Der Flügelschlag des Zitronenfalters

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Briefke war so zufrieden mit sich selbst, dass er die Weingläser erneut füllte und Rick Pfeffer doppelt zuprostete, bevor die beiden sich eine kurze Weile einem genüsslichen Schweigen hingaben.

„Und sag’ mal“, begann Pfeffer nach dieser kurzen Weile und einem langen Schluck von dem Rotwein, „was machst Du denn jetzt? Also ich meine, wie hast Du Dir das alles vorgestellt? Wie soll das weitergehen? Willst Du das für immer so durchziehen?“

„Ich weiß nicht“, antwortete Briefke und machte eine wegwischende Handbewegung in den Raum hinein. „Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, bis zur Rente hier in Flensburg zu versauern. Vielleicht gehe ich noch mal woanders hin. Momentan überlege ich, ob ich mir vielleicht noch einen Dr. phil. zulege. Diese ganze Amtsarzterei ist einigermaßen mühsam, wie Du Dir vorstellen kannst. Na ja, wie gesagt. Ich weiß noch nicht, mal sehen!“

„Aber ist das nicht anstrengend? Ich meine, die ganze Zeit zu lügen?“

Briefke schien entsetzt! „Ich muss doch nicht lügen, Richard. Ich bin Dr. Clemens Bartholdy. Ich trage nicht nur seine Schuhe oder so, ich bin es! Das ist doch keine Lüge! Ich will Dir mal was über Lüge und Wahrheit erzählen, Richard. Kennst Du Dich mit dem Herzen aus?“

„Es geht, nein eigentlich nicht. Ich befürchte, ich habe einige gebrochen, aber mehr auch nicht!“

„Casanova! Aber wie auch immer, das Herz ist die zentrale Versorgungsstelle des Körpers, eine leistungsfähige Pumpe, Blut strömt rein, Blut strömt raus. Ein absolut neuralgischer Punkt und neben Darm und Hirn eine der drei Schaltzentralen unseres Körpers. Ohne Blut, könnten wir nicht existieren, aber auch Blut wäre nutzlos, wenn es nur so in den Venen und Arterien herumdümpeln würde wie das Brackwasser in der Bremer Förde. Also pumpt das Herz fleißig im Rhythmus zu Systole und Diastole, das sind die beiden Vorgänge: Systole – Blut strömt raus, Diastole - Blut strömt rein. Und könnte es etwas Gegensätzlicheres geben als das? Der eine Vorgang füllt das Herz mit Blut, mit Leben, mit Vitalität, nur damit der andere Vorgang es ihm nur eine halbe Sekunde später schon wieder entzieht. Welch tantalusischer Vorgang, nicht wahr? Immer nur für den Bruchteil einer Sekunde bekommt das Herz seinen Treibstoff, die Essenz seiner teleologischen Existenz zu Gesicht, nur um es dann gleich wieder verabschieden zu müssen. Es wird geschenkt, und im selben Moment bereits wieder entzogen. Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen! Nun könnte man sagen: das ist ja furchtbar, wie gemein! Aber als Fachmann, als Mediziner weißt Du, dass es nicht aus Niedertracht geschieht, sondern weil etwas viel Größeres, Bedeutenderes damit am Leben erhalten wird, nämlich der Organismus, den das Herz versorgt. Der Körper, die Krone der göttlichen Schöpfung! Systole und Diastole dienen, obwohl grundverschieden und absolut gegensätzlich, demzufolge beide derselben Sache. Sie stellen sich in den Dienst von etwas Größerem und werden dadurch untrennbar miteinander verbunden, wie die beiden sprichwörtlichen Seiten ein und derselben Medaille, ja, sie sind sogar vollständig abhängig voneinander, da gibt es nicht gut oder schlecht. Genau so wie bei der Wahrheit und der Lüge. Wenn alles Wahrheit wäre und nichts mehr Lüge, dann verliert die Wahrheit zwangsläufig jedwede Bedeutung. Oder ums es ganz poetisch zu sagen, mein lieber Richard: Wahrheit und Täuschung liegen wie Systole und Diastole immer nur einen Herzschlag weit auseinander!“

Nachdem Briefke im letzten Teil des Gesagten noch eine bedeutungsschwangere Pause eingelegt hatte, bevor er auf den poetischen Herzschlag zu sprechen kam, lehnte er sich mit dem Selbstverständnis des Wissenden abermals in seinem Clubsessel zurück, nahm einen Schluck Wein und stopfte sich erneut seine Pfeife, die er kurz darauf entzündete. Pfeffer indes war nunmehr, wie es schien, vollständig in den Bann des Dr. Bartholdy geraten und nachhaltig beeindruckt von seinem Gegenüber. Ganz weggewischt waren mittlerweile all die Zweifel, mit denen er das Haus betreten hatte. Und so kam es, dass er sich zu einem Ausdruck der Bewunderung hinreißen ließ, der einem Rick Pfeffer sonst nicht so leicht über die Lippen zu kommen pflegte.

