Читать книгу: «Verteidigung in der Hauptverhandlung», страница 14

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Anmerkungen

[1]

BGHSt 18, 288, 289; BGH NStZ 2011, 474.

[2]

BGHSt 23, 95; BGH 29, 274, 278.

[3]

BGHSt 29, 124, 127; LR-Gollwitzer § 265 Rn. 33, 34.

[4]

BGH StV 1997, 237; BGH NStZ 2011, 475.

[5]

BGH StraFo 2002,15.

[6]

BGH VRS 49, 184; OLG Koblenz VRS 63, 50.

[7]

BGH StV 1997, 64.

[8]

BGH StV 1991,102.

[9]

BGH NJW 1988, 501.

[10]

KK-Engelhardt § 265 Rn. 14; Meyer-Goßner/Schmitt § 265 Rn. 19; a.A. Schlothauer StV 1986, 221.

[11]

BGH StV 1996, 650; zw. BGH NStZ-RR 2003, 291.

[12]

Nur wenn er die Richtigkeit der neu hervorgetretenen Umstände in Abrede stellt, besteht ein Anspruch auf Aussetzung, vgl. BGH NStZ 2016, 61 m. Anm. Ventzke.

[13]

Z. B. Meyer-Goßner/Schmitt § 265 Rn. 36.

[14]

BGHSt 48, 183 m. zust. Anm. Mitsch NStZ 2004, 396.

[15]

Z. B. Meyer-Goßner/Schmitt § 265 Rn. 37; LR-Stuckenberg § 265 Rn. 108.

[16]

OLG Dresden JR 2008, 319.

[17]

Zum notwendigen Revisionsvorbringen vgl. BGH StraFo 2002, 261; BGH StraFo 2009, 115.

Teil 3 Beginn der Hauptverhandlung › XI. Aussetzungsanträge › 6. Aussetzung wegen veränderter Sachlage

6. Aussetzung wegen veränderter Sachlage

181

Auf Antrag der Verteidigung oder von Amts wegen hat das Gericht die Hauptverhandlung auszusetzen, falls dies in Folge der veränderten Sachlage zur genügenden Vorbereitung angemessen erscheint (§ 265 Abs. 4). Die Vorschrift, die nicht eng auszulegen ist,[1] kommt z.B. in Betracht, wenn neue, in der Anklage nicht erwähnte Handlungen des Angeklagten zum Gegenstand der Urteilsfindung gemacht werden sollen,[2] wenn das Gericht aus bereits bekannten Tatsachen andere rechtliche Folgerungen ziehen will (bei neuen Tatsachen gilt § 265 Abs. 3), wenn der Angeklagte die Anklageschrift nicht erhalten hat,[3] bei Veränderung der angeklagten Tathandlung, etwa der Änderung der Tatzeit u.Ä.[4]

182

Praktisch bedeutsam kann auch eine Veränderung der Verfahrenslage sein, durch die eine Veränderung der Sachlage i.S.v. § 265 Abs. 4 eintritt, und die eine Aussetzung angemessen erscheinen lässt.[5] Dies kann z.B. der Fall sein bei Verhinderung oder Verspätung des Verteidigers[6] oder bei Mandatsniederlegung[7]. Bei der Entscheidung müssen die Grundsätze eines fairen Verfahrens unter Berücksichtigung der gerichtlichen Fürsorgepflicht beachtet werden.[8] Hat das Gericht dem Angeklagten kurzfristig einen Verteidiger beigeordnet, und erklärt dieser, er benötige noch Zeit zur Vorbereitung der Hauptverhandlung, so ist auf seinen oder auf Antrag des Angeklagten hin die Hauptverhandlung auszusetzen.[9] Dieses Recht des bestellten Verteidigers ergibt sich auch aus § 145 Abs. 3. Unter Umständen kann (im Gegensatz zum Aussetzungsantrag nach § 265 Abs. 3) auch eine bloße Unterbrechung der Verhandlung genügen.[10] Diese muss allerdings so bemessen sein, dass die Verteidigung ausreichend Zeit hat, um ihre Rechte sachgemäß wahrzunehmen.[11] Der Bundesgerichtshof hat klargestellt, dass das Gericht insbesondere nicht dazu berufen ist, aus seiner Sicht anstelle des Verteidigers entsprechend seiner Auffassung von den Schwierigkeiten der Verteidigungsaufgabe eine angemessene Vorbereitungszeit festzusetzen. Ob er für die Erfüllung seiner Aufgabe hinreichend vorbereitet ist, hat der Verteidiger selbst zu beurteilen.[12] Dieses Recht sollte der Verteidiger, der vom Gericht beigeordnet worden ist, im Bedarfsfalle auch wirklich geltend machen. Keinesfalls darf er sich durch die Tatsache, vom Gericht beigeordnet worden zu sein und weitere Beiordnungen zu erhoffen, dazu bewegen lassen, seinen Verteidigungsauftrag zu vernachlässigen. Dies wäre aber bei unzureichender Vorbereitung der Fall. Ein Aussetzungsantrag gemäß § 265 Abs. 4 muss noch in der Hauptverhandlung, also noch vor der Urteilsverkündung, beschieden werden.[13] In der Revision kann gerügt werden, dass das Gericht sein Ermessen fehlerhaft ausgeübt habe.[14]

