Wyllards wundersame Wege

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„Es wäre notwendig, dass es Ihnen Leid tut. Wissen Sie, Bothwell ist wie ein Bruder für sie. Es würde ihr das Herz brechen“, sagte Wyllard in höchster Aufregung.

Er war vom Tisch aufgestanden und ging langsam im Zimmer auf und ab, hin und her zwischen den Fenstern, die sich weit in den grauen Abendhimmel öffneten, und dem warmen Lampenlicht im Inneren. Joseph Distin konnte sein Gesicht nicht sehen, aber er wusste, dass es tief bewegt war.

„Mein lieber Freund, hoffen wir, dass Mrs. Wyllard nie etwas von meinem Verdacht erfährt“, sagte Distin besänftigend. „Ich habe – jedenfalls bisher – nicht die Spur eines Indizes gegen Mr. Grahame, außer den Indizien von Blicken und Betragen, und der einen Tatsache, dass er sich geweigert hat zu sagen, was er an dem Tag, als das Mädchen starb, in Plymouth zu tun hatte. An alledem ist nichts, was einen Mann an den Galgen bringen könnte. Ich mag im Zusammenhang mit dem Rätsel meine eigenen Ideen haben, und Mr. Heathcote hat vielleicht mehr oder weniger die gleiche Vermutung, aber bisher gibt es nichts, was den Vetter Ihrer Frau belastet. Ich werde wieder nach London fahren und mir Mühe geben, die ganze Angelegenheit zu vergessen. Sie brauchen nichts anderes zu tun als die Sache für sich zu behalten und darauf zu achten, dass Mrs. Wyllard nichts von dem erfährt, was in strengstem Vertrauen zwischen Ihnen und mir gesprochen wurde.“

„Ich würde es sie um nichts in der Welt wissen lassen. Es würde ihr das Herz brechen; sie könnte daran sterben. Frauen können einen solchen Schock nicht ertragen. Und zu glauben, ein Mann könne aus solchen Gründen – wegen eines launischen Betragens, wegen der Weigerung, eine Frage zu beantworten – verdächtigt werden, verdächtigt von Ihnen, einem Fachmann für Verbrechen und Verbrecher! Das Ganze scheint zu absurd zu sein, als dass man es glauben könnte.“

„Sagen Sie ruhig, dass die Sache absurd ist und dass Joe Distin sich ein einziges Mal in seinem Leben zum Narren gemacht hat. Fahren Sie mit Ihrer Frau nach Aachen – oder nach Biarritz…“

Bei dem letzten Wort fuhr Julian Wyllard hoch wie von der Tarantel gestochen.

„Was zum Teufel stimmt nicht mit Ihnen, oder mit Biarritz?“, fragte Distin in scharfem Ton.

„Nichts. Meine Gedanken sind abgeschweift, das ist alles. Sie haben gesagt…“

„Dass Sie besser alles vergessen, was heute Abend zwischen uns gesprochen worden ist. Vergessen Sie den Tod des Mädchens – machen Sie reinen Tisch. Nehmen Sie Ihre Frau mit in irgendeinen Badeort im Ausland, in den hellsten und fröhlichsten, den Sie finden können. Und lassen Sie Bothwell Grahame sein Los ertragen, so gut er kann. Die Katastrophe an der Bahnlinie ist in einer Woche vergessen.“

„Das bezweifle ich. Wir haben in Bodmin nicht viel, woran wir denken könnten, und wir blasen alle unsere Maulwurfshügel zu Bergen auf. Der Tod des Mädchens wird die nächsten sechs Monate das Stadtgespräch sein.“

„Und doch fristen Menschen an solchen Orten ihr Dasein und glauben, sie wären am Leben!“, rief Distin aus.

Am nächsten Morgen nach dem Frühstück reiste er aus Penmorval ab, ohne Bothwell noch einmal gesehen zu haben. Dieser war zwischen den Hügeln unterwegs, um ein neues Pferd einzureiten, während die Familie beim Frühstück saß. Wie der Butler Mrs. Wyllard berichtete, war er schon seit fünf Uhr morgens draußen.

„Reitet er Glencoe?“, fragte sie mit beunruhigtem Blick.

