Knabenalter

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LUNATA

Knabenalter

Knabenalter

© 1884 Lew Tolstoi

Originaltitel Otročestvo

Aus dem Russischen von Hanny Brentano

Umschlagbild: Wallerand Vaillant

© Lunata Berlin 2020

Inhalt

Wagenfahrt

Das Gewitter

Neue Anschauungen

In Moskau

Mein älterer Bruder

Schrot

Karl Iwanowitschs Geschichte

Fortsetzung des Vorhergehenden

Fortsetzung

Die Eins

Das Schlüsselchen

Die Verräterin

Verblendung

Phantasien

Kommt Zeit, kommt Rat

Haß

Wolodja

Papa

Großmama

Ich

Wolodjas Freunde

Betrachtungen

Anfang der Freundschaft

Wagenfahrt

Wieder stehen zwei Wagen vor der Freitreppe des Herrenhauses von Petrowskoje: eine Kutsche, in welcher Mimi, Katjenka, Ljubotschka und ein Stubenmädchen Platz nehmen, während der Verwalter Jakob in eigener Person auf dem Bock sitzt, und ein offener Wagen, in dem Wolodja und ich und der kürzlich in Dienst genommene Lakai Wassilij fahren.

Papa, der einige Tage nach uns in Moskau eintreffen will, steht ohne Kopfbedeckung auf den Treppenstufen und schlägt ein Kreuz über das Fenster der Kutsche und den Wagen.

»Nun, Gott mit euch! vorwärts!«

Jakob und die Kutscher (wir fahren mit eigenen Pferden) nehmen die Mützen ab und bekreuzigen sich. »Hü! hü! mit Gott!« Kutsche und Wagen holpern über den unebenen Weg, und die Birken der großen Allee gleiten eine nach der andern an mir vorüber. Mir ist gar nicht traurig zumute: mein Sinn ist nicht auf das gerichtet, was ich verlasse, sondern auf das, was mich erwartet. In dem Maße der Entfernung von den Gegenständen, die mit den trüben Erinnerungen verbunden sind, welche bisher meine Einbildungskraft beschäftigten, verlieren diese Erinnerungen an Stärke, und an ihre Stelle tritt schnell das beseligende Bewusstsein eines Lebens voller Kraft, Frische und Hoffnung.

Selten habe ich einige Tage so – ich will nicht sagen lustig, denn ich schämte mich noch gewissermaßen, mich der Lustigkeit hinzugeben, – aber so angenehm, so gut verlebt wie die vier Tage unserer Reise. Vor meinen Augen stand weder die geschlossene Tür zu Mamas Zimmer, an der ich nicht ohne schmerzliches Zusammenzucken vorbeigehen konnte, noch das geschlossene Klavier, welches man nicht nur nicht öffnete, sondern das man sogar mit einer gewissen Scheu ansah, noch die Trauergewänder (wir alle hatten einfache Reisekleider angelegt), noch all jene Dinge, welche mir den unersetzlichen Verlust lebhaft in Erinnerung brachten und mich zwangen, jedes Hervorbrechen der Lebensfreude zu unterdrücken, aus Furcht, ihr Andenken zu beleidigen. Hier aber gibt's immer neue malerische Gegenden und Dinge, die meine Aufmerksamkeit fesseln und ablenken, und die in Frühlingsherrlichkeit prangende Natur flößt der Seele frohe Gefühle der Zufriedenheit mit der Gegenwart und der leuchtenden Hoffnung auf die Zukunft ein.

Ganz, ganz früh morgens zieht der unbarmherzige und wie alle Dienstboten in neuer Stellung übereifrige Wassilij die Bettdecke weg und versichert, es sei Zeit aufzubrechen, und alles sei schon bereit. Wie man sich auch weigert, wie man sich ärgert, wie schlau man's auch anstellt, um den süßen Morgenschlummer wenigstens um ein Viertelstündchen zu verlängern, – man merkt's dem entschlossenen Gesichte Wassilijs an, daß er sich nicht erweichen läßt und bereit ist, die Decke noch zwanzigmal fortzuziehen; da springt man auf und läuft in den Hof, um sich zu waschen.