183

Muster 17 Aussetzungsantrag wegen veränderter Sachlage

An das

Landgericht

In der Strafsache

gegen …

b e a n t r a g e

ich, die Hauptverhandlung gemäß § 265 Abs. 4 StPO auszusetzen.

Dem Angeklagten wird vorgeworfen, gemeinsam mit dem Zeugen X am 20.5.2017 am Frankfurter Hauptbahnhof 10 Gramm Heroin erworben zu haben. Der Zeuge X hat ausgesagt, er sei an diesem Tag zusammen mit dem Angeklagten vor 13 Uhr mit dem ICE vom Freiburger Hauptbahnhof nach Frankfurt gefahren und erst in den späten Abendstunden desselben Tages wieder nach Freiburg zurückgekehrt. Der Angeklagte bestreitet, jemals mit dem Zeugen X nach Frankfurt gefahren zu sein.

Wie sich nun bei Verlesung des Zentralregisterauszugs und der Verlesung der Vorverurteilungen des Angeklagten ergeben hat, wurde dieser wegen eines Ladendiebstahls verurteilt, den er genau am 20.5.2017 gegen 14.00 Uhr in Freiburg verübt haben soll. Das Gericht hat daraufhin den Hinweis gegeben, es gehe davon aus, dass sich die vorgeworfene Tat an einem anderen Tag in der Woche vom 20.5.2017 ereignet habe. Der Angeklagte will nunmehr prüfen, wo er sich an den genannten Tagen aufgehalten hat und welche Zeugen er hierfür benennen kann. Es ist daher erforderlich, die Hauptverhandlung auszusetzen, um der Verteidigung die notwendige Zeit zur Durchführung dieser Nachforschungen zu geben.

Anmerkungen

[1]

BGH NJW 1958, 1736.

[2]

BGHSt 8, 92, 96.

[3]

BGH MDR 1978, 111 (H); OLG Celle StV 1998, 531.

[4]

Vgl. BGHSt 19, 88; NStZ 1984, 422.

[5]

BGH NJW 1958, 1736.

[6]

BayObLG VRS 67, 438.

[7]

BGH NJW 2000, 1350.

[8]

BGH NStZ-RR 2002, 270.

[9]

BGH StV 1998, 414; BGH NStZ 2009, 650.

[10]

Meyer-Goßner/Schmitt § 265 Rn. 45.

[11]

LR-Gollwitzer § 265 Rn. 108.

[12]

BGH NStZ 2009, 650.

[13]

Meyer-Goßner/Schmitt § 265 Rn. 45.

[14]

BGH StV 1998, 252; zu den Anforderungen an die Verfahrensrüge vgl. auch BGH NStZ 2009, 650.

Teil 3 Beginn der Hauptverhandlung › XII. Anregungen zur Verfahrenseinstellung

XII. Anregungen zur Verfahrenseinstellung

184

Mit Ausnahme der Verfahrensbeendigung gemäß § 170 Abs. 2 kann eine Einstellung in der Hauptverhandlung aus den gleichen Gründen erfolgen wie im Vor- oder Zwischenverfahren, insbesondere also gemäß §§ 153, 153a, 154, 154a. Wegen der Einzelheiten ist auf die einschlägigen Kommentierungen hinzuweisen. Zu beachten ist, dass es sich bei dem von der Verteidigung vorgebrachten Begehren nach Einstellung des Verfahrens gemäß den §§ 153 ff. nicht um Anträge im technischen Sinn handelt, auf deren formelle Bescheidung ein Anspruch bestünde, sondern lediglich um Anregungen zur weiteren prozessualen Behandlung der Sache. Für die Hauptverhandlung gilt folgendes:

