Der Flügelschlag des Zitronenfalters

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„Scheiße“, sagte er, denn vor ihm stand die Witwe. Nur, dass sie jetzt gar nicht mehr traurig wirkte, sondern eher rasend vor Wut. Neben ihr standen außerdem der Fettsack von vorhin sowie einige andere Männer. Und es wurden zusehends mehr. Über ihre Schultern hinweg erkannte Pfeffer, dass sich im Saal Unruhe breit zu machen begann. Er wollte etwas sagen, irgendetwas, aber er brachte einfach nichts heraus. Schließlich war es die Witwe, die sich allerdings an die unbekannte Schönheit wandte und nun endlich das Schweigen brach. Jetzt weinte sie wieder, während sie die andere anschrie. „Wie kannst Du nur!“ Sie ohrfeigte die Unbekannte. Und noch mal „Wie kannst Du nur! Michaela, wirklich!“

„Aha“, dachte Pfeffer, „Michaela also!“

Aber die Witwe war noch nicht fertig.

„Dein Vater ist noch nicht mal eine Stunde unter der Erde. Und Du ... Du machst hier so was. Vor all den Leuten!“

Au Backe! Das konnte auch nur einem Rick Pfeffer passieren.

„Du bist Rebschlägers Tochter. Warum hast Du denn nicht bei den anderen in der ersten Reihe gesessen?“, entfuhr es ihm vor lauter Erstaunen in einer ähnlichen Lautstärke, wie jene, in der zuvor die Witwe geklagt hatte.

Die Frau, die nun Michaela hieß, patzte in einem Tonfall, der wohl eher ihrer Mutter galt: „Weil mich die ganze Scheiß-Familie am Arsch lecken kann!“, woraufhin sie sich noch eine schallende Ohrfeige von der Witwe einfing. Dies blieb jedoch beinahe unbemerkt, hatte sich doch die Aufmerksamkeit der umherstehenden Menge nach ihrem Ausruf Pfeffer zugewandt. Der Dicke machte den Anfang. Er konnte also doch sprechen.

„Ich glaube, Sie sollten hier mal schön die Schnauze halten und zusehen, dass Sie Land gewinnen. So eine verlogene Sau! Erst übern Jupp so rumschwafeln und ne halbe Stunde später fällt er über seine Tochter her!“ Und bei diesen wenigen Sätzen hatte sich der Dicke so in Rage geredet, dass er nicht mehr zu bremsen war. Sein ganzer beleibter Körper schien ihm Schwung zu verleihen als er ausholte und Pfeffer mitten eins in die Schnauze haute. Peng, voll auf die Zwölf. Das Nasenbein war hin, soviel war sicher. In Sekunden schossen ihm Tränen in die Augen und beraubten ihn abermals der Sehkraft. Außerdem sah er tatsächlich Sterne. Wer hätte das gedacht. Die Brille? Knirsch, Knack und nicht mehr zu gebrauchen.

„Heinz!“, herrschte die Witwe den Dicken an „jetzt mach das alles nicht noch schlimmer!“ Sie packte Pfeffer am Arm und sprach ihm direkt ins Ohr. „Und Sie verschwinden jetzt hier. Sofort. Und eins können Sie sich merken: das hier wird für Sie ein Nachspiel haben!“

Das hatte es.

Er hatte der Witwe nicht widersprochen und zugesehen, dass er möglichst schnell möglichst viele Kilometer zwischen sich und die Bauernkate brachte. Handschuhfach, Reservebrille, Vollgas. „Mann, Mann, Mann, da habe ich ja schön was angerichtet!“, sagte er im Auto zu sich selbst. Je weiter allerdings die zurückliegende Entfernung maß, die hinter ihm lag, desto mehr amüsierte ihn die ganze Angelegenheit. „Die Tochter. Ich hab’ echt die Tochter auf der Beerdigung von Ihrem Alten ... oh Mann!“ Und als er zu Hause ankam, war er bereits in ein herzerwärmendes Gelächter verfallen. Nur die Nase, die tat noch immer weh!