„Jawohl, Ma’am.“

„Das ist ein entsetzliches Pferd, Julian, das weiß ich“, sagte sie. „Manby hat mir erst gestern von ihm erzählt. Vorgestern wäre er um ein Haar abgeworfen worden; er hat gesagt, Glencoe sei wirklich ein gefährliches Pferd, und wir sollten es loswerden.“

„Damit ein anderer sich damit die Knochen bricht“, warf Mr. Distin ein. „Das rät dir jeder gute Kutscher.“

„Und jetzt ist Bothwell mit ihm ausgeritten, und das ganz allein.“

„Selbst wenn er abgeworfen würde, bräuchtest du niemanden zu schicken, der ihn aufsammelt“, sagte Wyllard. „Meine liebe Dora, es besteht nicht der geringste Anlass zu Beunruhigung. Das Pferd ist jung und ein wenig fröhlich. Aber dein Cousin ist ein hervorragender Einreiter, da wird kein Schaden angerichtet.“

„Aber warum will er ausgerechnet dieses Pferd reiten?“, fragte Dora. „Manby hätte ihm sicher den Rat gegeben, es nicht zu tun.“

„Genau das ist der Grund, warum er es tun sollte“, erwiderte ihr Mann.

„Ich frage mich, ob er sich umbringen will, während ich hier in aller Ruhe mein Frühstück einnehme“, spekulierte Joseph Distin. „Er weiß sicher, dass ich ihn in Verdacht habe; vielleicht glaubt er, das Spiel sei aus.“

Welche Absichten Bothwell auch gehabt hatte, er kam gegen elf Uhr zurück nach Penmorval. Mit ihm kam der große Bay Hunter, schweißgebadet und zahm wie ein Lamm.

„Ein schönes, ehrliches Pferd! Es will nur geritten werden“, sagte er, als er den Zügel dem Pferdeknecht zuwarf, der bereits an der Stalltür auf ihn gewartet hatte und den Eindruck machte, als habe er mit gebrochenen Knochen gerechnet.

In der Diele traf Bothwell mit Dora zusammen. In ihrem Morgenmantel aus weißem Musselin sah sie kühl, ruhig und wunderschön aus. Sie hatte gerade einen Korb voller Blumen aus dem Gewächshaus geholt, um sie eigenhändig zu arrangieren.

„Ist der Anwalt aus London schon abgereist?“, fragte Both­well barsch.

„Ja, er ist weg – und ich hoffe, er kommt nie wieder“, sagte Dora. „Er ist wirklich ein wohlerzogener Mann und hat sich hier sehr liebenswürdig gegeben; aber es war, als würde er die Atmosphäre des Verbrechens mitbringen. Ich musste die ganze Zeit an die vielen entsetzlichen Fälle denken, mit denen er sicher zu tun hatte, und dass er mit den Verbrechen der Menschheit reich geworden ist. Es scheint, als ob er über den Tod des armen Mädchens nichts herausgefunden hat, obwohl er so schlau ist.“

„Was eigentlich für meine Ansicht spricht, dass das Mädchen durch einen Unfall aus dem Zug gefallen ist“, erwiderte Bothwell.

Kapitel 5

Die Leute werden reden

Das Jahr war einen Monat älter geworden, seit Joseph Distin nach London zurückgefahren war, verwirrt und verärgert über sich selbst, aber um seines Freundes willen froh, dass er keine weiteren Erkenntnisse gewonnen hatte. Die Heide auf den Hügeln wurde violett, und hier und da blitzte der Ginster in goldenen Flecken auf. Die Touristensaison hatte begonnen; aber der typische Tourist mied die kleine, im Landesinneren an die Hügel geschmiegte Ortschaft Bodmin und wandte sich dem Meer zu, den wilden Felsen an der romantischen Westküste, dem Lizard und dem Land’s End, dem zerklüfteten Tintagel und dem sandigen Bude.

In Penmorval hatte das Leben in den vier Wochen des milden Sommerwetters so ruhig seinen Fortgang genommen wie der Schlaf eines Säuglings. Besucher hatten nicht im Haus gewohnt, denn Julian Wyllard und seine Frau gaben sich gern einer lerneifrigen Muße hin und lebten während langer Zeiträume nahezu allein. Erst im Oktober, als die Fasanenjagd begann, füllte sich Penmorval allmählich wieder; in der Zwischenzeit fand Dora Wyllard es angenehm, dass sie mit ihrem Mann reiten und ausfahren konnte – sie war gern die Gefährtin auf seinen Spaziergängen, las die gleichen Bücher wie er und verbrachte lange Abende mit unerschöpflichen Gesprächen. Sie hatten sich stets so viel zu sagen. Die Zuneigung zwischen ihnen war vollkommen.