185

Anregungen zur Verfahrenseinstellung bereits zu Beginn der Hauptverhandlung dürften die Ausnahme sein. Hat der Verteidiger entsprechende Anträge bereits im Vorverfahren gestellt, ohne dass Staatsanwaltschaft und Gericht hierauf eingegangen wären oder diese sogar explizit abgelehnt haben, scheint ist eine bloße Wiederholung zu Beginn der Hauptverhandlung sinnlos. Das Gericht wird in der Regel auf seine bisherige Entscheidung und die unveränderte Sachlage hinweisen. Dennoch gibt es auch davon Ausnahmen, etwa dann, wenn der Verteidiger durch einen Wechsel des Sachbearbeiters der Staatsanwaltschaft oder durch eine Änderung in der Gerichtsbesetzung davon ausgehen kann, dass mit diesem Wechsel auch eine Änderung in der Haltung zur Frage der Einstellung des Verfahrens eingetreten ist. Hat der Verteidiger hingegen im Vor- oder Zwischenverfahren keinen Einstellungsantrag gestellt, wird er sich fragen lassen müssen, warum dieser trotz unveränderter Sachlage nun erst zu Beginn der Hauptverhandlung kommt. Generell muss der Verteidiger damit rechnen, dass ein Gericht, das das Hauptverfahren eröffnet und die Hauptverhandlung anberaumt hat, wenig Neigung verspüren wird, über eine Einstellung zu beschließen, bevor der Angeklagte zur Sache gehört und wenigstens ein Teil der Beweisaufnahme durchgeführt worden ist.

186

Sinnvoll kann ein Einstellungsantrag zu Beginn der Hauptverhandlung allerdings dann sein, wenn sich seit der Ablehnung eines früheren Einstellungsantrags die Sachlage entscheidend geändert hat.[1] Dies kann z.B. der Fall sein, wenn der Angeklagte mittlerweile Schadenswiedergutmachung betrieben oder sich mit dem Geschädigten ausgesöhnt hat. Eine hierauf gestützte Einstellungsanregung kann verbunden werden mit einer Erklärung zum Verfahren und zum Verteidigungsplan (vgl. hierzu Rn. 233 ff.). Selbst wenn Staatsanwaltschaft und Gericht nicht bereit sind, einer Einstellung sofort zuzustimmen, so kann doch der Gang der Hauptverhandlung in die vom Verteidiger gewünschte Richtung gelenkt werden. Ist das Verhalten des Angeklagten nach der Tat geeignet, seine Schuld als so gering ansehen zu lassen, dass eine Einstellung nach den §§ 153, 153a in Betracht kommt, so kann sich eine Beweisaufnahme, etwa durch Vernehmung des Geschädigten als Zeugen, durch Verlesung entsprechender Urkunden o.Ä., auf dieses Nachtatverhalten beschränken. Gerade die gleichzeitige Anwesenheit aller Verfahrensbeteiligter, einschließlich des Nebenklägers oder des Geschädigten in seiner Funktion als Zeuge, erleichtert häufig die Durchsetzung einer Verfahrenseinstellung, wenn auch meist noch nicht zu Beginn der Hauptverhandlung. Auch der reine Zeitablauf kommt als Argument für einen Einstellungsantrag in Frage, besonders dann, wenn die Verzögerung aus dem Verantwortungsbereich der Justiz herrührt. Dies gilt selbst dann, wenn noch nicht von einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung zu sprechen ist; bei Vorliegen einer solchen erst recht, da dann ohnehin nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ein Teil der zu verhängenden Strafe als vollstreckt anzusehen ist.[2]

Hinweis

In der Regel wird es angebracht sein, einen zu Beginn der Hauptverhandlung vorgebrachten Einstellungsantrag mündlich zu stellen und zu begründen. Dies nimmt der Vorgehensweise den formellen Charakter und erleichtert das Rechtsgespräch mit den Verfahrensbeteiligten, das dem Verteidiger die Möglichkeit gibt, auf Bedenken und Einwände von Staatsanwaltschaft und Gericht unmittelbar einzugehen und ggf. zu weiteren Bedingungen einer Verfahrensbeendigung Stellung zu nehmen. Die hiergegen gerichtete Empfehlung von Stollenwerk,[3] bei Anträgen auf Einstellung des Verfahrens durch Beschluss der Kammer anzuordnen, dass diese gemäß § 257a schriftlich zu stellen sind und diese dann im Selbstleseverfahren nach § 249 Abs. 2 in die Hauptverhandlung einzuführen, ist dreist und unakzeptabel.