Im Flur dampft bereits der Samowar, in dessen Zugrohr Mitjka, der Vorreiter, mit krebsrotem Gesichte hineinbläst. Im Hof ist's feucht und nebelig, und vom duftenden Dünger steigt's wie Dampf auf; die Sonne erhellt mit frohem, strahlendem Licht die östliche Hälfte des Himmels und die tauglänzenden Strohdächer der geräumigen Schuppen, die den Hof umgeben. Unter ihnen sieht man unsere Pferde, die an die Krippen gebunden sind, und hört ihr gleichmäßiges Kauen. Ein zottiges Hündchen, das vor dem Morgendämmern auf einem trockenen Düngerhaufen geschlafen hat, reckt sich träge und läuft dann schweifwedelnd in kurzem Trab auf die andere Seite des Hofes. Die geschäftige Hausfrau macht das knarrende Tor auf und treibt die nachdenklichen Kühe auf die Straße, wo bereits das Getrampel, das Brüllen und Blöken der Herde hörbar wird, und wechselt ein Wörtchen mit der verschlafenen Nachbarin. Philipp zieht mit aufgestreiften Hemdärmeln den Eimer am Rad aus dem tiefen Brunnen, plätschert in dem klaren Wasser und gießt es in die Krippe aus Eichenholz, neben der die erwachten Enten bereits in der Pfütze baden; ich blicke mit Vergnügen auf Philipps ernstes, von großem Vollbart umrahmtes Gesicht und auf die starken Adern und Muskeln, die auf seinen nackten, sehnigen Armen scharf hervortreten, wenn er eine kräftige Bewegung macht.

Hinter der Zwischenwand, hinter der Mimi und die Mädchen geschlafen haben und durch die wir am Abend ein Gespräch geführt haben, rührt es sich. Mascha läuft mit allerhand Gegenständen, die sie mit ihrem Kleide vor unserer Neugier zu schützen sucht, immer öfter an uns vorüber; endlich wird die Tür geöffnet, und wir werden zum Tee gebeten.

Wassilij kommt in einem Anfall überflüssigen Eifers immer wieder ins Zimmer gelaufen, trägt bald das, bald jenes hinaus, zwinkert uns zu und bittet Maria Iwanowna, sobald als möglich aufzubrechen. Die Pferde sind angespannt und äußern ihre Ungeduld, indem sie von Zeit zu Zeit mit den Schellen klirren; die Koffer und Kisten, die Schachteln und Schächtelchen werden wieder aufgeladen, und wir nehmen unsere Plätze ein. Aber jedesmal finden wir im Wagen statt eines Sitzes einen Berg, so daß wir gar nicht begreifen, wie das alles gestern geordnet gewesen, und wie wir heute sitzen sollen. Ganz besonders erregt eine Teebüchse mit dreieckigem Deckel, die man uns in den Wagen reicht und unter meinen Sitz stellt, meinen größten Unwillen. Aber Wassilij behauptet, der Berg werde sich schon zusammendrücken lassen, und ich muß ihm glauben.

Die Sonne ist eben erst hinter einer dicken, weißen Wolke, die den östlichen Horizont bedeckt, heraufgekommen, und die ganze Gegend erglänzt in ruhig freudigem Lichte. Alles rundumher ist so schön, und mir ist so leicht und ruhig zumute. Die Straße windet sich vor uns wie ein breites, flatterndes Band zwischen vertrockneten Stoppelfeldern und tauglänzendem Grün; hier und da steht am Wegrande eine düstere Weide oder eine junge Birke mit kleinen, klebrigen Blättern, die einen langen, unbeweglichen Schatten auf die trockenen, lehmigen Radspuren und das niedrige, grüne Gras des Weges wirft. Das einförmige Geräusch der Räder und der Schellen vermag das Getriller der Lerchen, die grade über der Straße in die Luft steigen, nicht zu übertönen. Der Geruch von mottenzerfressenem Tuch, von Staub und irgend einer Säure, durch den sich unser Wagen auszeichnet, wird vom Morgenduft verdrängt, und ich fühle im Herzen eine wonnige Unruhe und den Wunsch, irgend etwas zu tun, – das Kennzeichen des echten Genusses.