Hilda Heathcote war fast jeden Tag in Penmorval und zählte beinahe zur Familie. Sie kam zu Mrs. Wyllard, um sich zu allen möglichen Themen beraten und belehren zu lassen – manchmal wegen einer Lektion in Gartenbau, manchmal zum Unterricht im Stricken, in Französisch, Deutsch, Italienisch. Dora war ihrer jungen Freundin in allen diesen Dingen voraus; aber die Schülerin war klug und von so schneller Auffassungsgabe, dass es Dora Freude bereitete, sie zu unterrichten. Gemeinsam vollbrachten Mrs. Wyllard und Miss Heathcote wahre Wunder der Handarbeit – Klavierabdeckungen, schön wie Gemälde, Portieren, die es mit den besten Beispielen der Gobelinkunst aufnehmen konnten, Bettdecken, die es wert gewesen wären, in South Kensington ausgestellt zu werden. Die stille Muße des Landlebens bot sich für solche langsamen, kunstvollen Tätigkeiten an.

Mrs. Wyllard erhielt einmal im Monat von Rolandis Buchhandlung eine große Kiste mit ausländischen Büchern und gab Bände, die sich für den Gebrauch durch eine junge englische Lady eigneten, an Hilda weiter; dann trafen sie sich und sprachen über die Bücher – manchmal allein, manchmal mit Bothwell als Drittem. Bothwell spottete über die vielen sentimentalen Ergüsse, lachte über die übermäßig verfeinerten Heldinnen der französischen Romane, die träumerischen Helden der deutschen Liebesgeschichten; aber er las alle Bücher, die auch Hilda gelesen hatte, und anscheinend bereitete es ihm Freude, sich darüber während des lang hingezogenen Nachmittagstees, den er kaum einmal versäumte, zu unterhalten.

Das Wetter hatte in diesem August nicht seinesgleichen, und Mrs. Wyllards nachmittäglicher Teetisch wurde am Ende des italienischen Gartens in einem Gehölz aus beschnittenen Eiben gedeckt, an einer Stelle, die einen wunderschönen Blick auf das Moor und die großen braunen Hügel dahinter bot.

Bothwells düsterer Trübsinn war kurz nach Mr. Distins Abreise verschwunden. Für Hilda schien er wieder der Alte zu sein – heiter, fröhlich, freundlich und offenherzig. Allerdings übte er sich nicht in all den dezenten kleinen Aufmerksamkeiten, die ihn vor einem Jahr zu einem so angenehmen Menschen gemacht hatten. Diese besondere Phase seines Charakters war Vergangenheit.

Ein Monat war seit dem Abschluss der Untersuchung im Vital Spark vergangen, aber die Menschen von Bodmin hatten den seltsamen Tod des namenlosen Mädchens nicht vergessen und es nicht aufgegeben, darüber zu reden. Sie sprachen auch über Bothwell und seine Weigerung, auf eine einfache Frage eine einfache Antwort zu geben; und gegen Ende des Monats erwachte in Bothwell Grahame ganz plötzlich das Bewusstsein, dass eine Wolke über ihm hing. Er merkte, dass er von alten Bekannten geschnitten wurde, so weit sie es wagten, einen Mann von seinem Stand und seinem Temperament zu schneiden. Sie waren nicht unhöflich; sie wünschten ihm einen guten Tag, wenn er ihnen auf der Straße begegnete; sie ließen sich sogar herab, mit ihm über das Wetter oder die Erträge der Ernte zu sprechen. Dennoch spürte Bothwell, dass er unter einer Wolke lebte; man ging ihm stillschweigend aus dem Weg und hatte das Bestreben, mit einer so geringfügigen Begrüßung davonzukommen, wie die Höflichkeit es zuließ. Ihm wurden nicht mehr in Freundschaft die Hände hingestreckt; die Begrüßungen waren nicht mehr laut und fröhlich. Niemand bat ihn, zu bleiben und im Gasthaus Billard zu spielen, wie es sonst die Gepflogenheit der Menschen gewesen war, wenn sie ihn auf dem Heimweg ansprachen. Jetzt konnte er seinen Weg ohne Pause und ohne Hindernis zurücklegen. Er hatte sogar gesehen, wie einige seiner vertrautesten Freunde gedankenverloren um eine Ecke bogen, um die Begegnung mit ihm zu vermeiden.