187

Der Verteidiger muss bei seinem Vorhaben, zu Beginn oder auch im Verlauf der Hauptverhandlung auf eine Einstellung hinzuwirken, damit rechnen, dass der Sitzungsvertreter ohne Einverständnis des Sachbearbeiters nicht willens oder nicht in der Lage ist, von sich aus die notwendige Zustimmung zur Einstellung zu erteilen. Es empfiehlt sich in diesem Fall, entweder mit dem Sitzungsvertreter oder (mit dessen Einverständnis) auch alleine den Sachbearbeiter aufzusuchen, um mit diesem die Frage der Einstellung zu erörtern. Er muss hierzu die Unterbrechung der Hauptverhandlung beantragen, was voraussetzt, dass das Gericht seinerseits bereit wäre, das Verfahren einzustellen. Nicht selten kommt es auch vor, insbesondere wenn die Staatsanwaltschaft durch einen nicht zustimmungsbefugten Rechtsreferendar vertreten ist, dass der einstellungswillige Richter selbst Kontakt mit dem zuständigen Staatsanwalt aufnimmt.[4]

188

Muster 18 Mündlich vorgetragene Anregung zur Verfahrenseinstellung

Ich möchte, bevor wir zur Sache selbst kommen, anregen, das Verfahren gemäß § 153 Abs. 2 StPO einzustellen.

Mein Mandant wird angeklagt, den Zeugen X in betrügerischer Weise dadurch um 2.500 € geschädigt zu haben, dass er bei ihm eine Stereoanlage in diesem Wert gekauft hat, ohne zur Zahlung des Kaufpreises in der Lage gewesen zu sein. Der Zeuge X hat sich, wie ich soeben gehört habe, unter Vorlage eines ärztlichen Attests für den heutigen Hauptverhandlungstag entschuldigen lassen.

Mir liegt jedoch ein Schreiben des Zeugen X in Kopie vor, dessen Original vor einigen Tagen bei Gericht eingegangen sein müsste. Hierin bestätigt der Zeuge, dass ihm mein Mandant die gekaufte Stereoanlage vollständig und unversehrt zurückgegeben hat, und dass er den Wertverlust durch die zeitweilige Benutzung durch Zahlung von 800 € ausgeglichen hat. Der Zeuge X bestätigt in diesem Schreiben, dass er keinerlei zivilrechtliche Ansprüche mehr gegen den Angeklagten geltend machen werde, und dass er darüber hinaus auch kein Interesse mehr an der Strafverfolgung meines Mandanten habe.

Wie dem Gericht und der Staatsanwaltschaft bekannt ist, hat mein Mandant bei seiner polizeilichen Vernehmung den objektiven Tatbestand eingeräumt, jedoch vorgetragen, dass er zum Zeitpunkt des Kaufvertragsabschlusses davon ausgegangen sei, zur Zahlung in der Lage zu sein. Tatsächlich habe er selbst zahlreiche ausstehende Forderungen von Kunden gehabt, mit deren Begleichung er zum damaligen Zeitpunkt fest gerechnet hatte.

Angesichts der Tatsache, dass der durch meinen Mandanten angerichtete Schaden vollständig wiedergutgemacht ist, der Geschädigte nach seinem eigenen Bekunden kein Interesse an einer weiteren Strafverfolgung hat und mein Mandant sich zum ersten Mal in seinem Leben wegen des Verdachts einer Straftat zu verantworten hat, erscheint eine Einstellung nach § 153 Abs. 2 StPO angemessen. Ich lege allerdings Wert auf die Feststellung, dass diese Anregung kein Eingeständnis der Schuld des Angeklagten darstellt. Dieser besteht nach wie vor darauf, keine Betrugsabsicht gehabt zu haben. Bei einer Durchführung der Hauptverhandlung müsste sich die Beweisaufnahme insbesondere auf die Vermögenssituation meines Mandanten erstrecken. Ich habe hierzu bereits im Ermittlungsverfahren zahlreiche Beweisanträge gestellt, die ich in der heutigen Hauptverhandlung wiederholen würde.

Anmerkungen

[1]

Vgl. Dahs Handbuch, Rn. 516.