„Gert, Du bist ein Genie!“

„Ach was Genie, Richard. Ich liebe das, was ich tue. Und genial muss man gar nicht sein, nein, nein. Weißt Du, hier in Deutschland schlägt sich die Bedeutung von Menschen in Titeln und Gehaltsgruppen nieder. Deswegen meine ganzen Auszeichnungen und der Doktor-Titel. Aber wenn Du wie ich mit einer Behörde arbeitest, als Amtsarzt, ich sage Dir, dann musst Du nicht genial sein. Gerade in der Politik und auf den Behörden kannst Du mit einer gewissen Kenntnis der Hierarchien und einem gesunden psychologischen Einfühlungsvermögen optimale Wirkungen erzielen. Die ganze Amtsbürokratie ist total subaltern. Da sind Aktenvermerke und Dienstanweisungen die beste Sprache, die die Mitarbeiter verstehen. Gib Befehle, und die Leute befolgen sie, weil Sie annehmen, dass nur der Befehle gibt, der dazu befugt ist. Das wird gar nicht hinterfragt. Wie bei einer Köpenickade, verstehst Du? Genau so mit meinen Gutachten. Wenn einer ein Gutachten vorlegt, dann fragt keiner, ob derjenige überhaupt dazu befähigt ist. Und wenn Du daneben liegst, ist es auch nicht per se falsch, sondern Du bist dann eben offiziell einer anderen medizinischpsychologischen Auffassung. So ist das! Die größten Erfolge sind für mich, wenn irgendein namhafter Gutachter zur selben Erkenntnis kommt wie ich, ohne mein Gutachten zu kennen. Dann weiß ich, dass ich den richtigen Beruf ergriffen habe. Man muss sich halt nur trauen!“

„Weißt Du was, Gert? Du solltest das alles aufschreiben. Ja, Du solltest ein Buch darüber schreiben, halb Enthüllungs- halb Entwicklungsgeschichte. Das würde laufen wie geschnitten Brot, das schwöre ich Dir!“

„Habe ich schon dran gedacht. Aber soll ich Dir was sagen? Mittlere Reife, Lesen und Schreiben gerade eben ausreichend!“, schmunzelte Briefke über den Tisch zu Pfeffer.

„Im Ernst? Aber Du sprichst wie ein Professor!“

„Ich habe mir vieles angewöhnt, und einige Sachen brauchst Du jeden Tag. Das ist im Grunde reines Auswendiglernen. Aber eins kannst Du mir glauben, ich bin froh, dass ich einen Beruf ergriffen habe, der sich viel darauf einbildet, dass seine Egiden alles immer nur so hinkritzeln. Schön geschmiert. Kein Mensch kann solche Rezepte lesen. Bei uns gilt die Devise: Je unlesbarer die Schrift, desto mehr Arzt bist Du. Und in der Klinik diktiere ich sowieso fast alles. Aber ein Buch? Na ja, meine Talente in allen Ehren, aber dazu wird es wohl nicht reichen.“ Er nahm einen tiefen Zug aus seinem Weinglas, derweil Richard genannt Rick Pfeffer die zündende Idee kam.

„Ich aber. Ich kann sowas!“

„Was?“

„Na schreiben! Ich war immerhin Chefredakteur, schon vergessen? Pass auf, wir machen das so: Wir treffen uns und unterhalten uns ganz normal, so wie jetzt. Nebenbei lasse ich das Diktiergerät laufen. Dann erzählst Du alles, genau so wie eben gerade, und ich mache dann hinterher einen fertigen Text daraus! Was hältst Du davon?“

Briefke wirkte ehrlich angetan und ein sichtbarer Ausdruck der Begeisterung machte sich in seinem Gesicht breit!

