Читать книгу: «Schauderwelsch», страница 5
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Liebe Mama, deine Anna
Liebe Mama,
eigentlich geht es mir sehr gut, das Wasser im Mittelmeer ist schön warm und das Brot hier schmeckt cool. Jeden Morgen esse ich ein ganzes Baguette. Nur gestern hatte ich ein weniger schönes Erlebnis. Wir waren mit unserer Pfadfinder-Gruppe ja neu in St. Maries angekommen und kannten den Campingplatz noch nicht richtig. Ich musste dringend aufs Klo, aber habe es nicht richtig gefunden. Das mit den Waschräumen und Duschen war klar, aber wo waren die Klos? Nur so eine Art Bodenwaschbecken gab es, mit einem nicht allzu großen Loch in der Mitte. Ich habe eine Frau nach den Toiletten gefragt, das ist ja ein französisches Wort, und sie hat gelacht und auf diese Bodenwannen gezeigt. In der Mitte haben die solche Erhebungen, zwei waagerechte Flächen für die Füße. Auf die habe ich mich mit den Flipflops gestellt. Und habe mein Geschäft verrichtet. Wahrscheinlich hätte ich mehr in die Hocke gehen sollen. Jedenfalls ist es über die Füße gegangen – und ich habe einen Schrecken bekommen, weil es plötzlich so warm war. Nicht nur warm, auch feucht. Und ich hatte Angst, wegzurutschen.
Deshalb habe ich mit einer schnellen Bewegung nach Halt gesucht und den Griff zu fassen bekommen. Den Griff an der Kette des riesigen Wasserkastens irgendwo unter der Decke. Und dann kam das Wasser angerauscht, wie bei einem Wasserfall. Plötzlich wirbelten die Wassermassen um meine Füße und über das Bikiniteil zwischen meinen Schienbeinen. Ich habe mich so erschreckt, dass ich wirklich ausgerutscht bin und mit dem linken Fuß – er tut immer noch weh – in das Loch geglitscht. Da steckte ich dann fest und konnte mein Bein nicht mehr herausziehen – und die Wassermassen konnten nicht richtig abfließen. Einen Moment hatte ich Panik, zu ertrinken, weil ich inzwischen auf dem Beckenboden saß oder hockte und das Wasser bis über die Hüfte sprudelte. So laut ich konnte, habe ich um Hilfe geschrien.
Jean-Pierre, der Mann vom Campingplatz, hat mich nicht verstanden, aber er konnte ja sehen, was los war. Unter den Armen hat er mich abgestützt und mein Bein aus dem Loch vorsichtig herausgedreht und gehoben. Jetzt weiß ich auch, dass es ein normales südfranzösisches Klo ist.
Als wir nach dem Abendessen am Lagerfeuer saßen, hat mein lieber Bruder die Gitarre genommen und das Scheiße-Lied gespielt. Du weißt, das mit den Strophen wie Scheiße in der Lampenschale gibt gedämpftes Licht im Saale und so weiter – du magst es nicht und hast ihm zu Hause verboten, es zu singen. Und jetzt hat er es in der großen St. Georgs-Lagerfeuerrunde vorgetragen – und sogar noch eine neue Strophe dazugedichtet. Auf mein Missgeschick. Die ist so dumm, dumm, dumm, dass ich sie hier nicht schreiben will. Sag ihm bitte nicht, dass du das alles von mir hast. Dann nennt er mich wieder Petze.
Ansonsten ist es hier sehr warm und wir baden immer im Mittelmeer. Ich bin schon eine richtige Wasserratte.
Liebe Mama, viele Grüße, deine Anna
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Frischwärts
Zwanzigpunktzwanzig
Immer spielt der Peter
online.
Oma schickt ihn
in die Garage.
Frische Luft,
sagt sie.
Sie denkt:
Vielleicht wird es
ein Weltkonzern.