Ich bin in der Nachtherberge nicht dazu gekommen, zu beten; da ich jedoch schon mehr als einmal bemerkt habe, daß an dem Tage, an dem ich aus irgend welchem Grunde vergesse, das zu tun, mir irgend ein Unglück widerfährt, bemühe ich mich, das Versäumte nachzuholen: ich nehme die Mütze ab, wende mich nach der Ecke des Wagens, sage meine Gebete her und bekreuzige mich unter meiner Jacke so, daß es niemand bemerkt. Aber tausenderlei verschiedene Dinge lenken meine Aufmerksamkeit ab, und ich wiederhole in der Zerstreutheit mehrmals hintereinander dieselben Gebetsworte.

Jetzt werden auf dem Fußpfade, der sich die Fahrstraße entlang schlängelt, langsam schreitende Gestalten sichtbar: es sind Wallfahrerinnen. Ihre Köpfe sind in schmutzige Tücher gehüllt, ihre Füße in schmutzige, zerrissene Fetzen gewickelt und mit schweren Bastschuhen bekleidet; auf dem Rücken tragen sie Ranzen aus Birkenrinde. Gleichmäßig greifen sie mit den Wanderstäben aus und schreiten, kaum einen Blick auf uns werfend, langsamen, schweren Schrittes eine hinter der andern dahin, und mich beschäftigen die Fragen: Wohin und aus welchem Grunde pilgern sie? Werden sie lange unterwegs sein? Und werden die langen Schatten, welche sie auf den Weg werfen, sich bald mit dem Schatten der Weide vereinen, an der sie vorübergehen müssen? – Jetzt kommt uns ein vierspänniger Postwagen schnell entgegengefahren. Zwei Sekunden – und die Gesichter, die auf kaum zwei Ellen Entfernung mit freundlicher Neugier zu uns herübergeschaut, sind schon vorbeigeglitten, und mir erscheint's gradezu sonderbar, daß diese Menschen nichts Gemeinsames mit mir haben und daß ich sie vielleicht nie mehr wiedersehen werde.

 

Seitwärts vom Wege rennen zwei schweißbedeckte, zottige Pferde im Kummet, den Zugriemen hinter den Rückenriemen geschlungen; hinterdrein reitet – die langen Beine in den großen Stiefeln zu beiden Seiten des Pferdes hängen lassend – ein junger Fuhrknecht; auf dem Nacken des Gaules sitzt ein Krummholz, an dem bisweilen ein Glöckchen erklingt. Der Bursche hat die Lammfellmütze schief auf ein Ohr gedrückt und singt ein Lied von schwermütiger Melodie. Sein Gesicht und seine Haltung drücken eine solch träge, sorglose Zufriedenheit aus, daß es mir als das höchste Glück erscheint, Fuhrknecht zu sein, mit Retourpferden heimzureiten und melancholische Lieder zu singen.