 

Während der ganzen vier Wochen hatte er nicht eine einzige Einladung zu einer Partie Rasentennis erhalten – er, um dessen Gegenwart die Tennisgruppen sonst gerangelt hatten. Zu Zeit der Untersuchung standen noch zwei oder drei Verabredungen an. Er hatte sie eingehalten, beim Spiel sein Bestes gegeben und gegen die kühle Atmosphäre angekämpft. Für ihn hatte es den Anschein gehabt, als seien alle ein wenig verdrießlich. Es herrschte eine allgegenwärtige Mattheit. Niemand fand etwas Angenehmes, worüber man reden konnte. Erst ganz allmählich hatte er wahrgenommen, welche Wolke über ihm hing. Aber am Ende des Monats war die Tatsache mit den Händen zu greifen gewesen, und Bothwell Grahame begriff, dass man ihn in die Wüste geschickt hatte.

„Was hat das alles zu bedeuten?“, fragte er sich, entgeistert in empörtem Staunen. „Was haben sie gegen mich? Hat vielleicht irgendjemand herausgefunden…?“

Bothwells Wangen erbleichten, als er an jenen einen Vorgang in seinem Leben dachte, von dem er sich am wenigsten wünschte, dass er gegen ihn verwendet würde. Aber nachdem er einige Minuten nachgedacht hatte, sagte er sich, dass eigentlich niemand in Bodmin etwas über diese eine Episode in seiner Vergangenheit wissen konnte.

Angestrengt rätselte er über die Veränderung im Benehmen seiner Bekannten; und im Rückblick fiel ihm auf, dass der Wandel mit dem Tag der verschobenen amtlichen Untersuchung begonnen hatte. Er erinnerte sich daran, auf welch seltsame Weise alle das Thema der Untersuchung vermieden hatten; wie sich das Gespräch bei jeder Erwähnung des toten Mädchens in seiner Gegenwart augenblicklich veränderte, als müsse der Gegenstand vor ihm mit einem Tabu belegt werden.

„Bei meiner Seele“, sagte Bothwell, „langsam glaube ich, sie haben mich in Verdacht, dieses Mädchen aus dem Waggon geworfen zu haben. Ich habe mich geweigert, die Fragen dieses impertinenten Grobians zu beantworten, und nun haben die Besserwisser vom Dorf sich überlegt, dass ich ein Mörder sein muss.“

Weißglühend vor Empörung, fuhr er zurück nach Penmorval. Eine Woche zuvor hatte er sich entschlossen, nach Peru zu reisen. Er hatte alles über den Dampfer, der ihn mitnehmen sollte, in Erfahrung gebracht. Er war im Besitz von Empfehlungsbriefen an den Eigentümer einer Zeitung und einige Angehörige des örtlichen Adels. Er war bereit, sein Streben nach einem Vermögen im Land von Gold und Edelsteinen fortzusetzen. Aber jetzt sagte er sich, dass keine zehn Pferde ihn von Penmorval wegzerren sollten. Er würde sein Terrain behaupten, bis diese Dummköpfe und Halunken, die er früher einmal seine Freunde genannt hatte, gedemütigt waren. Er würde sie den Kelch ihrer eigenen Torheit kosten lassen.

Bothwell war viel zu hitzköpfig, als dass er das Geheimnis seiner Unbill vor der Cousine, die für ihn wie eine Schwester war, hätte geheim halten können. Er ging geradewegs zu Dora und erzählte ihr von dem hinterhältigen Verdacht, der in den Köpfen der Männer gegen ihn aufgestiegen war.

Sie hatte das Protokoll der Untersuchung gelesen; über seine Weigerung, Mr. Distins Fragen zu beantworten, hatte sie sich zwar gewundert, aber sie hatte begriffen, dass sein Stolz sich dagegen auflehnte, so ins Gebet genommen zu werden, und dass es eine Frage seiner persönlichen Würde war, an der Weigerung festzuhalten.

„Jeder, der dich aus einem solchen Grund verdächtigen kann – der dich überhaupt aus irgendeinem Grund verdächtigen kann – muss ein Idiot sein, Bothwell“, rief sie aus. „Sich über solche Leute zu ärgern, nützt nichts.“

„Aber ich ärgere mich über sie. Ich bin tollwütig vor Ärger.“

„Warum hast du denn diese Frage nicht beantwortet, Bothwell?“, fragte seine Cousine nachdenklich.

„Weil ich es nicht wollte.“

„Aber du hättest jeder Möglichkeit eines Missverständnisses vorgebeugt, wenn du eine plausible Antwort gegeben hättest. Das wäre so einfach gewesen“, meinte Dora.

„Es wäre nicht einfach gewesen. Es war nicht möglich, diese Frage zu beantworten.“

„Warum nicht?“

„Weil ich sie nicht beantworten konnte, ohne eine Person zu verletzen, die ich…schätze“, erwiderte Bothwell, wobei er wieder in jenes seltsame, mürrische Betragen verfiel, das Mr. Heathcote schon am Tag der Untersuchung an ihm beobachtet hatte.