„Das ist die beste Idee des Tages!“

Aber Pfeffer war sogar schon einen Schritt weiter. „Hast Du einen Stift und ein paar Blätter? Schnell, ich habe schon eine Idee!“

Gert Briefke alias Dr. Clemens Bartholdy hatte beides schnell zur Hand und Pfeffer begann zu schreiben:

Die Abenteuer des Dr. Clemens Bartholdy! Vorwort: Nur der Betrug hat Aussicht auf Erfolg! Auf Erfolg und lebendige Wirkung in den Menschen, der den Namen des Betruges gar nicht verdient, sondern nichts anderes ist, als die Ausstattung einer vorhandenen Wahrheit mit denjenigen materiellen Merkmalen, deren sie bedarf, um von der Welt anerkannt und gewürdigt zu werden. Und in diesem Sinne ist mein Tun eben doch die Wahrheit, so seltsam es klingen mag, zugegebenermaßen. Das Reich der Freiheit ist eben das Reich der Täuschung!“3

Er reichte es Briefke über den Tisch. „Und?“, fragte Pfeffer, „Was sagst Du?“

„Ich muss Dir das Kompliment zurückgeben, Richard!“

„Welches?“

„Nicht ich, Du bist genial!“

„Ich glaube, dies ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft!“, sagte Pfeffer noch, bevor die beiden Genies vor Lachen laut losprusteten und sich abermals einschenkten. Und so ging es dann noch etliche Stunden weiter, in denen sich beide mit ihren jeweiligen Kabinettsstückchen zu überbieten suchten und in denen, während noch so manche Flasche Wein geleert wurde, mehrfach die geflügelten Sätze fielen, wonach eine Hand doch die andere wasche und man sich im Leben immer zweimal träfe.

Jenes Buch im Übrigen sollte Richard genannt Rick Pfeffer später übrigens tatsächlich für Gert Briefke alias Dr. Clemens Bartholdy schreiben, doch diese Geschichte wollen wir ein andermal erzählen. Zumal Rick Pfeffer einige Tage später noch eine weitere, sehr wichtige Verabredung einzuhalten hatte.

VII.

Als Richard genannt Rick Pfeffer am darauf folgenden Dienstag erwachte, sich ankleidete und so tat, als würde er zur Arbeit gehen, fand er ein Päckchen Zigaretten in seiner Manteltasche, das dort eigentlich nicht sein sollte. Und dann auch noch Marlboro. Seine Marke war HB: Er betrachtete das Päckchen kurz und ließ es sogleich wieder schnell in seiner Manteltasche verschwinden, als er hinter sich seine Frau hörte. Er ging nun flugs aus der Haustür, sperrte seinen goldfarbenen Mercedes auf, fuhr etwa 100 Meter weit und hielt dann direkt wieder an, um das Zigaretten-Päckchen einer genaueren Prüfung zu unterziehen. Hierbei fand er schnell unter der Zellophan-Folie einen gefalteten Kassiber auf welchem Name und Adresse einer Gaststätte nebst einer Uhrzeit standen. Darunter nur das Wort „Parkplatz“. Er blickte hoch zur kleinen Uhr, die in das mit Wurzelholz verblendete Armaturenbrett des Mercedes eingelassen war. Noch knapp zwei Stunden bis dahin. Er besah den kleinen Zettel mit der sachlichen Handschrift erneut. Er musste ihm wohl gestern von jemanden in der Kneipe zugesteckt worden sein, in der er mittlerweile seine Tage verbrachte, damit daheim nicht aufflog, in welcher Lage er sich befand. Offiziell – und damit war seine Frau gemeint – war er ja noch Grabredner. So wurde denn auch seine Verwunderung über die geheimnisvolle Zigarettenschachtel schamvoll abgelöst von der ihn nun beinahe täglich heimsuchenden Plage der mittleren Verzweiflung über seinen wenig zielführenden Zustand des Dahinschweifens, der nur durch eine unpräzise Mischung aus dunkler Ahnung und kindlicher Gespanntheit unterbrochen wurde, wenn er an die Worte von Oberleutnant Müller dachte, er solle dem BND schon bald einen „Gefallen“, tun, und „aktiv“, werden. Pfeffer freute sich über das geheimnisvoll klingende Spionage-Deutsch und dachte fortwährend darüber nach, um was für einen Gefallen es sich wohl handeln möge. Allein, der Gedanke aktiviert zu werden, löste in ihm schon das wohlige Gefühl aus, nun nicht länger tatenlos seine Zeit in Brasserien und Wirtshäusern vergeuden zu müssen. Auch wenn er den gelegentlichen Schluck über den Durst so gar nicht scheute, ärgerte es ihn, dass er im Grunde seit seiner Demission beim Weser-Land-Blatt überhaupt nichts Sinnvolles mehr getan hatte. Er fühlte sich ungebraucht und schlicht jedem Nutzen entrissen. Die Episode mit seinem alten Freund Briefke war ihm da eine willkommene Abwechslung gewesen, doch auch dieses Aufeinandertreffen hatte ihm klar gemacht, dass er wieder loslegen, eben aktiviert werden müsse. Briefke hatte ihr Gipfeltreffen ebenfalls sichtlich genossen und die beiden hatten sogar schon wieder telefoniert, nur Stunden, nachdem Pfeffer nach seiner Reise zu Hause angekommen war, aber dennoch: Briefke war immerhin Arzt, er hatte zu tun und wurde gebraucht, während Pfeffer wieder in der Kneipe landete und die Zeit totschlagen musste.