Dort in der Ferne hinter der Schlucht hebt sich vom hellblauen Himmel eine Dorfkirche mit grünem Dache ab; und dort ist auch das Dorf selbst, das rote Dach des Herrenhauses und ein grüner Garten. Wer mag in diesem Hause wohnen? Gibt es darin Kinder, einen Vater, eine Mutter, einen Hauslehrer? Warum sollten wir nicht in diesem Hause einkehren und seine Bewohner kennen lernen? – Jetzt sehen wir vor uns einen langen Zug hochbepackter Lastwagen, vor welche je ein Dreigespann wohlgenährter, starkfüßiger Pferde gespannt ist und die wir seitwärts umfahren müssen. »Was führt ihr?« fragte Wassilij den ersten Fuhrmann, der – mit den riesigen Füßen baumelnd und die Peitsche schwenkend – uns lange mit ausdruckslosem Blicke nachstarrt und erst dann antwortet, als wir ihn nicht mehr hören können. »Mit welcher Ware?« wendet Wassilij sich an den nächsten, der auf dem abgesonderten Vorderteile seiner Fuhre unter einer neuen Bastmatte liegt. Der blonde Kopf mit dem roten Gesicht und dem rötlichen Bärtchen taucht für einen Augenblick unter der Matte hervor, läßt die gleichgültig verächtlichen Augen über unsern Wagen schweifen und verschwindet wieder – und mir kommt der Gedanke, daß diese Fuhrknechte sicherlich gar nicht wissen, wer wir sind und woher und wohin wir reisen.

Anderthalb Stunden etwa vertiefe ich mich in die verschiedenartigsten Betrachtungen und achte nicht auf die schiefen Zahlen auf den Werstpfählen. Nun aber brennt mir die Sonne heiß auf Kopf und Rücken, die Straße wird staubiger, der dreieckige Deckel der Teebüchse macht sich sehr fühlbar, ich ändere einige Mal meine Stellung: mir wird heiß, unbehaglich und langweilig. Meine ganze Aufmerksamkeit wendet sich den Werstpfählen und den auf ihnen vermerkten Zahlen zu; ist stelle verschiedene mathematische Berechnungen an über die Zeit, in welcher wir die Poststation erreichen können. »Zwölf Werst sind ein Drittel von sechsunddreißig, und bis zum Dorfe Lipzy sind's einundvierzig, folglich haben wir jetzt zurückgelegt ein Drittel und –?« und so weiter.

»Wassilij«, rufe ich, als ich bemerke, daß er auf dem Bock zu schlummern beginnt, »laß mich auf den Bock, mein Täubchen!«

Er geht darauf ein. Wir tauschen die Plätze; er fängt sofort zu schnarchen an und streckt sich so lang aus, daß niemand mehr im Wagen Platz hat; mir aber bietet sich von der Höhe, die ich nun einnehme, der angenehmste Anblick: unsere vier Pferde, Nerutschinskaja, Djatschok, das Deichselpferd Ljewaja und Apotheker, die ich bis in die geringsten Besonderheiten und feinsten Schattierungen ihrer Eigenart kenne.

»Warum ist Djatschok heute rechtes und nicht linkes Seitenpferd, Philipp?« frage ich etwas schüchtern.

»Djatschok?«

»Und Nerutschinskaja zieht gar nicht«, fahre ich fort.

»Djatschok darf nicht links eingespannt werden«, sagt Philipp, ohne meine letzte Bemerkung zu beachten; »das ist kein Pferd, das man links einspannen könnte. Links muß ein Pferd sein, das – na mit einem Wort ein Pferd; dies aber ist kein solches Pferd!«

Und bei diesen Worten neigt Philipp sich nach rechts und haut, die Zügel aus aller Kraft anziehend, den armen Djatschok immer wieder über den Schweif und über die Beine, so auf eine besondere Art, von unten herauf; ungeachtet dessen, daß Djatschok sich aufs äußerste anstrengt und den ganzen Wagen umzuwerfen droht, stellt Philipp dies Manöver erst ein, als er das Bedürfnis fühlt, sich zu erholen und seine Mütze aus unerfindlichen Gründen auf die Seite zu rücken, obgleich sie bisher sehr gut und fest auf seinem Kopfe saß. Ich benütze den günstigen Augenblick und bitte Philipp, mich ein wenig »kutschieren« zu lassen. Philipp gibt mir erst die eine Leine, dann die zweite; endlich habe ich alle sechs Zügel und die Peitsche in der Hand und fühle mich vollkommen glücklich. Ich bemühe mich, Philipp in jeder Hinsicht nachzuahmen, und frage ihn immer wieder, ob es so recht sei; gewöhnlich aber endet es damit, daß er mit mir nicht zufrieden ist: er behauptet, das eine Pferd ziehe zu viel, das andere gar nicht; schließlich nimmt er mir die Zügel wieder fort. – Die Hitze nimmt zu. Die Lämmerwölkchen blähen sich auf wie Seifenblasen, steigen höher und höher, vereinigen sich und nehmen eine dunkelgraue Färbung an. Aus dem Fenster der Kutsche streckt sich eine Hand mit einer Flasche und einem kleinen Bündel; Wassilij springt mit erstaunlicher Gewandtheit während der Fahrt vom Bock und bringt uns Käsekuchen und Kwas.