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Wie ich Herrn Müller ausgetrickst habe
So übel ist mein neuer Klassenlehrer nicht. Wir haben ihn in Deutsch und Sport. Er kann super Fußballspielen und beim Turnen hat er uns ein Flickflack vorgemacht. In Deutsch hat er eine Leseliste ausgeteilt. Wenn man ein Buch von der Liste gelesen hat, lässt du dich abfragen und bekommst dafür Punkte, für die dickeren und langweiligeren Bücher gibt es mehr als für die dünnen und spannenden. Für einen Band Harry Potter will er nur fünf Punkte geben, weil das angeblich sowieso jeder kennt. Die Punkte werden aufgeschrieben und am Ende des Halbjahres kannst du deine mündliche Deutschnote um eine ganze Stufe verbessern, aus einer Drei wird eine Zwei usw.. Bei der Gesamtnote zählt bei uns das Mündliche mehr als das Schriftliche. Ich will gute Noten haben, weil ich später ein weltberühmter Architekt werde. Mit einigen Jungen aus meiner Klasse, die im selben Fußballverein spielen, hatte ich mich verabredet, dasselbe Buch zu wählen: Jugend ohne Gott, von Horvath. Jeder liest nur ein Kapitel, beim Training erzählen wir uns dann schnell die anderen in der Umkleide, sodass jeder einen Überblick hat. Herr Müller fragt meist mehrere Schüler zugleich in den Pausen ab. Anselm hatte dann im Internet noch eine Zusammenfassung gefunden und für uns ausgedruckt.
Und dann ging es los, direkt nach der normalen Deutschstunde zu Beginn der großen Pause. Ole erzählte den Anfang des Buches, wie der Lehrer neu in die Klasse kommt usw.. Herr Müller unterbrach ihn mit der Frage: „Wann taucht der gefährliche große Hund auf?“
Ole stockte, runzelte die Stirn und sagte: „Als der Lehrer von der Schule nach Hause gegangen ist.“
Und dann: „Welche Rolle spielt der Hund, Anselm?“
Anselm sagte: „Na ja, der hat den Lehrer angefallen.“
Mit diesen Antworten waren die beiden draußen. „Ihr habt das Buch nicht gelesen, ihr könnt gehen“, so Müller.
Felix erzählte als Nächster von dem Diebstahl und dem Mord, aber Herr Müller kam wieder mit einer Zwischenfrage: „Was ist mit dem Mann im Mond?“ Felix dachte, das wäre eine Fangfrage, dachte ich übrigens auch, und sagte: „Der kommt nicht vor.“
Dann konnte auch Felix gehen, es war doch keine Fangfrage. Ich blieb übrig und erzählte das Ende des Romans, wie der Lehrer nach Afrika fährt. Herr Müller fragte mich, welche Bedeutung die Prinzessin aus dem Hochadel hat. Keine Ahnung, aber ich bin ein guter Spieler, ich sagte: „Sie kommt nicht vor.“
„Richtig“, meinte Müller, „aber du kannst bestimmt etwas zu dem Erdbeben sagen.“ Ich hatte wieder keine Ahnung, ich bluffte: „In dem ganzen Roman ist die Erde ruhig.“
„Stimmt“, sagte Herr Müller, „du scheinst das Buch gelesen zu haben, volle Punktzahl.“
Tricksen und Täuschen zahlt sich aus! Allerdings werde ich noch mal nachlesen, wie das mit dem Mann im Mond ist, ob es den gibt, bin da halt neugierig geworden.
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Die Ziege, der Wolf und die sieben Geißlein
Ein Märchen von der Liebe
Es war einmal ein neugieriger Wolf, den trieb es auf die alte Route, die von Polen bis nach Frankreich führt. Er folgte der Fährte bis ins Mecklenburgische, da wurde er von einem schrecklichen Unwetter überrascht. Die Bäume bogen sich im Orkan, die morschen Äste brachen und fielen krachend und splitternd zu Boden. Blitze schlugen in das Wasser des nahen Sees und schreckten Reiher und Enten auf, und in der Luft lag der Geruch von Schwefel. Der Sturm heulte so laut, dass er nicht von dem andauernden Donnern zu unterscheiden war. Der Regen fiel so dicht, dass sich die Erde unter den Pfoten verflüssigte und der alte Wolfspfad sich in einen Bach verwandelte. Kurzum, es war kein Reisewetter.