 

Er war also im Grunde guter Dinge und höchst erregt, als er seinen Wagen auf jenem Parkplatz eines Großkrämers parkte, auf welchem er seinen neuen weißen Mercedes abgestellt hatte, umstieg und weiterfuhr, nur um eine halbe Stunde später auf einem anderen Parkplatz zum Stehen zu kommen. Ein Blick auf die Armbanduhr verriet ihm, dass er noch etwa eine Stunde Zeit bis zum Treffen hatte und er beschloss, zunächst eine Zigarette zu rauchen. Er stieg aus, lehnte sich rücklings gegen den Kotflügel des Mercedes und rauchte, wobei er zwischendurch ein paar kleinere Schlücke aus dem wehrmutgefüllten Sterling-Flachmann nahm, um den trockenen Geschmack der Aufregung zu überdecken. Leicht beschwingt und mit einem kleinen Dusel setzte er sich wieder auf den Fahrersitz des Wagens, überzeugte sich noch einmal, dass Adresse und Name der Gaststätte mit den Angaben der Nachricht übereinstimmten und schlief zu seiner eigenen Überraschung sofort ein.

Es war ein süßer, alkoholgeschwängerter Schlaf der Erschöpfung, noch vertieft durch Zecherei und falsche Ernährung, und der überdies bemerkenswert traumreich war. Und so ärgerte er sich gründlich, als er durch ein lautes Klopfen geweckt wurde, das durch die Fensterscheibe hindurch direkt auf seine Schädeldecke zu hämmern schien. Nach dem ersten Sekundenschreck beschloss er daher, das Klopfen einfach zu ignorieren und drehte den Kopf demonstrativ in Richtung Beifahrersitz. Als aber das Klopfen zurückkehrte und sich mit einer Stimme verband, die ihn anschrie, erschrak er plötzlich so heftig, dass er das Gefühl hatte, ihm würde einige Sekunden lang das Herz stehen bleiben.

„Wachen Sie auf Mann! Haben Sie mal auf die Uhr gesehen?“, Oberleutnant Hans Müller war sichtlich ungehalten und als Rick Pfeffer erst auf die Uhr im Armaturenbrett und dann auf die an seinem Handgelenk sah, wusste er auch, weshalb. Er hatte satte anderthalb Stunden geschlafen! Donnerwetter! Schnell zog er die Türverriegelung auf und öffnete die Fahrertür.

„Tut mir leid“, begann Pfeffer noch einigermaßen schlaftrunken. „Ich muss eingeschlafen sein. Wie spät ist es?“

„Bleiben Sie sitzen, das können wir uns jetzt sparen. Machen Sie die andere Tür auf.“ Pfeffer tat es. Müller ging um das Fahrzeug herum, öffnete die Tür und stieg ein.

„Guten Tag!“, sagte Pfeffer und hielt dem Oberleutnant die Hand hin, in welche der verärgerte Spion allerdings nicht einschlug.

„Geht so! Hören Sie, wenn wir verabredet sind, müssen Sie pünktlich sein. Wir sind hier nicht auf der Kirmes.“

„Ich war überaus pünktlich!“, entgegnete Pfeffer, und eigentlich stimmte das ja auch.

„Sie sind eingeschlafen. Und außerdem haben Sie schon wieder getrunken, das rieche ich doch. Mann, Pfeffer, ich hatte doch gesagt keinen Alkohol!“

„Aber das galt doch nur für den Urlaub, ich habe, also das waren nur so ein paar Schlücke, weil ich ... es geht mir nicht gut. Ich bin ein bisschen aufgeregt.“

Müller überhörte Pfeffers Entschuldigung, sah ihn an, dann wieder durch die Frontscheibe. Er schüttelte kurz den Kopf und redete nun ganz ruhig. „Sie sollten nicht trinken, Pfeffer. Alkohol enthemmt den Menschen und macht ihn gefügig. Dadurch werden Sie angreifbar. Abgesehen davon ist es verboten wenn Sie fahren. Irgendwann erwischt man Sie, und wenn Sie dann im Auftrag unterwegs sind, kann das üble Folgen haben. Für uns beide. Verstehen Sie? Wenn Sie das an der falschen Stelle kompromittiert, oder wenn Sie in einer Zwangssituation ... „, und plötzlich stockte Müller und schien erschrocken. Er drehte sich abrupt auf dem Sitz um und sah in den sportlich schmal geschnittenen Fonds des Mercedes. Dann ließ er den Blick langsam und aufmerksam über den Innenraum bis zur Frontscheibe schweifen, sah Pfeffer in die Augen und sagte: „Das ist doch nicht Ihr Ernst, oder?“