An steilen Abhängen verlassen wir alle unsere Wagen und laufen manchmal um die Wette bis zur Brücke, während Wassilij und Jakob die Bremse anziehen und von beiden Seiten die Kutsche mit den Händen stützen, als wenn sie imstande wären, sie zu halten, wenn sie umfallen würde. Dann steige ich oder Wolodja mit Mimis Erlaubnis in die Kutsche, während Ljubotschka oder Katjenka im offenen Wagen Platz nehmen. Diese Übersiedelungen bereiten den Mädchen großes Vergnügen, denn sie finden mit Recht, daß es in unserm Wagen bedeutend lustiger ist. Zuweilen, wenn es allzu heiß wird, bleiben wir bei der Fahrt durch ein Wäldchen hinter der Kutsche zurück, brechen grüne Zweige von den Bäumen und bauen im Wagen eine Laube. Die fahrende Laube eilt dann in vollem Galopp der Kutsche nach, und Ljubotschka quietscht dabei mit der gellendsten Stimme, was sie nie unterläßt, wenn ihr etwas großes Vergnügen bereitet.

Nun ist das Dorf erreicht, in dem wir Mittag essen und ausruhen sollen. Es riecht auch schon »nach Dorf«: nach Rauch, Teer und Baranken1; man hört das Geräusch von Stimmen, Schritten und Rädern; die Schellen klingen nicht mehr so wie auf freiem Felde, und zu beiden Seiten tauchen strohgedeckte Bauernhäuser auf, mit ihren geschnitzten, weißgehobelten Vortreppen und den kleinen, von roten oder grünen Läden umrahmten Fenstern, an denen hier und da das Gesicht einer neugierigen Bäuerin erscheint. Da sind auch die Bauernkinder in bloßen Hemdchen: mit weit aufgerissenen Augen und gespreizten Fingern stehen sie unbeweglich da, oder sie rennen, mit den nackten Füßchen eilig durch den Staub trippelnd, trotz der drohenden Gebärden Philipps hinter den Wagen her und versuchen auf die Koffer zu klettern, die hinten an den Wagen befestigt sind. Nun laufen auch die rotblonden Hausknechte von beiden Seiten herbei und bemühen sich um die Wette, durch einladende Worte und Gebärden die Reisenden anzulocken. Tprrru!2 Das Tor knarrt, das Strangholz stößt an die Torflügel, und wir fahren in den Hof. Vier Stunden Rast und Freiheit!