Das mit dem Gelächter änderte sich, als er am nächsten Morgen, noch bevor er sich anziehen konnte, einen Anruf aus dem Beerdigungsinstitut erhielt, in welchem der Inhaber ihm mitteilte, dass man sich aufgrund der Vorkommnisse bei der Bestattung Joseph Rebschlägers von ihm trennen müsse. Es tue ihm leid, aber sicher verstehe Pfeffer, dass gerade in einer emotional so intensiv aufgeladenen Branche ein solches Vorgehen nicht entschuldbar war. Wieder stellte der Inhaber keine unangenehmen Fragen und teilte Pfeffer alles in sachlichem und teilnahmslosem Duktus mit. Dann legte er auf. Pfeffer war nun auf einmal doch ziemlich konsterniert. Der Job war ihm völlig egal, aber was würde Müller machen, wenn er davon erfahren würde. Und er würde davon erfahren, da war sich Pfeffer ganz sicher. Wenn ein Geheimdienst eine Sache konnte, dann Dinge erfahren. Da machte denen keiner was vor. Und dann? Was wäre dann? Müsste er das Geld zurückzahlen? Würde Müller streng zu ihm sein? Eigentlich konnte er doch gar nichts dafür. Er war hier das Opfer! Diese Frau, Michaela, hatte ihn doch quasi abgeschleppt. Und dann hatte er auch noch eins auf die Nase bekommen. Obwohl das Nasenbein dann doch nicht gebrochen war, dafür aber in schönstem grün und violett schimmerte. Zugegeben, er hatte sich hinreißen lassen, aber wie es aussah, war er da doch in so etwas wie eine Familienfehde reingezogen worden. Außerdem hatte der Fette ihm – wie gesagt – einen ganz schönen Schwinger verpasst. Ob man dafür eigentlich Schmerzensgeld einklagen könnte? Und überhaupt: er hatte seiner Frau deswegen eine ganz schöne Räuberpistole auftischen müssen, damit sie nicht misstrauisch wurde. Was konnte er denn schon dafür? Er hatte seinen Job wahrscheinlich einfach mal wieder viel zu gut gemacht. Genau wie damals in Bremen.

Da er ja nun frei für heute hatte, ließ er das im Hausflur stehende Telefon zurück, um erst einmal ganz in Ruhe zu frühstücken. Danach würde er dann überlegen, was zu tun war. Wahrscheinlich sollte er Müller alles ganz sachlich erzählen. Von Mann zu Mann. Der würde schon Verständnis haben. Er ging vor die Haustür zum Postkasten, um die Morgenzeitung zu holen, das Weser-Land-Blatt natürlich, welches so drastisch an Qualität verloren hatte, seit er nicht mehr das Ruder in der Hand hielt. Neben der Zeitung allerdings lag ein einzelner Zettel, auf welchem nur stand:

„Sattelschlepper, 19:00 Uhr. HEUTE! H.M.“

„Das ist nicht gut.“ Sagte Pfeffer leise. Nun wurde ihm doch ein wenig flau.

V.

Im Sattelschlepper kam er pünktlich wie der sprichwörtliche Maurer an und bestellte diesmal einen Kaffee, obwohl er sich dereinst geschworen hatte, niemals nach 15:00 Uhr noch Kaffee zu trinken. Es machte ihn unruhig, und manchmal konnte er dann die ganze Nacht nicht schlafen. Außerdem schwitzte er auch so schon genug. Da er aber ohnehin schon unruhig und völlig durchgeschwitzt war und weil er außerdem nüchtern sein wollte, wenn er sich mit Oberleutnant Müller traf, verstieß er nun ausnahmsweise gegen seine Gewohnheiten. Er trank seinen Kaffee und bemerkte, dass er zitterte. Folge der Aufregung, dachte er sich. Oder des Alkoholismus. Oder beides. Oder etwas ganz anderes, von dem er lieber nichts wissen wollte. Er hatte andere Sorgen, da musste alles weitere hinten anstehen. Was würde er Müller sagen? Oder würde der ihn gar nicht reden lassen? Würde er wütend sein? Bestimmt würde er wütend sein! Es war noch gar nichts passiert und Pfeffer hatte schon die allererste Geschichte voll in den Sand gesetzt, weil er einfach nicht die Hose zulassen konnte. Oh Mann. Müller allerdings ließ erst einmal auf sich warten, was wiederum die Anspannung in Pfeffer noch vergrößerte. Tick-Tack-Tick-Tack machten die Zeiger seiner Armbanduhr und es kam ihm vor als würde sie bereits anfangen, rückwärts zu gehen, da kam der verspätete Agent endlich durch die Tür. Zwanzig Minuten nach der Zeit, das hätte er sich mal erlauben sollen. Pah. Und sowas ist ein Staatsdiener. Wahrscheinlich A13 oder sogar höher, dieser ... Pfeffer ärgerte sich, da fiel ihm ein, dass er gerade eben noch eher ängstlich gewesen war. Wieso noch gleich? Ach ja, wegen dieser anderen Sache. Also die Flak wieder heruntergekurbelt und Hundeblick aufgesetzt. Mit diesem sah er nun Oberleutnant Hans Müller zu, wie er sich langsam dem Tisch näherte und – Überraschung, Überraschung – so gar nicht aufgebracht oder missgünstig wirkte. Er lächelte sogar. Freundlich? Ja, ja, freundlich. Ganz der Konfident trug er exakt dieselbe Kleidung wie bei ihrem vorherigen Treffen, als er zu Pfeffer an den Tisch trat (das war ebenfalls derselbe wie beim letzten Mal), Mantel und Hut ablegte und sich zu ihm setzte. Keine Begrüßung, kein Händeschütteln. Gleich in die Vollen.