„Was?“

„Na das hier! Das soll das Auto sein, das Sie besorgt haben?“

„Jahaa!“ Pfeffer klopfte mit dem Handteller dreimal auf das Lenkrad und sagte nach einer Sekundenpause mit stolzgeschwängerter Stimme: „Das war gar nicht so leicht, so einen Wagen zu finden. Wissen Sie, ich war also erst mal in Dänemark, als ich ...“

„ICH HATTE DOCH GESAGT UNAUFFÄLLIG!“

Warum nur mussten die Leute immer schreien? Und es ging weiter. „Ist das hier unauffällig? Ein weißer Mercedes? Und dann noch ein Cabrio? So eine Proletenschüssel nennen Sie unauffällig? Das ist doch ein reiner Milieuwagen, Mann!“, Müller hätte verärgert sein sollen, aber irgendwie wirkte er eher entsetzt und schockiert.

„Na ja, also, der ist schon etwas rostig, und außerdem funktioniert das Verdeck nicht mehr richtig. Es ist also im engeren Sinne nicht wirklich ein Cabriolet, wenn Sie so wollen.“

„Das ist skandalös, Pfeffer, wirklich. Skan-da-lös! Sie machen mich fertig, wissen Sie das eigentlich? Sie machen mich wirklich echt fertig. Wie viel hat das den Steuerzahler gekostet?“

„Das ist das allerbeste. Der hat nur 4.000 Mark gekostet. Dabei fährt er über 200 Sachen, habe ich schon ausprobiert. Mein Goldstück ist zwar schneller, aber ich kann Ihnen sagen, als ich die A7 runtergedonnert bin ... man sitzt ja viel tiefer in einem SL. Das war wie in Hockenheim! Hatten Sie schon einmal einen SL?“

„Pfeffer!“ Müller herrschte ihn an. Er atmete mehrmals tief durch, sammelte sich. Man konnte ihm ansehen, wie viel Mühe es ihn kostete, sich zusammenzureißen. Er blickte Pfeffer ernst an. „Wir wollen, dass sie etwas für uns erledigen, Pfeffer. Und wir wollen, dass Sie dabei nicht auffallen. In meinem Job fährt man nicht wie ein Zuhälter vor, man versucht, nicht aufzufallen. Sie dürfen nicht auffallen, bei dem, was Sie für uns tun sollen.“

Nun war es Rick Pfeffer, den eine gewisse Unruhe befiel, und tausend Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Oh Mann, das war ja schließlich der Geheimdienst, Müller konnte alles möglich von ihm verlangen, sogar ...

„Ich..“, stammelte Pfeffer, „ich muss doch niemanden umlegen, oder?“ Pfeffers Unruhe hatte sich nun spontan in echte Angst verwandelt, Müller hatte sich indessen wieder gefasst und war zu seinem gewohnten Tonfall zurückgekehrt.

„Umlegen? Nein, nein Pfeffer, ich kann Sie beruhigen, Sie sollen niemanden umlegen. Dafür haben wir qualifiziertere Leute. Für Sie haben wir etwas anderes, aber dafür ist dieses Fahrzeug viel zu spektakulär! Da hätten Sie ja auch gleich mit einer rollenden Bratwurst hier vorfahren können. Deswegen hatte ich Ihnen ja auch ausdrücklich gesagt, Sie sollen sich ein unauffälliges Fahrzeug besorgen.“

Beruhigung. Erstmal. Pfeffer hatte noch immer die Hoffnung, Müller und das Cabrio miteinander zu versöhnen.

„Ja, na ja, aber ich habe mal gezählt. Allein, als ich die A7 runtergepflügt bin, habe ich insgesamt 34 Mercedes überholt, acht davon waren weiß. So auffällig ist das Auto also gar nicht.“

„Da, wo Sie hinfahren werden, Pfeffer, ist dieses Auto sehr auffällig, das verspreche ich Ihnen!“ Müller sah Pfeffer jetzt wieder direkt in die Augen, während dieser, nun doch wieder erheblich unsicherer geworden, fragte „Und wo bitteschön soll das sein?“

„Sie fahren in die DDR!“

Kapitel Drei
LABYRINTH

I.