Also beschloss der neugierige Wolf, seine Wanderung zu unterbrechen und unter einer alten Eiche Schutz zu suchen, denn er teilte nicht den Aberglauben der Menschen und kannte deshalb auch nicht das Sprichwort von den Eichen, vor denen zu weichen wäre. Als er seinen Körper gegen den mächtigen Eichenstamm drückte, bemerkte er Bewegungen hinter und über sich. Er war nicht der Einzige, der hier Zuflucht gesucht hatte. In strömendem Regen kletterte eine Katze an der Eichenrinde nach oben und entschwand im dichten Laubwerk. Die Bewegung hinter ihm hatte eine junge Ziege verursacht, die jetzt allerdings keinen Mucks mehr von sich gab, sondern in Schreckstarre verharrte. Die Ziege hatte zwei schöne braune Flecken in ihrem Fell und sie roch trotz des Regens köstlich nach Klee und Gras. Er stupste sie mit seiner warmen feuchten Nase, über deren magische Kraft er im Lauf der Zeit ein schwaches Bewusstsein entwickelt hatte. Damit dieser wunderbare Nasenzauber auch recht zur Geltung gelangte, bemühte er sich, seine schönen weißen Zähne nicht blinken zu lassen, er hatte da so seine Erfahrungen. Und tatsächlich tat der Nasenzauber seine Wirkung. Die Ziege rührte sich wieder und sprach mit zitternden Flanken: „Friss mich nicht!“
Der Wolf, der vor Kurzem einen Hasen verspeist hatte, war nicht hungrig, sondern zunehmend von einer anderen Neigung beseelt, die als einzige in der Lage ist, die sonst undurchdringlichen Grenzen zwischen den Tierarten dahinschwinden zu lassen, genauso wie sie als einzige Kraft bei den Menschen die Barrieren zwischen den Kulturen durchlässig macht.
„Hallo Ziege“, flüsterte der Wolf zärtlich.
Doch die Ziege mochte dem Frieden nicht recht trauen. Immerhin hatte sie ihre Sprache wiedergefunden: „Wie sollen wir uns vertragen, dir knurrt doch gleich der Magen.“
Doch dem verzückten Wolf stand der Sinn nicht nach Fressen, die Kraft der Liebe zügelte seinen Appetit vollkommen, und als er ihre Ohren sanft leckte, verschwendete er keinerlei Gedanken daran, wie diese wohl schmecken würden. Er spürte ihr weiches samtiges Fell mit den Lippen und nahm es leicht zwischen die Zähne. Und da schlug auch bei der Ziege die Liebe ein wie ein Blitz, sie erdrückte fast den Wolf und hätte ihn vor Liebe fressen können. So warteten die beiden ab, bis das Gewitter hinweggezogen war, und wärmten sich gegenseitig.
Als es aufgehört hatte zu regnen und der Wind sich gelegt hatte, sprach die Ziege: „Gegen die Liebe ist kein Kraut gewachsen.“
Und der Wolf erwiderte mit wohltönender Stimme: „Der Liebe kann niemand entgehen.“ Und so gingen sie gemeinsam in das modern ausgestattete Walmdachhaus, in dem die alleinerziehende Geiß mit ihren sieben Kindern wohnte. Die Geißlein waren ganz aus dem Häuschen, dass ihre Mutter wieder einen Freund hatte, und sie schlugen Kapriolen und machten die wagemutigsten Bocksprünge.
So lebten sie glücklich für sieben Tage, zuerst von Luft und Liebe, dann sammelte der Wolf Gras und Löwenzahnblätter und hin und wieder ein paar Mäuschen, mit denen die Geißlein aber wenig anzufangen wussten. Der Wolf lernte schnell und er fand Gefallen am modernen Ziegenleben, er lernte mit dem Herd hantieren und die Musikanlage bedienen, selbst der Rechner blieb ihm nicht fremd. Allerdings sang der Wolf am dritten Tag unter der Dusche: „Die Liebe, die soll blühn, ich mag aber kein Grün!“
Die Ziege, die den Gesang zufällig gehört hatte, drehte ihm sofort das warme Wasser ab und war empört. „Wenn du mich liebst“, meckerte sie, „musst du dein Leben ändern.“ Und sie erhob reimend ihre Stimme: „Liebe geht auch durch den Magen, sonst wird sie nicht lange tragen.“
Und die kleinen Zicklein rappten den Refrain.
Das Wohlleben hatte den Wolf bequem und unaufmerksam gemacht, und er merkte gar nicht, dass ihm Familie Ziege ein Ultimatum gestellt hatte. Als der Wolf den dritten Tag nacheinander weder sein Zimmer aufgeräumt noch frisches Grünzeug organisiert hatte, warf die Ziege ihn kurzerhand hinaus. Der Wolf trollte sich und fraß versehentlich einen Dackel, der ihm in der Nähe eines Parkplatzes in die Quere kam. Er war todunglücklich und zog nicht weiter auf der alten Wolfsfährte nach Westen, sondern blieb in der Nähe des Hauses.