„Na Pfeffer, da haben Sie aber ordentlich die Sau rausgelassen. Mann, Mann, Mann, und das auf einer Beerdigung, alle Achtung!“ Er winkte die Kellnerin heran und bestellte ein Glas Wasser ohne Sprudel.

„Ich..“ Pfeffer wusste nicht so recht, was er sagen sollte. Irgendwie war sein Gesprächskonzept durch Müllers Heiterkeit völlig implodiert. „Ich ... Es tut mir leid, ich glaube, das habe ich wirklich verbockt, so wie es aussieht.“

„Machen Sie sich nicht in die Hose, Pfeffer. Wir sind deswegen nicht böse auf Sie. Wir sind ja schließlich auch alle nur Männer. Ich habe mir die Kleine übrigens angesehen, gar nicht so schlecht!“ Er zwinkerte anerkennend.

„Angesehen? Waren Sie da?“ Pfeffer war irritiert.

„Natürlich nicht, was soll ich denn auf der Beerdigung von einem völlig Fremden? Nein, Michaela Rebschläger hat eine Akte beim Verfassungsschutz. Nichts Weltbewegendes, ein bisschen roter Brigantismus. Ist einmal bei einer Demo gegen den Doppelbeschluss verhaftet worden, weil Sie einen Polizisten als Fascho-Schwein beschimpft und angespuckt hat. Ich glaube, das ist aber eher so ein familiäres Ding. Opa Rebschläger war nämlich in der Partei.“ Müller bekam jetzt sein Wasser.

„CDU?“, fragte Pfeffer ungläubig.

„NSDAP, Sie Idiot! Vierstellige Mitgliedsnummer, das will schon was heißen. Hat aber nach dem Krieg irgendwie einen Persilschein bekommen und dann, na ja, das Übliche halt.“

Pfeffer war erleichtert und überlegte, ob er jetzt nicht doch ein Bier bestellen sollte. Müller hingegen sprach weiter.

„Entschuldigen Sie übrigens, dass ich mich ein wenig verspätet habe, heute ist der Teufel los. Ich habe auch nicht allzu lange Zeit, deswegen lassen Sie uns gleich zum Punkt kommen.“ Er schlürfte einen Schluck aus dem Wasserglas und man sah im den Ärger deutlich an, als er feststellte, dass die Bedienung ihm nun doch karbonisiertes Wasser gebracht hatte.

 

„Also Pfeffer, das mit dem Beerdigungsinstitut ist natürlich eher unschön, aber was soll’s. Wir hätten Sie da jetzt wahrscheinlich ohnehin abgezogen. Es hat sich nämlich spontan etwas anderes ergeben.“

„Etwas anderes?“

„Etwas anderes. Genau. Ich kann Ihnen noch keine weiteren Details geben, wir sind sozusagen noch in der Planung, aber Sie sollten schon mal wissen, dass Sie sich bereit zu halten haben. Von daher war es gut, dass Sie noch mal die Sau raus gelassen haben, mein Lieber. Ab jetzt sollten Sie nämlich auf Ausfälle vorübergehend verzichten.“

„Sie sind hergekommen, um mir das zu sagen?“, beinahe war Pfeffer empört. Müller entging dies nicht und er reagierte mit väterlichem Ernst.

„Nein, ich bin hergekommen, um Ihnen dienstliche Anweisungen zu geben.“ Er machte eine kurze Pause. „Sie werden uns einen Gefallen tun. Nicht Großes, aber da Sie zum ersten Mal richtig aktiv werden, sollten Sie ein paar Dinge beachten. Erstens: Sie machen eine Woche Urlaub und erholen sich vernünftig. Allein! Kein Alkohol, keine Weibergeschichten, haben Sie das verstanden? Am besten, Sie fahren irgendwo an die Nordsee und lassen mal die Seele baumeln. Amrum soll doch schön sein. Außerdem sollten Sie zum Arzt gehen und sich einmal komplett durchchecken lassen. Blutbild, EKG, das volle Programm. Wir können niemanden gebrauchen, der mit heißem Gepäck an der Grenze einen Herzkasper bekommt. Drittens ...“

Einen Moment mal. Hatte er gerade? Ja, er hatte gerade!