Der düsterste Ort unseres Planeten war seit jeher und immer schon die Antarktis. Und wo es ewig nicht hell wird, da bleibt es meistens auch kalt. Bibber! Am 21. Juli 1983 wurde vor Ort dann folgerichtig von der sowjetischen Forschungsstation Wostok die Rekordmarke von 89,2 Grad Celsius unter Null gemessen. Weniger ist eben doch nicht mehr. Nun also ganz offiziell: der sowjetische Teil der Antarktis ist der dunkelste und kälteste Ort des gesamten Planeten. Das nennt man wohl eine klassische sozialistische Plan-Übererfüllung.

Aber bevor wir nun zurück in die Stube schlurfen, um uns an Omas Kachelofen zu kuscheln sei festgestellt: auch Zeitalter können düster sein. Und kalt. Auch hier: immer wieder thermales Fachvokabular. Politisches Klima. Hitzige Debatte. Heiße Zone. Frostige Beziehungen oder unterkühlte Gespräche. Beziehungen unter dem Gefrierpunkt. Das Verhältnis ist eisig. Und – wir hatten es bereits mehrfach erwähnt – na klar: Kalter Krieg! Verhältnisse auf Niedrigtemperatur auch zwischen einem Herrn Pfeffer und einem Herrn Weißmannichtgenau Müller, aber vor allem zwischen den Blöcken. Eiserner Vorhang lässt sich nicht buchstabieren, ohne dass das Wort Eis darin vorkommt. Auch Eiszeiten haben Brennpunkte. Hatten wir ja schon. Es wird gezündelt hier und da, aber das heißeste Pflaster überhaupt war nach wie vor die ehemalige gesamtdeutsche Hauptstadt Berlin. Jetzt nur noch Hauptstadt der DDR. Auf der einen Seite. Erster sozialistischer Staat auf deutschem Boden. Von hier aus in die Welt. Am deutschen Wesen soll die Welt genesen? Hat noch nie funktioniert. Ein Moloch aber auch auf der anderen Seite. Westen, puh! Und da? Die Stadt der Gescheiterten, der Tagträumer und Taugenichtse, der Flüchtige vor Kuhkaff oder Wehrdienst. Oder beidem. Ja, ja, David Bowie war wohl auch mal da, Kalter Kaffee. In den Himmel subventioniert vom Rest der BRD. Das bleibt wohl immer gleich. Aber auch dort: Fassade. Potjemkin. Glitzer und Glimmer, damit die Ossis sich mal schön die Augen aus den Köpfen gucken beim Blick über die Mauer. Projektionsfläche von Wahn und Wehmut. Sinn und Sehnsucht. Wanderer zwischen den Welten waren allerdings nur bis 1961 erlaubt. Dann gibt sich der Arbeiter- und Bauernstaat trennscharf und zugeknöpft. Maske runter, Mauer hoch. Nahtstelle zweier Mantelhälften von Vaterlands Rock. Die einen sagen: Antifaschistischer Schutzwall. Die anderen sagen: Provokation und Gefängnis. Die meisten sagen aber von jetzt an: Demarkationslinie. Und auf der Karte ein Spiegelstrich beider Blöcke. Der Scheitelpunkt, um den herum sich das Weltgeschehen von nun an abspielt.

„Deutsche schießen nicht auf Deutsche!“, hatte es geheißen. Was? Wer? Nein, nein, nicht jetzt. Damals war’s, beim Kapp-Putsch. 1920. Lange her, ja. Aber auch in Berlin angezettelt. Seither hatte sich einiges geändert. Maxime des Militärs auf beiden Seiten: Deutsche schießen nicht auf Deutsche, außer, wenn es wirklich wirklich sein muss. Die einen: im Ernstfall. Russische Panzer am Rhein? Lieber tot als rot! Die anderen: Mag sein, aber erstmal werden die eigenen Leute totgeschossen. An der Mauer. Uff. Üble Sache, das. Aber hilft ja nichts. Der Sozialismus behält sich das Recht vor, die Unverständigen notfalls zu ihrem Glück zu zwingen. Alle anderen: Pech gehabt! Na dann. Und während sich Müllerchen und Pfefferlein in einem weißen Mercedes-Cabriolet über Vor- und Nachteile von PKWs austauschten, war man im Westen schon lange umgestiegen vom Panzer auf den LKW. Heiter werden alle Mienen bei dem schönen Wort Verdienen! Hatte man aber auch im roten Deutschland verstanden, keine Sorge. Die neuntgrößte Volkswirtschaft der Welt hieß 1986: DDR! Na, da schau her. Und sowas beunruhigte den sogenannten Westen im Grunde mehr, als alle Panzer der Welt, galt doch die Devise, dass Alles links der Mitte sich stets nur damit beschäftigte, den Wohlstand zu verteilen, anstatt ihn zu erzeugen. Und da war noch mehr. Superlativ um Superlativ. Stasi zum Beispiel. Hieß eigentlich Ministerium für Staatssicherheit. Bei anderen: Grapsch- und Greifgesellschaft. Angestellte: 91.000. Informelle Mitarbeiter: 175.000. Nannte man auch Spitzel. Alle Geheimdienste der USA zusammen kamen nicht auf 100.000 und die Gestapo hatte gerade einmal 25.000 Schergen. Hahaha, lächerlich. Adolf wer?