Eines Tages beobachtete der Wolf, wie es seine Art war, das Haus der geliebten Geiß. Er sah, dass sie die Tür hinter sich verschloss und verriegelte und ausging, wohl um Futter zu holen. Sie hatte also die Kinder alleine zurückgelassen. Und einige Zeit später bemerkte der Wolf Rauch über dem Dach des Hauses, der nicht aus dem Schornstein stammte. Obwohl das Haus sehr neu war, hatte es ein altes Reetdach und der Wolf wusste gut, wie lichterloh diese Dächer brennen können. Mit Feuer kannte sich der Wolf überhaupt gut aus, denn die Jäger hatten oftmals versucht, ihn mit Feuer aus Dickichten zu vertreiben, in denen er sich versteckt hatte oder ihn aus seinen Höhlen auszuräuchern.
Der Wolf dachte kurz und tief nach, und mit zu Schießscharten verengten Augen und mahlenden Kiefern presste er hervor: „Ich muss sie täuschen, wenn ich sie retten will. Denn ihre Mutter hat sicher nicht viel Gutes über mich erzählt.“
Er nahm seinen Rucksack, den er seit dem Aufenthalt im Hause Ziege besaß, und eilte zum Eingang des gefährdeten Hauses. Er drückte auf den Klingelknopf und hoffte, dass ihm nun kein Fehler unterliefe. Als eine Kennziffer verlangt wurde, tippte er das Geburtsdatum der Ziege ein, denn er wusste: Sie war eitel. Es klappte auf Anhieb. Als er von der scheppernden Stimme aufgefordert wurde, eine Erkennungsmelodie zu singen, dachte er nach, was Ziege meist gesungen hatte, im Bett, in der Badewanne, in der Küche. Ihm fiel ein Rocksong ein, er holte seinen I-Pod aus dem Rucksack und spielte den Originalsong in die Sprechanlage, den die geliebte Ziege immer gesummt hatte. Es funktionierte ebenfalls.
Als er aufgefordert wurde, seine Pfote auf den Scanner zu legen, wurde er ein wenig unsicher. Sein eigenes Fell war zu struppig, aber auch das der Ziege war an den Füßen nicht sehr schön. Ihm fiel wieder ihre Eitelkeit ein: Bestimmt hatte sie das feinere Fell eines anderen Tieres oder ein schönes Tuch zur Erkennung eingegeben. Auf gut Glück legte er ein Mäusefell auf die Photozelle, und die Tür sprang auf. Im Nu war er bei den sieben Geißlein, die im Zickzack durch das Treppenhaus liefen und sich in den Zimmern versteckten. Er musste sie nach draußen bringen, damit sie nicht verbrannten, und zwar alle auf einmal. Denn wenn er ein Zicklein nach dem anderen aus dem Haus brächte, würden ihn die restlichen Geißlein aussperren, denn sie waren muntere Gesellen. Sie würden die Schlossanlage verändern oder sich verbarrikadieren, sodass er nicht mehr hereinkäme.
Und da kam die Eingebung. Er hatte von Tieren gehört, die ihre Jungen zum Schutz in den Mund nahmen und sie wieder freiließen, wenn die Gefahr vorbei war. Sein Mund war so groß nicht, er musste sie vorsichtig herunterschlucken und anschließend wieder hochwürgen, als wäre er ein Wiederkäuer. Eine Zeit lang würden sie in seinem Bauch überleben können, dafür gab es Beispiele.
Gesagt, getan.
Er stöberte die Geißlein in ihren Verstecken auf und verschluckte sie, eins nach dem anderen, bis er das Gefühl hatte, er würde gleich platzen. Mit schweren Schritten torkelte er aus dem Haus und legte sich schwer atmend unter den nächsten Busch in einiger Entfernung von dem Ziegenhaus. Vor Anstrengung und Müdigkeit schwanden ihm die Sinne und bald schnarchte er in einem tiefen ohnmächtigen Schlaf.