„Wie, was? An der Grenze? An welcher Grenze? Was soll das heißen?“ Pfeffer war sichtlich erschrocken.

„Grenze?“, fragte Müller streng, „kein Mensch hat hier was von Grenze gesagt, Pfeffer. Also, drittens: Sie kaufen sich einen vernünftigen Anzug und ein anderes Auto. Und dann sehen wir uns in anderthalb Wochen wieder. Aber nicht hier, wir waren jetzt schon zu oft hier.“

Und Schwups war das Wort Grenze von seinem Kurzzeit- ins Langzeitgedächtnis gewandert und dort geendlagert. Auto? Neu? Was für eine Unverschämtheit!

„Wieso denn ein anderes Auto? Was ist denn mit meinem nicht in Ordnung?“ Richard genannt Rick Pfeffer brauchte die Empörung nicht zu spielen, sie kam aus der Tiefe seiner Seele.

„Sie sollen Ihr Auto ja nicht verkaufen. Aber Sie brauchen ein Fahrzeug, das, na ja, das ein bisschen weniger auffällig ist.“ Müller versuchte sanft zu klingen.

„Ich kann mir aber kein zweites Auto leisten.“ Pfeffers Protest klang schon wieder ab, aber die Empörung war geblieben.

„Machen Sie sich darüber mal keine Sorgen. Sie haben doch schon Geld von uns bekommen. Fünftausend, wenn ich nicht irre.“

Empörung weg. Hallo Scham, alter Freund!

„Das ähm ...“ Stammel, stammel. „Ich habe das schon alles ausgegeben.“

„Ausgegeben?“ Müller klang nicht überrascht.

„Eher investiert, würde ich sagen. Also, das war so eine ganz verrückte Sache ...“

„Mir ist es egal, wofür Sie Ihr Geld ausgeben, Pfeffer. Sie werden dieselbe Summe noch einmal erhalten. Versprechen Sie mir nur, dass Sie sich davon angemessene Kleidung und einen normalen“, er machte in der Luft mit den Fingern Anführungszeichen „PKW kaufen. Haben Sie sonst noch Verbindlichkeiten, die Sie begleichen müssen?“

„Nein, nichts“, log Pfeffer.

„Dann ist es ja gut. Also: Sie gehen zum Arzt, Sie entspannen sich, und Sie sorgen für ein unauffälliges Äußeres. Und das alles in den nächsten zehn Tagen. Haben Sie das verstanden, Pfeffer?“

„Völlig verstanden“, sagte Pfeffer tonvoll und nun wieder selbstsicher.

„Wirklich? Keine Affären. Keine Exzesse. Kein Casino. Wenn Sie glauben, dass Sie das nicht durchhalten, dann sagen Sie es lieber jetzt gleich.“

„Ich fahre ans Meer und mache eine Saftkur oder was auch immer. Zufrieden?“

„Gut. Ich werde Sie rechtzeitig informieren, wo und wann wir uns treffen. Sie kümmern sich um alles, wie besprochen. Und Pfeffer:“, er hob jetzt den Zeigefinger vor die Brust „Nochmal, Pfeffer: keine Eskapaden bis dahin. Das meine ich wirklich ernst. Und vergessen Sie nicht: wir beobachten Sie!“

Oberleutnant Hans Müller trank sein Glas aus, stand auf, zog Mantel und Hut wieder an und verabschiedete sich mit einer förmlichen Herzlichkeit von Pfeffer. Noch schnell – klingeling – Zwei Mark für das Wasser auf den Tisch gelegt, dann ging er zur Tür hinaus und war weg. Rick Pfeffer blieb wie zurückgelassen auf seinem Platz sitzen und wusste, dass er sich in diesem Moment über alles Mögliche Gedanken machen sollte. Hatte Müller nicht Grenze gesagt? Und was sollte das für ein Gefallen sein, den er ihm tun sollte? Den er dem BND tun sollte? War es gefährlich? Ja, ja, über all das hätte er sich Gedanken machen sollen. Machte er aber nicht. Richard genannt Rick Pfeffer machte sich Gedanken über die Zahl Fünftausend und er machte sich Gedanken darüber, was er mit so viel Geld so alles anstellen könnte.