[2]

Grundlegend BGH NJW 2008, 860.

[3]

Stollenwerk DRiZ 2015, 138, 141.

[4]

Vgl. hierzu Dahs Handbuch, Rn. 516.

Teil 3 Beginn der Hauptverhandlung › XIII. Sonstige Anträge bei Verhandlungsbeginn

XIII. Sonstige Anträge bei Verhandlungsbeginn

Teil 3 Beginn der Hauptverhandlung › XIII. Sonstige Anträge bei Verhandlungsbeginn › 1. Antrag auf Beiordnung als Pflichtverteidiger

1. Antrag auf Beiordnung als Pflichtverteidiger

a) Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung

189

Unter den in § 140 Abs. 1, Abs. 2 genannten Voraussetzungen ist die Mitwirkung eines Verteidigers im Strafverfahren notwendig. Zu den nach wie vor gültigen Alternativen der Abs. 1–3 und 5 in § 140 a.F. wurde durch das Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts vom 29.7.2009[1] die Vorschrift des § 140 Abs. 1 Nr. 4 neu eingefügt. Danach stellt die Inhaftierung gemäß §§ 112, 112a, 126a und 275a Abs. 6 für sich und nicht erst wie bisher nach drei Monaten einen Fall der notwendigen Beiordnung dar.[2] In der Praxis hat sich allerdings herausgestellt, dass in den Fällen, in denen der Beschuldigte nicht sofort bei der Haftbefehlseröffnung einen Verteidiger benennen will oder kann, nicht wenige Richter die „Chance“ nutzen, den von ihnen bevorzugten (sei es den befreundeten, sei es den bequemen) Verteidiger beizuordnen, eine Praxis, die geeignet ist, den Anspruch des Beschuldigten auf effektive Verteidigung zu gefährden.[3] Dies ist bedauerlich, zumal bisher, soweit ersichtlich, auch kein Gericht die Forderung nach Offenlegung der Beiordnungspraxis[4] als ganz einfache Möglichkeit der Widerlegung ermessensfehlerhafter Verteidigerauswahl genutzt hat. Manche Gerichte versuchen, durch erleichterte Auswechslung des Pflichtverteidigers zu helfen. So soll, auch wenn eine Entpflichtung des bisherigen Verteidigers aus wichtigem Grund nicht in Betracht kommt, nach inzwischen gefestigter Rechtsprechung eine Auswechslung des Pflichtverteidigers auch dann erfolgen, wenn der Beschuldigte und beide Verteidiger damit einverstanden sind, dadurch keine Verfahrensverzögerung eintritt und auch keine Mehrkosten entstehen.[5] Eine wirkliche Verbesserung wird allerdings nur durch eine Änderung des Gesetzes eintreten.[6]

190

Die nach altem Recht geltenden Beiordnungsfälle bestehen nach wie vor. Ob allerdings alleine der Beiordnungsantrag des Staatsanwalts in der Hauptverhandlung das Gericht zur Beiordnung zwingt, ist umstritten. Das LG Dresden[7] bejaht die Frage. Während sich die Fälle des § 140 Abs. 1 aus dem Gesetzeswortlaut ergeben und in der Regel keine Schwierigkeiten bereiten, bedarf der Antrag des Verteidigers auf Beiordnung nach § 140 Abs. 2 wegen der Schwere der Tat, wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage oder wegen fehlender Verteidigungsfähigkeit des Angeklagten meist einer (zumindest kurzen) Begründung. Wegen der Einzelheiten ist auf die Kommentierungen zu § 140[8] zu verweisen. Aus der Fülle der zu diesem Problemkreis ergangenen Rechtsprechung lässt sich Folgendes zusammenfassen:

191

Die Schwere der Tat ist vor allen Dingen nach der zu erwartenden Rechtsfolgenentscheidung zu beurteilen.[9] Nach einer zu befürwortenden Ansicht in der Literatur[10] ist die Beiordnung stets geboten, wenn Freiheitsstrafe zu erwarten ist. Nach der überwiegenden Auffassung in der Rechtsprechung gilt dies erst ab einer Straferwartung von einem Jahr,[11] in der Regel also bei jeder Schöffengerichtsanklage.[12] In älteren Entscheidungen wurde auch eine Straferwartung von mindestens zwei Jahren verlangt.[13] Unstreitig darf jedoch eine Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren nicht ohne Mitwirkung eines Verteidigers verhängt werden.[14] Bei der Beurteilung der zu erwartenden Rechtsfolgen sind auch bereits verhängte Freiheitsstrafen zu berücksichtigen, falls diese bei einer Gesamtstrafenbildung einzubeziehen wären,[15] oder wenn insoweit ein Bewährungswiderruf droht.[16] Auch außerstrafrechtliche Nachteile, die mit der Verurteilung zusammenhängen, sind zu berücksichtigen. Eine Pflichtverteidigerbestellung ist danach auch notwendig, wenn ein Angeklagter im Falle einer rechtskräftigen Verurteilung mit einer Ausweisung nach §§ 45 ff. AuslG zu rechnen hat.[17]