Er hatte einen schweren Traum, in dem die Mutter Geiß zurückkam. Sie ging ins Haus und holte etwas, aber sie herzte und streichelte ihn nicht, sondern schnitt ihm mit einem Skalpell den Bauch auf, um alle ihre Kinder schnell wieder an die frische Luft zu holen. Und dann hantierte sie in seinem Bauch herum, ohne dass er sehen konnte, was sie da eigentlich machte. Und er wurde im Traum immer schwerer, und er hatte einen großen, großen Durst. Mühsam richtete er sich auf und bewegte sich zum nächsten Brunnen, um seinen Durst zu löschen. Als er sich aber über den Brunnenrand beugte, verlor er plötzlich das Gleichgewicht und eine mächtige Kraft zog ihn nach unten und er fiel und fiel, und während seines Falles hörte er von weit oben über sich Gesang und Geschrei, und es klang, als würde da gerufen: „Der Wolf ist tot! Der Wolf ist tot!“
Als der Wolf immer tiefer in seinen Albtraum fiel, kam ein kräftiger Regen auf, der das Feuer im Reetdach löschte. Als die Ziege nach Hause kam, hörte sie von dem Zicklein, das der Wolf vergessen hatte, die Geschichte. Und sie machte sich ihren eigenen Reim darauf. Sie ging zum Brunnen, zum Wolf, der im Schlaf stöhnte, schüttelte ihn sanft an den Schultern. Als er die Augen aufschlug, sagte sie zärtlich: „Wolf! Lieber Wolf! Ich werde dich nie wieder hinauswerfen! Und sie streichelte über seinen Bauch.“
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Blondmarie
Oder wie der Hans zum Großbauern wird
Eine schlechte Ernte steht ins Haus! Das muss man sich mal vorstellen. Sie steht ins Haus, sie ist noch gar nicht da. Bestens noch leben alle von der letzten Ernte, die Scheunen und Ställe und Vorratskammern sind voll. Hans schüttelt den Kopf und bestellt ein Bier. Die Sonne scheint und es riecht nach Frühling. Ihn will kein scheuendes Pferd abwerfen und er muss keiner spritzenden Kuh an das Euter. „Und was sollen wir im nächsten Jahr essen?“, fragt ihn der Jungbauer mit dem grünen Hut.
„Das wird sich schon finden“, sagt Hans und lacht.
„Sind wir dir egal?“, fragt der Jungbauer und runzelt die Stirn. „Wenn wir nichts zu essen haben, wirst du auch hungern.“
„Mal sehn“, sagt Hans. Über seine Hand buckelt eine Raupe.
Im Dorf seiner Mutter ist gerade Jahrmarkt. Deshalb ist er gar nicht erst nach Hause gegangen, Mutter läuft nicht weg. Er sitzt vor dem Tanzboden unter der Linde und redet ein bisschen mit den Jungs, die die Mundwinkel hängen lassen. Und die Schultern. Wegen der schlechten Ernte. Alle Mühe umsonst. Es reicht gerade noch zum Trinken. Zum Tanzen nicht mehr, aber das macht nichts, denn Hans ist immer zu einem Tänzchen aufgelegt. Und die Mädchen sind besser gelaunt und so tanzfreudig, dass sie sogar ohne Jungen tanzen.
Der Reiter mit dem gelben Hut bindet sein Pferd fest, tritt an die Theke unter der Linde, sieht zu den Tanzenden. Und dann staunt er: Da tanzt doch tatsächlich der Hans, dessen Pferd er eingetauscht hat. Tanzt der Hans da mit der Blondmarie? Wie macht er denn das! „Mit mir tanzt sie nicht, und ich habe zwanzig Morgen Land im Rücken.“
Die Glatze mit dem Ohrring lacht. Die Blondmarie wird die riesigen Felder im Westen des Dorfes erben. Die sieht nicht auf das Land, die sieht nur ins Gesicht, und du hast da eine Zahnlücke. Und der Hans ist hell und strahlt, als würde die ganze Zeit die Sonne scheinen.
Hans dreht sich rechts herum und flüstert der Marie ins Ohr: „Ich kann aber nicht reiten.“
„Bei mir wirst du das schon lernen“, lacht die Marie.
Hans dreht sich links herum und sagt ihr in das andere Ohr: „Ich kann aber nicht melken.“
Marie dreht sich, dass die Zöpfe fliegen, und ruft: „Dafür habe ich doch meine Knechte!“ Und sie walzen zusammen, dass das Zusehen eine Freude ist.
„Wer hätte das gedacht“, sagt der Scherenschleifer, und setzt sein Schnapsglas ab, „die Goldmarie. Jetzt macht der Hans sein Glück, ohne dass er ein Schleifer geworden ist. Wie macht er das nur?“
Der Pfarrer tritt unter die Linde und bestellt einen Weißwein. Nach dem ersten Schluck legt er dem Schleifer die Hand auf die Schulter: „Immer gewinnt die Liebe, mein Sohn, amor omnia vincit.“
„Mein Hänschen“, ruft die Mutter, als er ihr am Abend seine Braut vorstellt.
