Читать книгу: «2610 m ü.M. Irma Clavadetscher», страница 3

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Nachdem Bruder und Schwester in Chur in die Rhätische Bahn umgestiegen sind, ist Franz’ Aufmerksamkeit ganz auf die spektakuläre Bahnstrecke nach St. Moritz gerichtet. Er blickt unentwegt aus dem Fenster, steht sogar ab und zu auf und setzt sich kurz ins Zugabteil auf der anderen Seite, wenn diese den interessanteren Ausblick verspricht. Kehre um Kehre, Tunnel um Tunnel, Brücke um Brücke schlängelt sich der Zug gemächlich in die Höhe, bis er schliesslich, nach einem kurzen Halt in Preda, in den Albulatunnel einfährt. Nach dem Lärm und der Düsternis des Tunnels entfaltet sich das liebliche, sanft abfallende Val Bever mit dem lockeren Lärchen- und Arvenbestand und dem klaren, sprudelnden Beverin fast wie der Park eines exklusiven Wohnsitzes der von Planta oder von Salis. Dann der elegante, fein gegliederte Kirchturm von Bever, Samedan mit den schönen Patrizierhäusern im Zentrum und schliesslich St. Moritz, damals, 1961, noch nicht ganz so mondän wie heute.

Während der ganzen Fahrt nimmt Irma die Naturschönheiten nur mit einem halben Auge wahr und reagiert lauwarm auf die Ausrufe ihres Bruders «Hast du das gesehen?!», «Schau dir das an!» Im Abteil gegenüber sitzen zwei junge Männer mit Bergschuhen an den Füssen und grossen Rucksäcken, an denen Pickel, Seil und Klettereisen befestigt sind. Sie sind in ein Gespräch vertieft über Wetterbedingungen, Details ihrer Route und erwähnen den Piz Morteratsch, den Piz Tschierva – Gipfel, deren Namen Irma noch nie gehört hat. Neugierig betrachtet sie die beiden: zwei gross gewachsene, gut aussehende Männer in Bergkleidung, mit kurz geschnittenen Haaren, die Gesichter leicht gebräunt. Aber irgendwie wirken sie trotzdem blass; etwas langweilig, befindet sie. Unwillkürlich taucht in ihr Hittas Bild auf, seine dunklen Augen und Haare, das tief gebräunte Gesicht, in dem die Zähne so weiss hervorblitzen, wenn er lacht. Die Ruhe, die er ausstrahlt, und wie fest und sicher er auf dem Boden steht, obwohl er längst nicht so gross und breit gebaut ist wie die beiden Männer im Abteil gegenüber. Wie wird es sein, ihn in dieser neuen Umgebung zu sehen, in der Hütte, die ihm offenbar viel bedeutet? Wie das wohl sein mag, da oben zu leben? Freut er sich auf ihren Besuch? Irma spürt eine eigenartige Unruhe bei diesen Gedanken, die sie auch später, während des Aufstiegs von St. Moritz zum Hahnensee und zur Fuorcla Surlej, nicht loslassen.

Die Steinwüste, die sie mühsam kurz vor Erreichen der Fuorcla Surlej durchqueren, lässt noch nichts vermuten von der Schönheit und Erhabenheit der gewaltigen Arena aus Fels und Eis, die sich ihnen eröffnet, als sie oben ankommen. Der Piz Bernina und die ganze Berninakette mit dem Roseggletscher scheinen zum Greifen nah, und vom kleinen See, wo sie Rast machen, bietet sich ein herrlicher Blick auf die Sellagruppe. Irma hat noch nie einen Gletscher gesehen, noch nie solche Massen aus Fels und Eis. Sie ist sprachlos. Hitta hat ihr zwar immer wieder einmal eine Postkarte geschickt mit Fotos der Berge, die er gerade erklettert hatte, aber kein Bild könnte eine Ahnung vermitteln von der Wucht des Eindrucks, den diese Landschaft macht.

Der Weg, den sie nun noch bis zur Hütte zurücklegen müssen, ist im Vergleich zum Aufstieg, den sie hinter sich haben, gemütlich. Nach einem kurzen Abstieg schlängelt er sich dem Bergabhang entlang, gesäumt von satt-farbigen Alpenblumen, die Irma grösstenteils noch nie gesehen hat. Enzian, Alpenrose und Edelweiss kennt sie natürlich von kitschigen Heimatbildern und aus süsslich-populären Liedern, aber von Frauenmantel, Türkenbund, Himmelsherold, Knabenkraut, Frauenschuh und Schwefelanemone hat sie noch nie etwas gehört, geschweige denn sie in natura gesehen. Das unscheinbare Männertreu, dessen verführerischen Vanilleduft sie beim Vorübergehen nicht wahrnehmen kann, fällt ihr nur deshalb auf, weil gerade ein hübscher, gelber Falter darauf sitzt.