Den Auftrag aber, welchen Müller ihm gegeben hatte, diesen Auftrag nahm er sehr ernst. Reisepläne. Seiner Frau erzählte Pfeffer, die CDU habe ihn nach Kiel gebeten, dort sei ja bald Wahlkampf und man wollte seine Meinung zu ein paar Dingen hören. Inoffiziell versteht sich, um keinen unnötigen Staub aufzuwirbeln. Tuschel, Tuschel, Decke drüber. Aber da ein Experte wie er nun mal gefragt sei in diesen Zeiten und es ja außerdem um Deutschland ginge, hätte er nicht Nein sagen können. Darüber hinaus würden die für alles sorgen, ihn sogar mit dem Taxi direkt vor der Tür abholen lassen, eine Woche Vollpension Fünf Sterne, dazu Getränke frei und so weiter. Staatsfinanzen, Budget, Geld spielt keine Rolle. Man kennt das ja. Steuergelder, ja na klar, aber was wäre wenn die Roten? Da wollen wir lieber mal gar nicht dran denken. Seine Frau hatte nur genickt und ihm wahrscheinlich kein Wort geglaubt, aber wenn er ehrlich war, war es Pfeffer eigentlich auch gleichgültig.

Ein Taxi holte ihn dann aber tatsächlich ab, der restliche Reiseplan wich von der offiziellen Ehegeschichte jedoch erheblich ab. Der echte Plan sah vor, zunächst zum Bahnhof zu fahren, dann den Zug nach Hamburg zu nehmen, von dort weiter – ebenfalls per Bundesbahn – nach Flensburg, von wo aus wiederum ein Zug über Niebüll und den Hindenburgdamm nach Sylt ging. Hier wieder ein Taxi bis nach List ganz im Norden der Insel und dann mit der Fähre rüber nach Rømø, die dänische Insel, auf der Pfeffer für eine Woche ein kleines Ferienhaus direkt am Strand gemietet hatte. Dort wollte er dann auch ein Auto kaufen, mit dem er später zurück nach Deutschland fahren würde. EG, EWG, barrierefrei, innereuropäisches Grenzregime, alles kein Problem. Auf dem Rückweg würde er dann in Flensburg halten, wo er bereits einen Termin zur „Allgemeinen ärztlichen Untersuchung“, vereinbart hatte, für den er, ganz der Lebemann, als Grund angegeben hatte, er wolle eine Lebensversicherung in nicht unbeträchtlicher Höhe abschließen und bräuchte dafür ein ärztliches Zeugnis. Er hatte sich überlegt, diese Untersuchung lieber nicht in Bremen machen zu lassen. Die Hälfte der Ärzte dort wusste nämlich um seinen zweifelhaften Lebenswandel, und die andere Hälfte hatte ihn deswegen schon krankschreiben müssen, wenn er wieder mal einen seiner großen Abstürze hatte. Weil es ihm aber jedes Mal in Nachhinein peinlich war, wenn er völlig zerknittert nach einer langen Nacht beim Arzt erscheinen musste, hatte er die Praxen immer alterierend gewechselt, so dass er nach einigen Jahren medizinisch nirgendwo mehr ein unbeschriebenes Blatt sein konnte. Ach ja, der Pfeffer. Na, wieder Genosse Vollski getroffen? Ja, ja, können mich alle am Arsch lecken. Aber hin zu diesen Ärzten, um sich durchchecken zu lassen – das ging dann doch zu weit. Der Trost war immerhin, dass es ja nie wirkliche Krankheiten waren, weswegen er sich hatte arbeitsunfähig schreiben lassen. Er konnte morgens nur einfach die Augen nicht aufkriegen und fuhr mächtig Karussell. Wie sollte man denn auch in einem solchen Zustand arbeiten? Also gelben Schein her, Du Quacksalber! Wie auch immer, er hatte jedenfalls keinen Grund, sich wegen der nun anstehenden Untersuchung in Flensburg Gedanken zu machen.