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Sie sitzt auf
Ein Feenmärchen
Wie splitterndes Holz war die erste schöne Sommerwoche in die Brüche gegangen. Am Morgen war er zu einem Termin im Personalbüro eingeladen. Carlotta, die vor Kurzem an einer ganzen Mannschaft verdienter Mitarbeiter vorbei zur Personalchefin befördert worden war, blitzte ihn spitzbübisch an. Ob er sich in der letzten Zeit Gedanken über seine berufliche Zukunft gemacht habe, wollte sie wissen, während sie Latte Macchiato orderte. Vielleicht lächelte sie, vielleicht war dies ihre Mundform, jedenfalls hatte er das angenehme Gefühl, im selben Boot zu sitzen. Seit Längerem hoffte er, in die Abteilung versetzt zu werden, die die Gourmet-Zeitschriften betreute. Für den Sterne-Koch und die Essen und Feiern hatte er schon häufiger mit viel Vergnügen fotografiert und getextet. Immerhin hatte er vor ein paar Jahren im Interconti eine Lehre als Koch abgeschlossen. Er liebte gutes Essen.
Nachdem die Sekretärin den Kaffee gebracht hatte, ließ Carlotta ihre silbernen Ohrringe leise klirren und setzte das Gespräch fort, indem sie sich über die Entwicklung des Internets und den Rückgang der Print-Medien ausließ. Er hörte ihrer warmen Stimme gerne zu, auch wenn ihre Ausführungen erst einmal nicht viel Neues enthielten. Säße er jetzt dem Chef direkt gegenüber, wäre es weniger behaglich, es gäbe keinen Small-Talk, sondern Excel-Tabellen und Statistiken. Beim Chef war der Glamour-Faktor kaum vorhanden, er betonte, dass er rechnen könne.
Die Internet-Werbung, unterstrich Carlotta mit freundlichen Armbewegungen, würde weiterentwickelt und die Etats für die Print-Medien halbiert. „Und hier, lieber John“, – in der Firma war es hierarchieübergreifend üblich, sich zu duzen – „ kommst du ins Spiel.“ Anders als er hatte sie sich durchaus über seine berufliche Zukunft Gedanken gemacht, mit dem Ergebnis – „da wollen wir nichts beschönigen oder verklären“ – ihn zu kündigen. Erst einmal. Mit einem kleinen Scherz hatte sie versucht, ihn über den Moment seiner Sprachlosigkeit zu bringen und hinzugefügt, „als Freelancer würden wir deine Dienste aber gerne weiter in Anspruch nehmen.“ Da sein anarchischer Geist in solchen Situationen zu Entgleisungen und Geschmacklosigkeiten neigte, hatte er sich zur Ruhe gezwungen und schafsgeduldig zurückgelächelt.
Es gibt Tage im Leben, an denen so viel schiefläuft, dass sie einen surrealen Charakter annehmen. Nach seinem ersten Scheitern am Vormittag folgte sein zweites am Abend, beim Italiener. Zum Dessert trieb ihm seine Freundin einen Eiszapfen durchs Herz. Sie erklärte ihre Beziehung für beendet. Er wäre mit dem Job verheiratet usw.. Er fühlte sich wie im Auge eines Orkans – und verzichtete auf den Grappa. Er benötigte jetzt eine wirklich rauschhafte Auszeit, fand er.
Am nächsten Morgen nahm er sich frei und die BMW aus der Garage. Auf der Autobahn Richtung Berlin fuhr er, nun ja, zügig. Obwohl er die Maschine auf 200 Kilometer beschleunigte, sah er überall Carlottas blonde Locken oder die Züge seiner trennungsfreudigen Freundin in den tieffliegenden Wolken und wogenden Feldern und später noch im Nebel, der sanft aus dem Schweriner See aufstieg. Und dann stand sie irgendwo hinter Schwerin an der langen Straße, die mitten durch den See führt, neben einer großen Birke; hell gekleidet, mit rosafarbener Bluse und hellblauen Hot Pants, ihr Schal und die Sandaletten waren weiß. Fast hätte er sie übersehen, doch dann bremste er, ohne zu zögern, und hatte schon genickt, ehe sie ihre Frage überhaupt formulierte. Ein pudriger Geruch lag in der Luft, er sah ihre seidig schimmernden Beine, als sie auf den Sozius aufstieg. Ja, er könne sie nach Hause fahren zu einem See, dessen Namen er noch nie gehört hatte.
Unter dem hochgeklappten Visier rief er über die Schulter nach hinten: „In Ordnung, Nadja, ich heiße John. Und was machst du beruflich?“
„Fee“, rief sie mit klarer und wohlklingender Stimme zurück.