1 Ringförmige, billige Brezeln, die in ganz Russland sehr beliebt sind.

2 Zeichen des Kutschers zum Halten der Pferde.

Das Gewitter

Die Sonne neigte sich zum Untergang und brannte mir mit ihren schrägen, heißen Strahlen unerträglich auf Hals und Wangen; die Ränder des Wagens waren so glühend heiß, daß man sie unmöglich anfassen konnte; dichter Staub erhob sich von der Straße und erfüllte die Luft. Nicht der leiseste Windhauch wehte, um ihn fortzutragen. Vor uns schwankte in immer gleicher Entfernung das hohe, staubige Verdeck der Kutsche, hinter dem von Zeit zu Zeit Jakobs Mütze, der Hut und die Peitsche des Kutschers auftauchten. Ich wußte nicht, was ich anfangen sollte; weder das staubgeschwärzte Gesicht Wolodjas, der neben mir schlummerte, noch die Bewegungen von Philipps Rücken, noch der lange Schatten unseres Wagens, der in spitzem Winkel hinter uns herlief, bot mir Zerstreuung. All meine Aufmerksamkeit war den Werstpfählen zugewandt, die ich in der Ferne bemerkte, und den Wolken, die zuerst am Horizont verstreut waren, dann aber, eine drohende schwarze Färbung annehmend, sich zu einer großen, düsteren Wolke zusammenballten. Von Zeit zu Zeit donnerte es in der Ferne. Das verstärkte mehr als alles andere meine ungeduldige Sehnsucht, so schnell als möglich eine Herberge zu erreichen. Das Gewitter weckte in mir ein unsagbar drückendes Gefühl von Bangigkeit und Schrecken.

Bis zum nächsten Dorf hatten wir noch ungefähr zehn Werst, und eine große, dunkelviolette Gewitterwolke, die weiß Gott woher aufgetaucht war, zog, obgleich nicht der leiseste Wind sie trieb, schnell näher und näher. Die Sonne, die noch nicht von Wolken verdeckt ist, bescheint hell ihre düstere Masse und die grauen Streifen, die sich von ihr zum Horizonte hinabziehen. Von Zeit zu Zeit flammt in der Ferne ein Blitz auf und man hört ein schwaches Rollen, das sich allmählich verstärkt, näher kommt und in abgebrochenes, das ganze Himmelsgewölbe umfassendes Geknatter übergeht. Wassilij erhebt sich vom Bock und stellt das Verdeck unseres Wagens auf, die Kutscher werfen ihre weiten Mäntel über, nehmen bei jedem Donnerschlag die Mütze ab und bekreuzigen sich; die Pferde spitzen die Ohren, blähen die Nüstern, als zögen sie die frische Luft ein, welche die herannahende Gewitterwolke ausströmt, und der Wagen rollt schneller auf der staubigen Straße dahin. Mir wird beklommen zumute und ich fühle, wie das Blut rascher in meinen Adern kreist. Nun beginnen die vorderen Wolken bereits die Sonne zu verdecken; nun hat sie zum letzten Mal hervorgeblickt, hat die unheimlich düstere Seite des Himmels bestrahlt und hat sich versteckt. Die ganze Gegend verändert sich plötzlich und nimmt einen düsteren Charakter an. Jetzt erzittert der Espenhain; die Blätter scheinen von schmutzigweißer Farbe, die sich grell vom violetten Hintergründe der Gewitterwolke abhebt, sie rauschen und schwanken; die Wipfel der großen Birken beginnen sich hin und her zu wiegen und Büschel trockenen Grases fliegen über den Weg. Weißbrüstige Schwalben umflattern unsern Wagen, als hätten sie die Absicht, uns aufzuhalten, und fliegen dicht vor der Brust der Pferde vorbei; Dohlen mit zerzausten Flügeln lassen sich förmlich seitwärts vom Winde tragen; die Ränder der Lederdecke, die wir vor die Öffnung des Verdeckes geknöpft haben, flattern auf, lassen feuchte Windstöße zu uns herein, schwingen hin und her und schlagen ans Verdeck. Der Blitz flammt so grell auf, als wäre er im Wagen selbst, blendet unsere Augen und erhellt für einen Moment das graue Tuch, die Borten und Wolodjas in eine Ecke geschmiegte Gestalt. Im selben Augenblick ertönt gerade über uns ein majestätisches Rollen, das – in mächtiger Spiralllinie förmlich höher und höher steigend und breiter und breiter werdend, – sich allmählich verstärkt und in ein betäubendes Krachen übergeht, welches unwillkürlich zu erzittern und den Atem anzuhalten zwingt. Gottes Zorn! wieviel Poesie liegt doch in dieser Vorstellung des schlichten Volkes!