Die Woche auf der dänischen Insel verbrachte er tatsächlich in völliger Ruhe und Abgeschiedenheit. Er hatte sich einige Bücher eingepackt, zweimal Konsalik, zweimal Brecht, da er meinte, beide Seiten der Waage müssten gleich gefüllt sein. Er verbrachte die Tage ohne einen Tropfen Alkohol, nicht einmal seinen kleinen Flachmann, der ihm über die Jahre ein treuer Weggefährte geworden war, hatte er dabei. Und an etwaige Eskapaden war auf dem verlassenen Eiland sowieso nicht zu denken. Schon nach wenigen Tagen stellte Rick Pfeffer fest, dass er sich so gut fühlte, wie schon lange nicht mehr. Die Bücher hatte er nach wenigen Tagen ausgelesen, er war völlig klar und fühlte sich so frisch wie der Wind, der ihm bei seinen morgendlichen Strandspaziergängen um die Nase wehte. „Der Müller weiß, wovon er redet“, sagte er ein ums andere Mal zu sich und verspürte dabei eine ehrliche innere Dankbarkeit für diesen Aufenthalt. Als die Woche vergangen war, fühlte er sich wie neugeboren. Wie einmal runderneuert. Hallo. Ebenfalls Hallo. Was darf’s denn sein? Lohnt eine Generalinspektion noch? Ist ein älteres Modell. Ja, sie lohnte noch und er war in herausragender Form, als er seinen Urlaub beendete und die Heimreise antrat. Jetzt machte er sich noch weniger Gedanken wegen des Arzttermins und erwog sogar, ihn gänzlich abzusagen. Ginge schon. Andererseits: Befehl war nun einmal Befehl. Und er konnte es gleichzeitig als Möglichkeit nutzen, bei Müller endlich einmal zu punkten. Hier, Herr Oberleutnant. Kerngesund und alles erledigt. Toll gemacht! Oder so ähnlich. Jetzt musste nur noch ein Auto her, und dieser vermeintlich leichte Teil des Plans erwies sich als der erheblich schwierigere. Auf der ganzen Insel gab es keinen Autohändler und von Privat hätte er nicht kaufen können wegen der Zulassung, der Nummernschilder und so weiter. Also musste er noch einmal Geld tauschen, eine Zugverbindung nach Flensburg auskundschaften und dort zuschlagen. Das ärgerte ihn. Nicht, weil er Zeit und Geld verlor, sondern, weil er nicht daran gedacht hatte, zu überprüfen, ob es überhaupt einen Autohändler vor Ort gab. Grimmig nahm er die Bahn nach Flensburg, stieg am Bahnhof aus, suchte sich ein Taxi und ließ sich zum erstbesten Gebrauchtwagenhändler der Stadt fahren, wo er schließlich doch noch sein Auto finden sollte. Und es musste natürlich ein Mercedes sein. Er kaufte einen 77er Mercedes 350SL. Der war zwar zehn Jahre alt und ziemlich kaputt, aber bei einem Mercedes-Cabriolet, das über 200 fährt und nur viertausend Mark kostet, konnte man schließlich nicht viel verkehrt machen. Außerdem war das Auto weiß, und wenn schon nicht Gold, so dachte sich Pfeffer, sollte es wenigstens weiß sein.

„Coupe wäre auch nicht schlecht gewesen, aber was soll’s! Nette Kabriolette!“ Er war zufrieden mit seinem Kauf und das Auto machte schon nach wenigen Sekunden richtig Spaß. So, nun aber weiter. Es gab schließlich noch viel zu tun.

VI.

Er hatte sich die Adresse der Klinik aufgeschrieben und fuhr nun erst zur Tankstelle und dann quer durch die Stadt, bis er auf einem großen Parkplatz vor dem geklinkerten achtstöckigen Gebäude seinen neuen Mercedes abstellte.

Richard genannt Rick Pfeffer musste einige Zeit suchen, aber schließlich fand er in dem verschlungenen Gebäude endlich eine Art Rezeption, von wo aus man ihn an die Innere Medizin verwies. Auch diese fand er nach einiger Zeit und meldete sich ordnungsgemäß bei einer der Schwestern an.

„Guten Tag schöne Frau, ich begrüße Sie.“ Pfeffer ließ seinen bekannten Charme spielen.

„Ich grüße Sie auch“, sagte die Schwester lächelnd. „Kann ich etwas für Sie tun?“

Pfeffer überlegte kurz, ob er dies mit einer schlüpfrigen Geste bejahen sollte, entschied sich aber, seriös zu bleiben. Dienst ist schließlich Dienst und Schnaps Schnaps.

„Ich befürchte nicht“, sagte er mit in Falten gelegter Stirn. „Ich habe einen Termin beim Doktor. Um 14 Uhr, zum Durchchecken, wegen meiner Lebensversicherung, wissen Sie. Pfeffer, Richard Pfeffer. Aber sagen Sie ruhig Rick.“

Die Schwester schlug einen Terminkalender mit biblischen Ausmaßen auf und fuhr mit dem Finger die Eintragungen ab, schaute dabei mäßig angestrengt und sagte schließlich „Hier haben wir Sie, Herr Pfeffer. Und pünktlich ist er auch noch. Na, dann kommen Sie mal mit.“ Noch während sie sprach, war Sie ihm schon einen Schritt voraus und Rick Pfeffer ging direkt hinter ihr her. Folgsam und brav. Eigentlich wie ein Labrador. Nur dass er nicht an Ihrem Hinterteil schnüffelte. Obwohl ... Husch, weg mit diesen Gedanken! Er stellte fest, dass das Inselleben endgültig vorbei war und sagte Guten Tag zu den Schlüsselreizen der Zivilisation. Verdammt auch! Aber eins nach dem anderen. Sie gingen einen endlosen, leeren Gang hinunter, der sich scheinbar über die ganze Etage zog. Pfeffer kam es vor, als sei eine Ewigkeit vergangen, als sie endlich vor einer Tür standen und die Schwester diese öffnete.