 

Der hat’s schwer, der hat’s schwer, der Bürger in der DDR. Sollte man meinen. Die meisten aber konnten bei solchen Zahlen nur ihre Köpfe voller Scheren schütteln. Klapper Klapper. Ihr Interesse galt eher dem Alltäglichen. Mangelwirtschaft, marode Infrastruktur, technischer Rückstand. Den Sozialismus in seinem Lauf und so weiterkenntmanja. Mensch, Genosse, das ist schlimm. Hier hamse’n Minol-Pirol. Ach ja, danke. Kann aber auch keiner drauf rumkauen. Erst das Fressen, der Rest ist bekannt. Brecht war das und der musste es wissen. Hatte ja rübergemacht. Im Westen war das mit der Moral auch so eine Sache. Nur umgekehrt. Das sind die Keller, darauf die stolzen Schlösser der Tyrannen sich erheben und über denen man die Wohlgerüche ihrer Feste sich kräuseln sieht. Stankhöhlen grauenhafter Sorte darin auf alle Ewigkeit verworfenes Gelichter, sich an der Schändung der Menschenwürde und Menschenfreiheit schauerlich ergötzt.4 Auch Brecht? Im Gegenteil. Ernst Jünger. Der nu wieder. So schlimm war es dann aber auch wieder nicht. Wirtschaft lahmt, Wald mit Raucherlunge, Atomtod. Aber solange Oma ihr Gebiss noch umsonst bekam und der Mercedesstern hell strahlte, war eigentlich alles in bester Ordnung. Na ja, das mit dem Nuklearkrieg machte den Menschen wohl schon ein wenig Sorgen.

Ein Beispiel: Am ersten September 1983 kommt eine südkoreanische Boing 747 vom Kurs ab, leider über der Sowjetunion. Der Russe denkt nur: Bomber! Und schießt den Jumbo ab. 269 Tote. Das war ärgerlich für die KPdSU und es wurde eine umfängliche Entschuldigungstour fällig. Doch wer weiß, wer weiß ... Hätte es diesen Irrtum nicht gegeben und wäre dieser Abschuss nicht erfolgt – eine einzige Entscheidung, ein simpler Fingerzeig kann manchmal weitreichende Folgen haben. Denn, wie hieß er noch? Oh Mann, dass die Russen auch immer so schwierige Namen haben müssen. Da haben wir es: Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow hieß der Mann und war Oberstleutnant mit Finger am Knopf. Drei Wochen nach dem Abschuss des Jumbos blinkten bei Oberstleutnant Petrow dann alle Lämpchen und es hieß: Atomangriff, Raketen gestartet. Der Ami war verrückt geworden. Aber der Rotarmist bewahrte Nerven und trank erstmal einen Tee. Gut so. Waren nämlich keine Atomraketen. Waren Wolken. Genauer: Schäfchenwolken über Montana. Ähm ... ja, kann ja mal passieren.

Was sonst noch? Wir kramen in der Rumpelkiste. Nee, eigentlich nichts Besonderes. Vielleicht das: große Blamage für den STERN wegen gefälschter Tagebücher von einem, den sie mal Führer genannt hatten. War aber auch schnell wieder vergessen. Also die Tagebücher, nicht der Führer. Der reißt seine tausend Jahre wohl noch ab in den deutschen Stuben und Oberstübchen. 1982 dann der gewichtige Rheinländer, der einmal eine historische Figur werden sollte. Jetzt aber noch: Strickjacken und Pferdestreicheln in der Provinz. Birne wird er genannt. Das ärgert ihn. Den davor nannten sie Lotse. Viel besser. Darum: Ärmel hochkrempeln und anfangen, sich unbeliebt zu machen. Also Doppelbeschluss umsetzen. War zwar die Idee vom Lotsen, aber das trug man dem nicht lange nach. Unbeliebt wurde deswegen der Dicke. In der Zeitung stand: noch mehr Atomraketen in Deutschland. Dann von Drei runterzählen, Fenster auf und – ja – da schreien sie wieder. Der an den Galgen und Jener an den Galgen und die Amis sowieso. Kriegstreiber, die! Und im Osten? Gleichziehen. Sofort und auf jeden Fall! Puh, schon wieder nachrüsten. Das wird teuer. Aber bei so viel neuen Phallussen im Westen, da darf man keine Schwäche zeigen. Pershing II mit Stars & Stripes, SS20 mit Hammer und Sichel. Blick ins Portemonnaie: Auweia. Und der einzige Unterschied war, dass man im Westen zumindest dagegen sein konnte. Im Osten durfte man nur jubeln, das dafür reichlich und umso mehr! Hat aber auch nichts gebracht.