„Natürlich“, lachte er und schrie gegen den Fahrtwind: „Ich liebe Feen!“ Dann gab er Gas und schaltete hoch. Sie presste sich mit aller Kraft an seinen Rücken und rief etwas Unverständliches. Ihre Hände spürte er auf Bauch und Rippen, zwischen den Schulterblättern ihr Gesicht oder ihre Wangen. Und als er vor der Kurvenstrecke in Richtung Güstrow herunterbremste, drückten ihre Brüste sanft auf seinen Rücken. Seine Vorstellung einer Fee war bisher durch die feingliedrig geflügelten Feen-Skulpturen des Wieland-Denkmals am Entenmarkt bestimmt, wo er einmal gearbeitet hatte. Ihr Gesicht? Hatte er eigentlich noch gar nicht richtig gesehen. Ihren Mund schon, allerdings zu kurz, um ihn beschreiben zu können, aber schon zu lang, um ihm nicht zu verfallen. Von diesen verlockenden Lippen konnte nur Gutes kommen.
Rechts und links der Landstraße leuchteten jetzt riesige Rapsfelder gelb in der durchbrechenden Sonne, am Himmel waren Greifvögel und Störche. Er spürte, wie sich die schwarze Blase irgendwo in seinem Inneren auflöste, die Wut auf Carlotta und seine Trennungsfreundin war wie weggeblasen. Die Fee auf dem Sozius hatte so einiges bei ihm durcheinandergebracht, seine Gedanken, seine Gefühle. Obwohl er sie durch den Motorenlärm nicht verstehen konnte, dirigierte sie ihn klar und deutlich zu ihrem Ort. Über Körperberührungen, Gedankenübertragung?
Er hatte das Gefühl, durch die Lederhose hindurch ihre Hüften zu spüren, die seltsam hager wirkten. Ihm fiel ein, dass er ihr Gesicht noch nicht wirklich gesehen hatte. Jedenfalls bogen sie in einen Feldweg ab, der durch weite Getreide- und weitere Rapsfelder führte. Der Rapsgeruch wurde zunehmend durch den des überall blühenden Holunders überlagert, er spürte die Sonne auf dem Kinn, links blitzte der See, der sich hinter Hügeln verlor. Sie fuhren gemächlich durch eine Häuseransammlung, die auf einem Ortsschild angekündigt worden war. Ihre Stimme war wieder zu verstehen, doch sie klang krächzend, der Kopfsteinweg war so uneben, dass er sogar mit seiner BMW langsamer fahren musste. Hohe und labyrinthische Hecken verstellten den Blick auf die wenigen Häuser, an einer Stelle blickte ein Bullenkopf hindurch, gegenüber auf der anderen Seite des Weges ging der Blick auf Weiden, die sich hügelabwärts zum See erstreckten. Auf ihnen standen schwere schwarze Pferde.
Vor einem roten Backsteinhäuschen winkte hinter einer niedrigeren Ligusterhecke gleich an der Straße eine alte Frau mit einer Sichel in der Hand. Offensichtlich kannte sie seine schöne Beifahrerin, er fuhr noch langsamer und glaubte, seine Fee lachen zu hören, sehr heiser, doch das musste die alte Frau im Garten gewesen sein. Er öffnete das Visier, im Schritttempo rollten sie langsam bergab, der Motor tuckerte, vorbei an einigen kleinen Bungalows direkt am See, die wohl als Ferienhäuser dienten und augenblicklich nicht bewohnt waren. Der Weg führte über eine Rasenfläche durch einige Weidenhecken und Knicks hindurch auf einen schmalen Damm, der sich in eine dichte Schilflandschaft zu weiten schien. Wo hier das Land endete und das Wasser begann, war nicht zu erkennen. Zwei Weiden waren zu einer Pergola zusammengebunden, an ihr hing eine Girlande aus getrocknete Blumen und Kräutern. Vor einer weiteren Weide stand so etwas wie ein Kaninchenstall, eine eigenartige Holzkonstruktion. Hinter ihm lachte es krächzend. Er hielt an und blickte über die Schulter: auf eine überdimensionierte Sonnenbrille, die in einem uralten Gesicht saß. Die Stirn war verrunzelt, die Wangen eingefallen, die schmalen Lippen unter der knöchernen Nase farblos. Die Gestalt der schönen Beifahrerin war wie geschrumpft. Als wäre sie ein kleines Kind, reichte der Kopf nicht bis zu seinen Schultern. Ihn schwindelte. Mit letzter Kraft stellte er das Motorrad ab und sank daneben zu Boden. Er verlor das Bewusstsein.