 

„Nehmen Sie schon mal Platz, Herr Pfeffer. Dr. Bartholdy kommt dann gleich für die Anamnese zu Ihnen.“

Sie hielt ihm die Tür auf, während er sich bedankte und eintrat. Er fand sich allerdings nicht in einem Behandlungszimmer wieder, wie er es erwartet hatte. Offenbar war dies das Büro des besagten Dr. Bartholdy und offenbar hatte dieser Geschmack. Der Raum war stilvoll eingerichtet, wobei sich das klinische Weiß harmonisch ins Lichtgrau der Möbel mischte. Hell alles. Strahlend und einnehmend. Zentrum des Raumes war ein asketischer, ebenfalls weißer Schreibtisch, hinter welchem ein teuer aussehender Ledersessel geparkt war. Davor – ebenfalls mit Leder bezogen – zwei Stühle, deren Design an Clubsessel angelehnt war, deren Größe und Schwung jedoch die Hierarchie in dem Ensemble deutlich unterstrichen. An den Wänden hingen neben verschiedenen Diplomen auch die Approbationsurkunde, das Promotionszeugnis und die amtliche Urkunde zum bestellten Amtsarzt. Vor den Fenstern, in geräumigen Abständen, standen getopfte Pflanzen, die Pfeffer noch nie zuvor gesehen hatte. Waren die echt? Mit zwei Fingerspitzen an die Blüte gegrapscht. Echt. Jawohl. Und nun kaputt. So ein Mist. Er rupfte das beschädigte Blütenblatt heraus und ließ es in seiner Hosentasche verschwinden. Was noch? Alle Sinne waren im Suchmodus. Er stand vor dem Schreibtisch und wollte sich gerade setzen, dann entschied er sich aber doch dazu, die Entdeckungsreise durch das Büro fortzusetzen.

Musste wohl ein doller Typ sein, dieser Doktor. Mann, Mann, Mann, da muss man schon sagen. Und überhaupt. Zu seiner Linken fiel ihm eine Tür auf. Untersuchungsraum war darauf zu lesen. „Aha, da drin geht’s dann gleich zur Sache mit mir und dem Doktor“, dachte Pfeffer und hatte pubertäre Doppeldeutigkeiten völlig ausgeblendet. Er war viel zu sehr mit Sehen beschäftigt. Genauer: Staunen. Ehrlicher: Neiden. Zu seiner Linken erstreckte sich über beinahe die ganze Länge des Raumes ein in der Konstruktion schlichtes Bücherregal. Auch wieder weiß. Nur die Bücher darin, die meisten in einem Ledereinband, brachten Farbe und eine gewisse Asymmetrie in dieses geometrische Gesamtkonstrukt, das vom Boden bis unter die Decke reichte. Er ging zu dem Regal und las die Namen der Autoren auf den Buchrücken. Er kannte keinen davon.

Dann aber plötzlich: „Hah! Caesar! Kenn’ ich!“, er hatte dies laut gesagt und in seiner Stimme schwang ein gewisser Triumph mit, verlieh es ihm doch endlich mal ein bisschen Ebenbürtigkeit in diesem Raum. Er zog das Buch aus dem Regal, schlug die erste Seite auf und las. „Gallia est omnis divisa in partes tres, quarum unam incolunt Belgae..“, weiter kam er nicht.

„Mist“, dachte er sich, „Latein!“, und stellte das Buch wieder zurück in das Regal, wobei er sich beinahe ebenso peinlich ertappt fühlte wie damals beim doppelten Bernd bezüglich seines nicht vorhandenen Hebraeicums.

Er suchte weiter die Buchrücken ab. „Cicero! Der aber!“, doch dann wieder: „Si quis vestrum, iudices, aut eorum qui adsunt, forte miratur me ...“ „Verdammt noch mal, auch Latein“, sagte er, stellte auch dieses Buch zurück und suchte nun umso akribischer. Er fuhr die Buchrücken der Reihe nach mit dem Finger ab und wurde fündig.