„Ach Bothwell, du hast also Geheimnisse – ein Geheimnis vor mir, deiner Adoptivschwester.“

„Ja, ich habe meine Geheimnisse.“

„Das ist schade. Ich hatte immer gehofft, ich hätte einen Anteil an deiner Lebensplanung. Aber jetzt fürchte ich allmählich…“

„Dass mein Leben schon Schiffbruch erlitten hat. Du hast Recht, Dora. Mein Leben hat Schiffbruch erlitten, drei Jahre bevor ich Indien verlassen habe, aber damals wusste ich noch nicht, was Schiffbruch bedeutet. Ich dachte, es gebe noch sicheres Land, und ich würde es dorthin schaffen; heute weiß ich, dass ich auf einen tödlichen Felsen gelaufen bin, an dem Ehre, Glück und Wohlergehen zerschellen müssen.“

„Rede nicht in Rätseln, Bothwell. Sagʼ mir einfach die Wahrheit, so schrecklich sie auch sein mag. Du weißt, dass du mir vertrauen kannst.“

„Ja, mein Liebes, ich vertraue dir wie dem Himmel selbst. Aber es gibt Dinge, die darf ein Mann nicht erzählen. Ja, Dora, ich habe mein Geheimnis, und es fällt mir schwer, es zu bewahren – das Geheimnis eines Mannes, der mit seiner Ehre an eine Frau gebunden ist, während er zärtlich eine andere liebt.“

„Bothwell, das tut mir leid für dich“, sagte seine Cousine leise.

Sie legte ihm die Arme um den Hals, als wären sie noch Junge und Mädchen, und drückte die Lippen auf seine fiebrige Stirn. Sie tröstete ihn mit ihrer Liebe, wo sie ihm sonst keinen Trost geben konnte.

* * *

Zehn Minuten später kam Hilda Heathcote die Auffahrt hinauf. Sie begleitete einen unnachahmlichen Esel von so hellem Grau, dass er fast weiß zu sein schien. Es war ein Esel von überragender Größe und Würde, und er zeigte ein Gebaren, als wäre er ein weißer Elefant. Er trug zwei Gepäcktaschen, die nach maurischer Mode verziert waren, und in den maurischen Gepäcktaschen saßen Heathcotes Töchter, die Zwillinge.

Die Mädchen sahen sich so ähnlich, als wären sie die berühmten Korsischen Brüder höchstpersönlich, aber in ihrem Temperament ähnelten sie sich überhaupt nicht, und die blauen und rosa Schärpen, die sie zur Unterscheidung trugen, waren vollkommen unnötig; niemand hätte Minnie, den überheblichen Zwilling, mit Jennie, dem bescheidenen Zwilling verwechselt. Man brauchte sich nur eine halbe Stunde in ihrer Gesellschaft aufzuhalten, dann wusste man ein für alle Mal, wer wer war. Während Jenny noch ganz das Baby war und kaum deutlich sprechen konnte, war Minnie für ihr Alter sehr frühreif und tat ihre Meinung über jedes Thema freimütig kund. Minnie trat immer in den Vordergrund, war stets Herrin der Situation und stampfte mit dem Fuß auf, wo Jennie Tränen vergoss. Dass Minnie der Liebling aller war, braucht nicht besonders betont zu werden. Ungezogenheit mit vier Jahren, eine Furie im Miniaturformat, ist immer interessant. Mr. Heathcote war in ganz Cornwall der Einzige, der mit Minnie zurechtkam und auch Jennies nachgiebiges Wesen angemessen zu schätzen wusste. Jennie, die spürte, dass ihr Vater sie liebte, pflegte auf sein Knie zu klettern und an seiner Weste zu nesteln, während Minnie die Gesellschaft mit jenen kleinen Allüren unterhielt, die unbestimmt als „sich hervortun“ bezeichnet werden.