Am Ku’Damm steht da einer rum mit einem Schild in den Händen, auf dem steht „Kohl ist Scheiße!“ Muss ein Bekloppter sein, denken die Leute. Einfaltspinsel. Kopfschütteln. Einer macht ein Foto. Sieht aber japanisch aus. Der Polizist schlendert vorbei. Abends geht der Mann nach Hause und denkt: Wieder was für’n Frieden getan!

Auf dem Alex steht da einer rum mit einem Schild in den Händen, auf dem steht „Honi ist Scheiße!“ Sieht aber keiner, weil alle schnell woanders hingucken. Zwei Minuten später ist er weg und ward nie mehr gesehen. Kein Problem.

Echte Probleme aber haben die Wegschauer und -Sperrer mit erwähntem leeren Portemonnaie. Oh, Verzeihung. Geldbörse sagt man wohl, alles andere ist zu bourgeois! Atomwaffen sind nämlich kleine, freche Nimmersatte. Und während der Motor im Westen noch einigermaßen brummte, war der Tender im Osten bald leer und der Tutzug kam zum Stehen. Das war dann ein echter Nachteil der Planwirtschaft und man munkelte in Politbüros und Zentralkomitees, dass das mit der neuntgrößten Wirtschaftsmacht der Welt eher nicht der Fall war. Und der große Bruder UdSSR? Auch Ebbe in der Kasse. Aber psst, nicht weitersagen, Genosse! Und weil das alles noch nicht schlimm genug war, musste man sich nun auch noch von den dickbäuchigen Baronen aus dem Westen unter die Arme greifen lassen. Geld pumpen. Es war eine Schande. In der Zeitung stand dann: Milliardenkredit. Und: Zugeständnisse. Reiseerleichterung. Passierscheinabkommen. Verramscht die ganzen Ideale für ein paar Groschen aus den tiefen Taschen vom Franz Joseph. Und als das auch alles nichts half, schlug der neue Generalsekretär der KPdSU, Michail Gorbatschow, dem amerikanischen Präsidenten vor, man könne sich ja mal treffen. Atomwaffen? Nee, wollen wir eigentlich gar nicht mehr haben. Und Ihr? Geht doch um den Frieden. Und als Sahnehäubchen gab es Glasnost und Perestroika gleich noch mit dazu. Wenn das kein Angebot ist. Pleite? I wo, kein Stück. Reaktorunglück in Tscherno-wobitteschön? Na besten Dank auch. Aber bei Euch stürzen die Raumschiffe ab!

Konnte ja nicht lange gut gehen. In der DDR herrschte über diese neuen Töne vom großen Bruder aus Moskau denn auch so gar kein eitel Sonnenschein, hier beschloss man einen anderen Weg zu gehen. Transatlantik? Bäh, wie das schon klang. Am besten auch gleich verbieten. Und was dann? Die Befugnisse der Staatssicherheit wurden ausgebaut, nochmal. Die Mauer wurde verstärkt, erhöht, erweitert, die Grenzanlagen modernisiert und das Thermostat für zwischenstaatliche Beziehungen wieder bis zum Anschlag heruntergedreht. Allein das Geld, vom Onkel Franz Joseph in Milliardenhöhe überwiesen, das nahm man dann doch ganz gern. Und nur wenige Wochen bevor unser um Fassung ringender Rick Pfeffer erst einmal verdauen musste, dass er sich nunmehr in den Schlund des Wales zu begeben hatte, fand 400 Kilometer entfernt von ihm, streng abgeschirmt in der Normannestraße am östlichen Rande Berlins ein eilig anberaumtes Treffen mehrerer untersetzter grauer Herren statt, die Wichtiges zu erörtern hatten. Und da die urdeutsche und an Neurose grenzende Angewohnheit, vom in der Wanne gelassenen Furz bis hin zum Tischgespräch im Führerbunker alles zu protokollieren im Osten des in zwei Teile gespaltenen Deutschland in ganz besonderer Weise beliebt war, ergibt sich für uns die Gelegenheit, nun mit diesen Herren gemeinsam an einem Tisch zu sitzen, um der sogenannten Großen Lage beizuwohnen. Also schön die Lauscher aufgestellt.

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