Die Räder drehen sich schneller und schneller; an den Rücken Wassilijs und Philipps, der ungeduldig an der Leine zupft, erkenne ich, daß auch sie Angst haben. Der Wagen rollt geschwind bergab und poltert über die Bretterbrücke; ich fürchte mich, eine Bewegung zu machen, und erwarte von Minute zu Minute unser aller Untergang.

Tprrru! Das Strangholz hat sich losgerissen, und ungeachtet des ununterbrochenen, betäubenden Donners sind wir gezwungen, auf der Brücke zu halten.

Den Kopf an den Wagenrand gelehnt, folge ich mit atemversetzender Herzbeklemmung hoffnungslos den Bewegungen der dicken, schmutzigen Finger Philipps, der langsam eine Schlinge knüpft und an den Strangriemen zieht, wobei er das Seitenpferd mit der flachen Hand und mit dem Peitschenstiel zur Seite stößt.

Die beunruhigenden Gefühle der Bangigkeit und Angst waren in mir mit dem Stärkerwerden des Gewitters gewachsen, und als der erhabene Augenblick der Totenstille eintrat, die dem Losbrechen des Unwetters vorauszugehen pflegt, hatten diese Gefühle einen so hohen Grad erreicht, daß ich überzeugt bin, ich wäre vor Aufregung gestorben, wenn dieser Zustand noch eine Viertelstunde gewährt hätte. Gerade zu dieser Zeit taucht unter der Brücke hervor in schmutzigem, zerrissenem Hemd ein menschliches Wesen auf, mit aufgedunsenem, stumpfsinnigem Gesichte, unbedecktem, wackelndem, kurzgeschorenem Kopfe, krummen, muskellosen. Beinen und einem roten, glänzenden Stumpfe statt der Hand, den er uns gerade in den Wagen hineinstreckt.

 

»He–err! Einem A–ar–men, um Chri–isti willen!« ertönt eine klägliche Stimme, und bei jedem Wort bekreuzigt sich der Bettler und neigt sich bis zur Erde.

Ich kann das Gefühl des kalten Entsetzens, das meine Seele in diesem Augenblick erfaßte, nicht beschreiben. Meine Haare sträubten sich, meine Blicke hingen mit der Sinnlosigkeit der Angst an dem Bettler.

Wassilij, der unterwegs die Almosen zu verteilen hat, gibt Philipp Ratschläge zur Befestigung des Strangholzes, und erst als alles fertig ist und Philipp, die Zügel zusammenfassend, wieder auf den Bock klettert, fängt er an, etwas aus der Seitentasche hervorzusuchen. Aber kaum hat unser Wagen sich in Bewegung gesetzt, als ein blendender Blitz, der für einen Moment die ganze Schlucht mit einem Feuerschein erfüllt, die Pferde zum Stehenbleiben bringt; ohne die geringste Zwischenpause folgt ihm ein so betäubendes Donnerkrachen, daß das ganze Himmelsgewölbe über uns zusammenzustürzen scheint. Der Wind wird stärker: die Mähnen und Schweife der Pferde, Wassilijs Mantel und die Ränder der Lederdecke nehmen alle die gleiche Richtung und flattern verzweifelt, von den gewaltigen Windstößen getrieben. Auf das Lederverdeck des Wagens fällt schwer ein großer Regentropfen, – ein zweiter, ein dritter, ein vierter, und plötzlich ist's als trommele jemand über uns, und die ganze Gegend hallt wider vom eintönigen Geräusch des herabstürzenden Regens. An den Bewegungen der Ellenbogen Wassilijs merke ich, daß er den Geldbeutel aufbindet; der Bettler läuft, sich unaufhörlich bekreuzigend und verneigend, dicht neben den Rädern her, so daß er jeden Augenblick überfahren werden kann. »Gib, um Chri – isti willen!« Endlich fliegt eine Kupfermünze an uns vorüber, und das erbarmungswürdige Geschöpf in dem die mageren Glieder umschließenden, bis auf den letzten Faden nassen, groben Hemd bleibt, vom Sturm hin und her geworfen, wie im Zweifel mitten auf der Straße stehen und entschwindet meinen Blicken.

