spaniards von ihm trennen.

„Gute Nacht“, sagte er ein wenig kurz angebunden.

„Ich komme noch mit Ihnen nach Penmorval und höre mir an, welchen Eindruck die Untersuchung auf Wyllard gemacht hat“, sagte der andere. „Es ist noch nicht einmal halb acht. Ihr Cousin wird sicher vor dem Abendessen einige Minuten Zeit für mich haben.“

Bothwell ging weiter, ohne ein Wort zu sagen. Nach zehn Minuten waren sie am Tor von Penmorval, dem bei weitem herrschaftlicheren Anwesen, dessen Geschichte so reich an aristokratischen Traditionen war. Aber das alte Geschlecht, für das man Penmorval erbaut hatte, für dessen Söhne und Töchter es an Pracht und Würde gewachsen war, während die Jahrhunderte dahinrollten – von ihm war nichts mehr da außer dem Widerhall verblichenen Ruhmes. Die alten Bewohner waren gegangen wie ein Märchen, das zu Ende erzählt ist; und an ihrer Stelle residierte hier der neureiche Finanzmagnat, der Mann, der mit seinem eigenen Geist und seinem eigenen Fleiß reich geworden war – und damit natürlich sehr viel tiefer stand.

Penmorval schien nicht ganz so verschlafen zu sein wie Heathcote Grange alias The Spaniards. In der sanften Stille des Sommerabends hörten Bothwell und sein Begleiter Stimmen – Frauenstimmen, die für beider Ohren vertraut und angenehm klangen.

Mrs. Wyllard schlenderte über die Allee, an ihrer Seite eine junge Dame, oder eigentlich ein Mädchen im weißen Mantel und mit einem großen Florentiner Hut; groß, schlank, mit anmutiger Gestalt und hübschem Gesicht – ein Mädchen, das bei Heathcotes Anblick einen Schrei der freudigen Überraschung ausstieß.

„Ich bin schnell nach Hause gekommen, Edward“, sagte sie, „denn ich wollte euch nicht mit dem Abendessen warten lassen.“

„Wirklich, Hilda! Dann kann ich nur sagen: Was du unter Eile verstehst, verstehe ich unter Trödeln“, erwiderte ihr Bruder und lächelte dabei das Mädchengesicht an, während er Mrs. Wyllard die Hand gab.

„Was hält Mr. Wyllard von der amtlichen Untersuchung?“, fragte er. „Ich nehme an, Sie haben mit ihm gesprochen?“

„Nur ganz kurz, als er hier vorbei zum Haus fuhr, während Hilda und ich auf der Allee spazieren gegangen sind. Aber Bothwell, du siehst erschöpft und krank aus“, rief Dora ihrem Cousin zu.

„Mir ist nur langweilig“, antwortete Bothwell, was für den Begleiter auf seinem langen Fußweg kein Kompliment war.

„Aber du siehst eindeutig erschöpft aus, armer Kerl“, beharrte Dora mitleidig. „Warum bist du nicht mit dem Einspänner zurückgefahren? Darin wäre für dich noch Platz gewesen.“

„Ich wollte allein sein.“

„Und ich wollte Gesellschaft“, sagte Heathcote lachend, „also habe ich einem widerwilligen Begleiter meine Anwesenheit aufgedrängt. Sehr schlechte Manieren, zweifellos.“

„Ich fürchte, Sie haben aus dem Handel das Schlechteste gemacht“ murmelte Bothwell mit mürrischem Blick, woraufhin Hildas blaue Augen sich vor Staunen weiteten.

„Wissen Sie, Mr. Heathcote, ein untätiges Leben passt nicht zu meinem Cousin“, sagte Dora. „Ich wusste nie, dass er Penmorvals oder der Ländereien darum herum überdrüssig wäre; aber während der letzten drei oder vier Wochen hat Bothwell sich benommen, als würde er den Ort hassen. Zwanzig Meilen um uns herum konnte er weder Ruhe noch Vergnügen finden. Ständig läuft er davon – nach Plymouth oder London.“

„Es wäre mir lieber, die Frauen würden ihre Wörterbücher lesen, statt die Köpfe in die Romane anderer Frauen zu stecken“, rief Bothwell streitlustig aus, „denn dann hätten sie vielleicht eine Ahnung davon, was Wörter bedeuten. Wenn du sagst, ich würde ständig nach London davonlaufen, Dora, dann meinst du vermutlich, dass ich innerhalb der letzten fünf Wochen zweimal dort war – übrigens in dringenden Geschäften.“

„Und in Plymouth warst du mindestens ein Dutzend mal“, wandte Dora ein. „Ich kann nur sagen, dass du für mich der Inbegriff ständiger Bewegung bist.“

„Ich weiß, dass Sie kaum einmal zu Hause sind, Mr. Grahame“, sagte Hilda und unterstützte damit ihren Freund.

Während sie sprachen, schlenderten sie zum Haus. Auf halbem Weg in der Allee trafen sie auf den Hausherrn von Penvorval. Er war korrekt in einen schlichten Abendanzug gekleidet und trug einen leichten Mantel locker über dem makellosen Schwarz. „Wie geht es Ihnen, Heathcote? Dora, weißt du, dass es zehn Minuten vor acht ist? Sie bleiben natürlich und essen mit uns“, fügte Wyllard leutselig hinzu. „Gestern Abend haben Sie abgelehnt; aber jetzt ist Hilda hier, und Sie haben keine Ausrede, nach Hause zu gehen.“

„Ich bin nur zum Nachmittagstee gekommen“, sagte Hilda.

„Und dann hast du von fünf Uhr bis jetzt mit meiner Frau geplaudert. Es ist das tiefste Geheimnis des gesellschaftlichen Lebens: Worüber können zwei Frauen in ländlicher Abgeschiedenheit wie hier drei geschlagene Stunden lang reden?“

„Ein Geheimnis für einen Mann, der sich nicht vorstellen kann, dass Frauen denken oder lesen“, gab Dora zurück, wobei sie den Arm ihres Mannes nahm. „Ihr Männer habt die fixe Idee, dass eure Frauen und Schwestern nur zwei Gesprächsthemen haben: Kleider und Dienstboten. Natürlich bleiben Sie zum Essen, Mr. Heathcote. Ich werde mich zum Abendessen nicht umkleiden, also bitte sehen Sie Ihren Gehrock nicht als unüberwindliches Hindernis an. Sie und Hilda werden bleiben, ob es Ihnen gefällt oder nicht.“

„Du weißt, dass wir immer gern hier sind“, sagte Hilda mit ihrer leisen, sanften Stimme.

Sie warf verstohlen einen schüchternen kurzen Blick auf Bothwell, als würde sie sich fragen, was er von der Angelegenheit hielt; aber Bothwells Betragen war undurchschaubar.

Hilda war von seinem Benehmen schmerzlich berührt, aber nicht überrascht. Er hatte sich ihr gegenüber in den letzten Monaten so seltsam verändert – noch vor einem halben Jahr war er freundlich und aufmerksam gewesen. Verärgert war sie nicht – sie war nicht so eitel, dass sie sich gewundert hätte, wenn ein Mann sich erst ein wenig um sie kümmerte und es dann auf einmal sein ließ, um in vollkommene Gleichgültigkeit zurückzufallen. Sie nahm an, solcher Wankelmut sei ein allgemeines Merkmal des überlegenen Geschlechts.

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