Heute war Minnie in prächtiger Stimmung, wurde sie doch im Triumph zu einer seit langem zugesagten Feierlichkeit eskortiert. Seit Anfang des Sommers hatte man den Zwillingen versprochen, dass sie eines Tages mit Mrs. Wyllard Tee trinken durften, wenn sie sich gut benahmen. Jennie hatte alles getan, um sich die Gunst zu verdienen; aber Minnie hatte jeden Tag irgendwie Ärger gemacht. Sie war grausam zu den Hunden gewesen und hatte in ihrem Schreibheft, wo ihre Schnörkel und Bogenlinien eine schlimmere Kompanie von Krüppeln waren als Falstaffs Regiment, einen Haufen Kleckse fabriziert. Sie war patzig zu dem freundlichen Fräulein gewesen. Sie hatte beim Abendessen aufgemuckt und mit lautem Gewimmer gegen die strenge Zubettgehzeit um sieben Uhr protestiert. Erst Ende August war eine kurze Zeit der Ruhe eingekehrt, und Hilda hatte eilig die friedlichen Tage genutzt, wusste sie doch, wie schnell darauf wieder ein Sturm folgen würde.

Der Teetisch war in dem Eibenwäldchen gedeckt. Es war ein Tisch, wie Kinder ihn mögen und wie er auch für ausgewachsene Menschen eine reizvolle Ausstrahlung hat. Er trug eine köstliche Vielfalt von Kuchen und Marmelade und selbstgebackenem Brot, Nektarinen und Weintrauben. Minnie schrie beim Anblick des Festessens und klatschte in die Hände, während Jennie errötete und den Kopf senkte, verlegen angesichts der überwältigenden Erscheinung von Mrs. Wyllard in ihrem Kleid aus indischer Seide mit scharlachroter Schärpe und blitzenden Diamantringen. Hilda hatte keine solchen Juwelen an ihren sonnengebräunten Fingern.

„So ein schöner Tee!“, rief Minnie, nachdem man den blauen und den rosa Zwilling jeweils mit einem bequemen Sitz in einer gemütlichen Ecke des Wäldchens versorgt und sie zum Teetisch gedreht hatte. „Warum haben wir zu Hause nie so einen hübschen Tee? Warum nicht, Tante Hilda?“, wiederholte sie, als man ihre Frage ein paar Sekunden lang nicht zur Kenntnis genommen hatte.

„Weil solche schönen Dinge nicht jeden Tag gesund sind“, erwiderte Hilda.

„Das glaube ich nicht“, sagte Minnie.

„Ach Minnie!“, schrie Jennie mit einem Ausdruck des Erschreckens. „Du darfst nicht immer widersprechen. Du darfst Tante Hilda nicht widersprechen, denn die ist schon alt.“

„Wenn Kuchen nicht gesund wäre, hätte sie ihn nicht“, sagte Minnie, wobei sie den Einwurf des blauen Zwillings überging und mit ihrem rundlichen Finger auf Mrs. Wyllard zeigte. „Sie kann haben, was sie will, und sie ist erwachsen und weiß alles. Sie würde uns keine ungesunden Sachen geben. Ich weiß, warum wir so einen schönen Tee zu Hause nicht haben.“

„Warum nicht, Minnie?“, fragte Dora, um das Gespräch in Gang zu halten.

„Weil Fräulein so garstig ist. Neulich habe ich gehört, wie die Köchin das gesagt hat. Sie meckert immer über die Sahne und das Brot. Du meckerst nicht über die Sahne und das Brot, oder?“, fragte sie in ihrer unverblümten Art.

„Ich fürchte, ich bin nicht so eine gute Haushälterin wie das Fräulein“, antwortete Dora.

„Dann mag ich schlechte Haushälterinnen am liebsten. Wenn ich groß bin, werde ich eine schlechte Haushälterin, und dann gibt es immer Kuchen zum Tee – so viele Kuchen, wie da sind. Darf ich davon etwas haben, bitte“, sagte sie und zeigte auf einen bernsteinfarbenen Sandkuchen, „als Erstes.“

Damit tat Minnie kund, dass sie vorhatte, sich durch die verschiedenen Sorten auf dem Teetisch zu essen.

„Und was nimmt Jennie?“, fragte Dora, wobei sie den blauen Zwilling anlächelte.

„Jennie ist ein widerliches Kind“, sagte Minnie herrisch. „Sie sollte etwas Einfaches bekommen.“

Jennie wartete, den Blick unverwandt auf den Sandkuchen gerichtet, was man ihr geben würde.

„Glaubst du, schon ein Stück von dem prächtigen Kuchen würde dich krank machen, Jennie?“, fragte Dora.