Hinweis

Der Verteidiger sollte sich aus taktischen Gründen bei der Begründung eines Beiordnungsantrags wegen der Schwere der Tat mit seiner eigenen Wertung zurückhalten, falls die Höhe der Straferwartung nicht eindeutig ist. Es wäre ein schlechter Einstieg in die Verhandlung, wenn der Angeklagte, der sich berechtigte Hoffnungen auf eine Bewährungsstrafe von weniger als einem Jahr macht, von seinem Verteidiger zu hören bekommt, dass die Beiordnung eines Verteidigers „nach der ständigen Rechtsprechung des hiesigen Landgerichts“ bei einer Straferwartung von mehr als einem Jahr „wie im vorliegenden Fall gegeben“ notwendig sei. Der Verteidiger sollte sich in solchen Fällen vielmehr auf die Beurteilung des Falles durch die Staatsanwaltschaft beziehen, die der Angeklagte zwar nicht teilen muss, auf die er sich aber in seiner Verteidigung einzustellen hat.

192

Die Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage gebietet die Beiordnung eines Verteidigers, wenn die Beweisaufnahme besondere Schwierigkeiten bereitet, insbesondere zahlreiche Zeugen vernommen werden müssen,[18] Sachverständigengutachten zu beurteilen sind,[19] Spezialwissen erforderlich ist,[20] die Untersuchung des Angeklagten auf seine Schuldfähigkeit angeordnet worden ist,[21] ein Sachverständigengutachten das entscheidende Beweismittel gegen den Angeklagten darstellt,[22] sich der dem Beschuldigten gemachte Vorwurf aus einer hochkomplizierten Strafvorschrift ergibt (z.B. dem Fernmeldeanlagengesetz)[23] oder im konkreten Fall bisher nicht ausgetragene Rechtsfragen entschieden werden müssen.[24] Ob im Raum stehende Verständigungsgespräche i.S.v. § 257c die Beiordnung eines Verteidigers gebieten, ist strittig,[25] wird aber angesichts der komplexen Rechtslage zu bejahen sein.

193

Die Fähigkeit des Angeklagten zur Selbstverteidigung richtet sich danach, ob er in der Lage ist, der Verhandlung zu folgen, die Prozesssituation zutreffend einzuschätzen und die seiner Verteidigung dienenden Handlungen vorzunehmen.[26] Zu berücksichtigen sind sein geistiger und sein körperlicher Zustand sowie die sonstigen Umstände des Falles.[27]

194

Nach richtiger Auffassung fehlt die Verteidigungsfähigkeit bei Ausländern, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind.[28] Ein Teil der Rechtsprechung hat für diesen Fall daher die Notwendigkeit einer Pflichtverteidigerbestellung, unabhängig von der Schwere des Tatvorwurfs, bejaht.[29] Nach anderer Auffassung gilt dies zwar nicht ausnahmslos, aber regelmäßig.[30]

195

Auch einem Angeklagten, der nicht lesen und nicht schreiben kann, ist ein Verteidiger beizuordnen; dies gilt besonders für eine längere Hauptverhandlung, da ein Analphabet keine Möglichkeit hat, sich als Gedächtnisstütze Notizen über den Verhandlungsablauf und den Inhalt von Aussagen zu machen, ohne die keine angemessene Verteidigung möglich ist.[31] Wird der Mitangeklagte anwaltlich verteidigt, so besteht stets Anlass zu besonders sorgfältiger Prüfung der Frage, ob die Verteidigungsfähigkeit des nicht verteidigten Angeklagten aufgrund dieser Konstellation eingeschränkt ist.[32] Dasselbe gilt für den Fall, dass dem Verletzten ein Beistand beigeordnet worden ist[33] oder sich dieser auf eigene Kosten eines Beistands bedient.[34]

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