„Thomas Mann! Na also! Der wird jawohl wenigstens noch deutsch schreiben, oder was!“ Er nahm das Buch heraus und las den Titel „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“. Huch. Was war das denn? Irgendwie fühlte er sich schon wieder ertappt, obwohl er gar nicht genau wusste, warum. Er kannte das Buch nicht, beschloss aber, es irgendwann zu lesen und stellte es sorgsam zurück. In diesem Moment öffnete sich vorwarnungslos die Tür und ein Mann trat ein. Pfeffer war sich aus zwei Gründen sofort sicher, dass es jener Mann sein musste, dem der Sessel auf der anderen Seite des Schreibtisches gehörte. Erstens und ganz banal: wer sollte es sonst sein. Aber zweitens: Herein kam ein Mann, etwa seine Größe, ein wenig jünger vielleicht, aber mit einer deutlichen Präsenz. Vielleicht Charisma? Bestimmt Charisma. Passte auf jeden Fall zum Büro, der Typ. Er hatte eine schmalgliedrige Statur, fast ein wenig leptosom, leicht schütteres Haar und durch die feine, randlose Brille traf Pfeffer ein wacher Blick. Der weiße Kittel mit dem Pieper und den vielen Stiften war natürlich beeindruckend und Pfeffer merkte, wie er sofort Haltung annahm.

„Na, haben Sie etwas Interessantes gefunden?“, sprach ihn der Arzt nun jovial an, während er auf ihn zuging und ihm die Hand reichte.

„Ich verstehe nicht, ich ...“ Pfeffer fühlte sich schon wieder ertappt.

„Na, die Bücher! Haben Sie was gefunden, das Sie interessiert?“, er war mittlerweile ganz nah und schüttelte ihm die Hand.

„Bartholdy, Clemens Bartholdy, angenehm“, sagte der Arzt und ohne, dass er überlegte, entfuhr es Pfeffer:

„Sind Sie kein Doktor?“

Der Arzt musste lachen.

„Ich bin sogar Doktor Doktor! Aber das können Sie ruhig weglassen, das sind nur Titel.“

Jetzt holte Pfeffer seinerseits die Begrüßung nach.

„Pfeffer. Rick, also Richard Pfeffer. Freut mich auch, Herr Doktor, sehr angenehm. Ich habe das wegen der Lebensversicherung, also, ich muss ... Was ich meine ist: Dass Sie überhaupt noch so einen einfachen Check-Up für mich machen, das ist aber aller Ehren wert, Herr Doktor. Oder sagt man Herr Doktor Doktor? Also, ich, ich bitte um Entschuldigung.“ Pfeffer merkte plötzlich, dass er versuchte, dem Arzt zu schmeicheln. Das war ihm peinlich. Und auch sein Gestammel.

„Ach was, hören Sie auf. Auch der Zimmermannsmeister muss ab und an mal wieder einen Nagel durch den Balken treiben, nicht? Sonst verlernt er noch am Ende sein Gewerk! Wie sagten Sie, heißen Sie gleich noch?“ Er besah das Klemmbrett, das er mit sich hereingebracht hatte.

„Richard Pfeffer.“

Dr. Bartholdy schaute ihn an, und da plötzlich ... nein, doch nicht. Pfeffer war so, als würde sich gerade etwas von der Präsenz und dem Charme des Doppeldoktors verabschieden. Dann aber war er von einer Sekunde auf die andere wieder völlig hergestellt. Merkwürdig. Aber wahrscheinlich eine Sinnestäuschung. Immerhin hatte Rick Pfeffer nun schon seit sieben Tagen keinen Alkohol getrunken. Er beschloss, dass er wohl halluziniert hatte. Kann schon mal passieren, wenn man nüchtern ist. Nun aber wieder der Arzt.

„Und weswegen genau sind Sie hier bei mir?“

Naaa ... Doch. Doch, da war was. Er hatte nicht halluziniert. Eigentlich eine gute Nachricht. Irgendetwas schien den Arzt zu beunruhigen. Pfeffer setzte sich auf einen der Stühle frontseits des Schreibtisches.

„Ich möchte mich durchchecken lassen. Für eine Lebensversicherung“.

Die Augen des Arztes verrieten eine Mischung aus Skepsis und Verunsicherung. Und bei Pfeffer: Jagdinstinkt. Fährte aufgenommen. Wie in den guten alten Zeiten. Was war hier los? Was stimmte hier nicht? Hatte er etwas Falsches gesagt? Oh Gott, womöglich etwas Schwules? Grübel grübel. Nein, definitiv nichts Schwules. Es musste also etwas anderes sein. Hatte es mit den Büchern zu tun? Kam ihm der Arzt nicht irgendwie bekannt vor? Ein Sozi vielleicht? Aus Bremen? Es gab nur eine Möglichkeit, es herauszufinden. Wirkung vor Deckung. Wie in der guten alten Zeit.

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