„Ganz sicher“, sagte Minnie, wobei sie sich durch ihr eigenes Kuchenstück arbeitete. „Sie ist immer krank, wenn sie prächtige Dinge isst. Sie war krank, als wir Oma besucht haben. Oma ist nicht reich, weißt du, denn ihr Mann war Pfarrer, und die sind immer arm. Aber wenn wir sie besuchen, gibt es schönen Tee, und dann dürfen wir durch ihren Garten rennen und die Früchte pflücken und die Beete zertrampeln und machen, was wir wollen; deshalb macht es uns nichts aus, zur Oma zum Tee zu gehen, obwohl sie alt und taub ist. Als wir Oma das letzte Mal besucht haben, hatte Jennie Kirschen in ihrem Kuchen, und dann war ihr die ganze Nacht schlecht. Das weißt du doch, Jennie.“

 

Der blaue Zwilling räumte ein, dass es stimmte, und ließ sich kleinlaut ein Stück Biskuitkuchen geben.

„Du darfst nicht so viel reden, Minnie. Du bist eine richtige Nervensäge“, sagte Hilda. Dann sah sie sich zögernd ein- oder zweimal um, bevor sie fragte: „Was ist aus Mr. Grahame geworden? Im Allgemeinen beehrt er uns zum Nachmittagstee mit seiner Gesellschaft.“

„Bothwell war heute Morgen ein wenig bekümmert“, sagte Dora stockend. „Es geht ihm nicht sehr gut.“

Ihr Mut sank bei dem Gedanken, dass dieses Mädchen – das Mädchen, in dem sie einst Bothwells zukünftige Frau gesehen hatte – irgendwann von dem düsteren Verdacht erfahren würde, der über ihm hing wie eine giftige Wolke. Nach und nach würde man ihr sagen, dass die Leute ihn für einen möglichen Mörder hielten, für einen Bösewicht, der ein wehrloses Mädchen überfallen hatte, der auf sie losgegangen war wie ein Tiger auf seine Beute, und sie in einen entsetzlichen Tod gestoßen hatte. Sie würde erfahren, dass es in der Nachbarschaft Menschen gab, die in der Lage waren, eben diesen Bothwell Grahame eines so niederträchtigen Verbrechens zu verdächtigen.

Dora hatte bisher noch kaum erkennen können, wie schrecklich die Lage war. In dem Bestreben, ihren Cousin zu trösten, hatte sie die unausgesprochene Verleumdung, den grausigen Beigeschmack, der sich mit seinem Namen verband, auf die leichte Schulter genommen. Aber jetzt, als sie an ihrem Teetisch saß, ihre beiden kleinen Gäste beaufsichtigte und Interesse für deren Geplapper vortäuschte, tat ihr das Herz so weh, wie es ihr nicht mehr wehgetan hatte, seit Edward Heathcote ihr verziehen hatte. Von dieser Stunde bis zum Tod des ausländischen Mädchens war ihr Leben wolkenlos gewesen. Aber jetzt war eine Wolke über ihren Horizont geschwebt und verdunkelte die Sonne – und diese Wolke hing schwer über dem Kopf eines Menschen, den sie innig liebte.

Kapitel 6

Eine priesterliche Warnung

Der Nachmittagstee der Kinder dauerte lange, und die Zwillinge vergnügten sich ausgiebig in dem Eibengehölz. Sowohl ihre Gastgeberin als auch ihre Tante waren allerdings seltsam geistesabwesend und gaben nur höchst unbestimmte Antworten auf Minnies ständiges Geplapper und auf die gelegentlichen Bemerkungen, die Jennie gewichtig zwischen zwei Bissen Kuchen einstreute.

Vielleicht hatten die Zwillinge unter diesen Umständen umso mehr Freude, denn sie durften nach Belieben von einer Leckerei nach der anderen naschen und wurden nicht durch die beunruhigenden Bemerkungen über ungesundes Essen belästigt, die jugendliche Leckermäuler so häufig stören.

Schließlich war der Tee vorüber, und sie hatten auf dem Rasen vor der Fontäne Ball gespielt. Danach hatten sie die Goldfische gefüttert, und Hilda sprach davon, sie nach Hause zu bringen. Mittlerweile war es fast sieben Uhr, und Bothwell war immer noch nicht aufgetaucht.