Als er aufwachte, hatte er einen aromatischen Duft in der Nase. Eine Teetasse wurde an seine Lippen gedrückt, er nahm vorsichtig einen Schluck und öffnete die Augen. Neben ihm saß die alte Frau, die noch immer ihre Augen hinter einer Sonnenbrille unter Verschluss hielt.
„Ich verstehe deinen Schrecken“, flüsterte sie, „leider habe ich nicht genügend Kraft, um meine wahre Gestalt während des ganzen Tages aufrecht zu erhalten. Wie bei einem Handy, dessen Akku leer ist, setzt nach einigen Stunden die Wandlung zur alten Frau ein. Um neue Energien zu sammeln, brauche ich anschließend eine ganze Nacht. Ja, ich verstehe deinen fragenden Blick, doch ich bin eine echte Fee, aber auf mir liegt ein Bann. Ja, das ist eine lange Geschichte.“ Sie reichte ihm erneut die Tasse, die er austrank.
Sein Kreislauf belebte sich, die Alte hob an: „Es ereignete sich vor langer Zeit auf einem Mondscheinfest hier am See. Nicht nur die freundlichen Feen waren geladen. Und so erschien auch Fanferlüsch. Sie hielt einen Kröterich an der Leine, den sie zur allseitigen Belustigung über ein Stöckchen springen ließ und der auf Kommando ein wenig quakte. Um sich mit einigen Elfen plantschend am Ufer zu vergnügen, ließ ihn Fanferlüsch zurück. Meine Zwillingsschwester Melusine und ich kümmerten uns um den Kröterich und wandten beim Spielen verschiedene leichtere Zauber auf ihn an. Und wie der Zufall es wollte, zeigten diese überraschend Wirkung. Das ist so ähnlich, als stießest du beim Computerspielen plötzlich auf ein Kennwort und könntest dich einloggen. Zuerst nahmen wir die Schwachstellen an seinem Kopf unter Zauber, im Weiteren bezauberten wir ein bisschen seinen Unterkörper, und siehe da, der Kröterich wandelte sich zu einem jungen Mann, der hübsch anzuschauen war, wenn er auch etwas einfältig daherredete. Wir spielten Fangen und bespritzten ihn mit Wasser. Alles war ganz harmlos wie auf einer Pyjama-Party. Melusine ließ sich von ihm gerade ihren Rücken massieren, als Fanferlüsch zurückkehrte – und überreagierte. „Warum lasst ihr nicht die Finger von meinem Frosch!“ Uns ließ sie gar nicht erst zu Wort kommen. „Ich will euer doppelzüngiges Gerede nicht hören“, schrie sie, „ich werde euch in einen Zustand bringen, der euer Privileg der Unsterblichkeit in sein Gegenteil verkehren wird, und dich, Melusine, werde ich mit einem besonderen Bann belegen.“ Und dann wurde es finster, schreckliche Wirbelwinde peitschten das Wasser, und als das Unwetter vorüber war, fanden wir uns als missgestaltete Greisinnen wieder. Meine Schwester war noch mehr geschrumpft als ich, auf ihr lastet der Fluch der Verzwergung. Darüber hinaus hatten wir fast alle Zauberkompetenzen verloren, sogar die einfachsten Hauszauber-Formeln funktionierten nicht mehr. Und nachdem Fanferlüsch so ausgerastet war und uns dergestalt sah, beruhigte sie sich ein wenig und sie wollte wissen, was wir mit ihrem Frosch genau gemacht hätten. Wir berichteten aufrichtig von unseren Spielen am Ufer, und da wurde sie ganz still und sagte, sie habe wohl vorschnell gehandelt und jetzt Mitleid mit uns. Es sei aber nicht mehr in ihrer Gewalt, den Bann insgesamt rückgängig zu machen, sie könne ihn nur abmildern. Und dann sprach sie wörtlich: „Sobald ihr einen jungen Mann unter dreißig Jahren gefunden habt, der euch liebt, sollt ihr zurück in eure ursprüngliche Gestalt verwandelt werden. Seitdem haben wir Fanferlüsch nicht mehr aus der Nähe gesehen. Sie hat wohl ein schlechtes Gewissen – zurecht. Mit unseren verbliebenen Kräften und Fähigkeiten vermögen wir den Bann nicht aufzuheben. Und die paar Stunden, die ich täglich meine wahre Gestalt annehmen kann, waren zu wenig, um einen wirklichen Retter zu finden.“
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