Der schräg fallende Regen strömte, von starkem Winde getrieben, wie aus Kübeln; von Wassilijs mit langhaarigem Wollmantel bedecktem Rücken rieselten Bäche in die Pfütze trüben Wassers, die sich auf der Lederdecke gebildet hatte. Der zuerst zu Kügelchen zusammengeballte Straßenstaub verwandelte sich in flüssigen Schmutz, den die Räder kneteten; die Stöße wurden schwächer, und in den lehmigen Radspuren flössen trübe Bächlein. Die Blitze wurden breiter und blasser und das Rollen des Donners wurde durch das gleichmäßige Geräusch des Regens gedämpft.

Jetzt wird der Regen schwächer; die Gewitterwolke zerteilt sich allmählich in wellenförmige Wölkchen, wird an der Stelle, wo die Sonne stehen muß, heller und heller, und durch ihre grauweißen Ränder schimmert kaum bemerkbar ein Fleckchen klaren, blauen Himmels. Eine Minute später spiegelt sich bereits ein schüchterner Sonnenstrahl in den Pfützen der Landstraße, in den Streifen des wie durch ein Sieb senkrecht fallenden, feinen Regens und in dem abgewaschenen, glänzenden Grün des Straßengrases. Die schwarze Gewitterwolke bedeckt nun ebenso drohend wie zuvor die entgegengesetzte Seite des Himmelsgewölbes, aber ich fürchte sie nicht mehr. Ich empfinde ein unbeschreiblich wonniges Gefühl der Lebensfreude, welches das drückende Angstgefühl in mir schnell ablöst. Meine Seele lächelt mit der erfrischten, heiteren Natur. Wassilij schlägt den Mantelkragen zurück, nimmt die Mütze ab und schüttelt die Regentropfen herunter; Wolodja schiebt die Lederdecke fort; ich beuge mich aus dem Wagen und atme gierig die erfrischte, wohlriechende Luft ein. Das glänzende, rein gewaschene Verdeck der Kutsche mit dem Koffergestell und dem Reisegepäck schwankt vor uns her, die Rücken der Pferde, das Geschirr, die Leine, die Radreifen – alles ist naß und glänzt in der Sonne wie mit Lack überzogen. Auf der einen Seite der Straße erstreckt sich – hier und da durch kleine Schluchten unterbrochen – ein von Feuchtigkeit und Grün leuchtendes, unübersehbares Feld mit Wintergetreide wie ein dichter Teppich bis an den Horizont; auf der andern Seite steht ein Wäldchen von Zitterpappeln, mit Unterholz von Haselnusssträuchern und Faulbäumen, wie im Überschwang des Glückes regungslos da und läßt langsam die hellen Regentropfen von seinen reingewaschenen Zweigen auf das dürre Laub des Vorjahres fallen. Überall kreisen die schopfköpfigen Lerchen mit fröhlichem Liede und schießen schnell aus der Luft herab; im nassen Gebüsch hört man das geschäftige Treiben der kleinen Vögel, und mitten aus dem Wäldchen heraus klingt heller Kuckucksruf. So berauschend ist der herrliche Waldesduft nach dem Frühlingsgewitter, der Duft der Birken, Veilchen, Morcheln, des welken Laubes, des Faulbaums, daß ich's nicht länger im Wagen aushalte, vom Trittbrett springe, ins Gebüsch eile und – ungeachtet dessen, daß ich mit Regentropfen überschüttet werde – die nassen Zweige des eben erblühten Faulbaumes pflücke, mir damit ins Gesicht schlage und mich an ihrem wundervollen Duft berausche. Ohne darauf zu achten, daß an meinen Stiefeln riesige Klumpen Lehms kleben und daß meine Strümpfe längst durchnäßt sind, laufe ich durch den klatschenden Straßenschmutz ans Fenster der Kutsche.

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