Da seine vertraute Erscheinung fehlte, erschien Hilda die ganze Angelegenheit schal, fade und unnütz. Er war in letzter Zeit ein so angenehmer Gesellschafter gewesen – nicht fürsorglich oder schmeichelnd in seiner Sprache, wie junge Männer es zu Mädchen sind, die sie bewundern. Er hatte nichts von diesen netten Dingen gesagt, welche die Röte auf Mädchenwangen treiben; aber er war freundlich und brüderlich gewesen, und Hilda war damit zufrieden, eine solche Freundlichkeit von ihm anzunehmen. Sie hielt es sogar für mehr als nur für ihre Pflicht. Ein feuriges Mädchen, wie man es nennt, war sie nicht. Sie erwartete nicht, dass Männer sich vor ihr verneigten und sie anbeteten; sie erwartete nicht, dass ihr die Herzen zu Füßen gelegt wurden, damit sie darauf herumtrampeln konnte. Sie hatte nichts von der Anmaßung bewusster Schönheit. Wenn sie jemals jemanden lieben sollte, würde es heimlich und sanft geschehen, geduldig wie Shakespeares Helena ihren Bertram geliebt hatte, mit einer sanften, aufblickenden Zuneigung, mit der sie den Geliebten für so entfernt und überlegen hielt wie einen Stern.

Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte sie geglaubt, Both­well würde ein wenig an ihr liegen, und damals war er für sie wie Bertram gewesen. Jetzt war er nett und brüderlich, und sie war dankbar für seine Freundlichkeit.

Ein wenig war ihr das Herz schwer, als sie ihre Haare ordnete – sie waren von einer letzten Rangelei mit den Zwillingen zerzaust – und den Hut aufsetzte, um nach Hause zu gehen. Der Esel wartete vor der alten Steinveranda, und Fräulein Meyerstein war gekommen, um sie bei der Begleitung der Zwillinge zu unterstützen.

„Ich dachte, Minnie könnte nach dem Tee ein wenig ungezogen sein“, sagte sie, als habe der Tee auf Minnies Temperament die Wirkung von Champagner.

Im warmen Glühen des Abendlichtes machte sich die kleine Prozession auf den Weg über die Felder – die Kinder voller Geplapper und Gelächter, Hilda stiller als gewöhnlich. Es war Erntezeit, und auf einem weiten Feld, an dem sie vorüberkamen, stand das Korn in Garben. Es war ein Feld an der Böschung eines Hügels am Rande des Moors. Am unteren Ende des Feldes stand eine hohe, überwucherte Hecke, eine Hecke voll vom glimmenden Sonnenlicht und den Farben wilder Blumen, rot und blau und gelb, ein Überfluss an goldenen Blütensternen, die sich überall zwischen dem Blättergewirr verteilten.

Hier und da hatte die Hecke eine Lücke, weil Rinder oder Bauernknechte sich den Weg von einem Feld zum anderen gebahnt hatten. Durch eine solche Lücke zwängte sich ein Mann und sprang unmittelbar vor dem Esel auf den Weg.

Das Tier scheute schwach zurück, und die Zwillinge kreischten zuerst vor Überraschung, dann vor Freude. Es war Bothwell, den die Kinder über alles liebten.

„Warum bist du nicht zum Tee gekommen?“, fragte Minnie empört. „Das war sehr ungezogen von dir.“

„Ich war nicht in Stimmung, Minnie; keine geeignete Gesellschaft für nette Leute. Wie geht es dir, Hilda?“

Er war fast vom Beginn ihrer Bekanntschaft an in die Gewohnheit verfallen, sie mit ihrem Vornamen anzusprechen; das war in jenen Tagen gewesen, als er so viel heiterer und glücklicher zu sein schien als jetzt.

Der Esel trabte weiter und trug die Zwillinge davon. Minnie schwang die ganze Zeit Reden und belehrte Both­well über seine Unhöflichkeit. Es folgte das Fräulein, eifrig darauf bedacht auf ihre Schützlinge aufzupassen. Sie waren nur wenige Schritte voraus, aber Hilda hatte das Gefühl, als wäre sie mit Bothwell allein.

„Also hatten die Kinder ihren seit langem versprochenen Nachmittagstee“, sagte er, „und ich war nicht dabei. Das tut mir leid.“

„Sie haben dich sehr vermisst“, sagte Hilda. „Wusstest du denn nicht, dass es heute Nachmittag stattfinden sollte?“

„Ich habe es gestern erfahren – Dora hat es mir gesagt“, erwiderte Bothwell, wobei er mit seinem Spazierstock heftig auf die Wildblumen einschlug, während er an Hildas Seite ging.

Unbewusst waren sie in einen viel langsameren Schritt verfallen als das Fräulein und der Esel, und jetzt waren sie ganz allein.

„Ich wusste über die Einladung zum Tee Bescheid und wollte euch begleiten; aber heute Morgen hat irgendetwas mit mir nicht gestimmt, und ich fühlte mich nur als Gesellschafter für Teufel geeignet. Wenn Satan irgendwo in der Nähe zum Tee eingeladen hätte, wäre ich hingegangen“, schloss Bothwell gehässig.

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