Ungefähr eine Stunde später sehen sie die graue Steinhütte mit dem flachen Satteldach, die sich dicht an eine hohe Felswand schmiegt, und sie bleiben einen Augenblick stehen, um sie zu betrachten. Die Fenster sind klein, damit der Wärmeverlust im Winter möglichst gering ist, und sie sind zum Schutz gegen Wind und Wetter tief in die dicken Mauern eingelassen. Vor der Hütte befindet sich eine Terrasse, von einer Steinmauer umgeben, und einige Steinstufen führen zur Hüttentüre empor. Es ist kein Mensch zu sehen. Irma und Franz sind beide überwältigt von der Schönheit, die sie hier umgibt: schneebedeckte Gipfel, blühende Bergwiesen, Ruhe und tiefer Frieden. Das hier ist eine ganz neue Welt, eine Welt für sich, in jeder Hinsicht weit entfernt von der, aus der sie kommen und die sie kennen. Es ist Franz, der zuerst Worte findet: «Mein Gott, ist das schön hier!» Ja, es ist wunderschön hier, einmalig schön. Irma bringt kein Wort hervor. Da kann man atmen, sich bewegen, sich selbst sein; das ist Freiheit. Die Enge von Schmerikon, das lärmige Zürich sind weit weg. Gleichzeitig sind da auch leise Zweifel: Könnte sie, so wie Hitta, während Monaten hier leben? So völlig abgeschieden von allem, was ihr vertraut ist? Umgeben von Fels und Eis?

Bruder und Schwester stehen noch immer da und staunen, als sich die Hüttentüre öffnet und Hitta ihnen entgegentritt.

Zwei Tage später verabschieden sich Franz und Irma von Hitta und seiner Mutter, der Nane, die einige Tage bei ihrem Sohn verbringt und ihn bei der Bewirtschaftung der Hütte unterstützt, und wandern zurück zur Fuorcla Surlej. Wieder bleiben sie an derselben Stelle des Pfads stehen, wie zwei Tage zuvor, und blicken zur Hütte zurück. Wiederum ist es ein herrlicher Sommertag, und ein tiefblauer Himmel wölbt sich über ihnen. Franz schaut Irma von der Seite her lange an. Dann sagt er: «Es ist wirklich so schön hier, dass man sich fast vorstellen könnte, den ganzen Sommer über zu bleiben.» Und sie glaubt, einen fragenden Unterton zu hören. «Ja, es ist schön», sagt sie so leichthin wie möglich – und als sie weitergehen, beginnt sie, über Banalitäten zu plaudern: über den Weg zurück nach St. Moritz, über den Fahrplan, die Umsteigezeiten und ihren nächsten Arbeitstag im St. Annahof in Zürich. Niemand braucht von den Gefühlen zu wissen, die sie gerade völlig durcheinanderbringen. Natürlich ist sie verliebt in Hitta, ja, klar, und er auch in sie, aber das ist ja nicht ganz neu. Und dennoch fühlt sie sich so verwirrt, so an- und aufgeregt, wie wenn sie dieses Gefühl des Verliebtseins erstmals neu entdeckt hätte. Ja, natürlich, das muss es sein: Sie hat sich tatsächlich neu verliebt; in alles hier, in die Hütte, samt Hund und Maultier, in das einfache, ursprüngliche Leben und in diese Hochgebirgswelt.

Hast du nun völlig den Verstand verloren?, hört sie ihre Eltern sagen, und sie sieht auch die vielsagenden Blicke, die sich ihre Freundinnen und die alten Schulkameraden zuwerfen würden. Ganz Schmerikon würde den Kopf schütteln ob ihrer Verrücktheit, und ihr Vater würde ohne Zweifel ausrasten. Aber was kümmert sie das? Niemand wird erfahren, was in ihr vorgeht, sie wird erst einmal bis zum Ende des Sommers im St. Annahof weiterarbeiten und dann im Herbst für eine weitere Wintersaison nach Arosa gehen. Und dann wird man weiterschauen.


Die Loreley vom Zürichsee: Irma in Schmerikon, 1961. Kurz vor ihrem Besuch auf der Coaz-Hütte, als sie die herrlichen Berge mit der Sellagruppe zum ersten Mal sieht. Irma und Hitta verbringen 1963 ihren ersten gemeinsamen Sommer auf der Hütte, unternehmen Touren und leben ihren Alltag zusammen in der rauen und anmutigen Hochgebirgswelt.








Die grosse Liebe
«Wir waren beide Zigeuner. Er auch, nicht nur ich.»

Umworben

Zurück in Zürich hat Irma nach wie vor grosse Reisepläne; sie träumt davon, die Welt zu erobern, und möchte sich keinesfalls auf eine feste Beziehung einlassen. Auch bleibt sie wohl nicht ganz unberührt vom heftigen Widerstand ihrer Eltern gegen ihre Bekanntschaft mit Hitta. In ihrem Gefühlsdurcheinander lässt sie sich sogar vorübergehend auf eine halbherzige Liebelei mit einem den Eltern genehmen Bewerber ein, der ihr endlos lange Briefe schreibt und darin alle möglichen Katastrophen heraufbeschwört, sollte sie sich diesen Bergler nicht aus dem Kopf schlagen. Aber Hitta wirbt in Briefen unermüdlich um Irma.

Arosa, im September 1961

Liebe Irma!

Nachdem ich Dir gestern telefoniert habe, sind Frau Moser, Marianne und ich noch bis zehn Uhr auf dem Balkon gesessen und haben Wein getrunken. Traumdunkle Nacht draussen, am Furkahorn der Mond. Wie damals, weisst Du noch?

Ja, Arno [Hittas Schäferhund] und ich sind zur Coaz gewandert. War das schön! Dieses rauschende, gelbe Gras am Wege, diese leuchtenden, lodernden Lärchen, die sanften Birken, die sturmzerzausten Arven. Diese Täler im purpurnen, sanften Licht des Herbstes, diese lichtumfluteten Felsaltäre im grossen Schweigen, berührt nur noch vom unsäglich leisen Raunen und Weben der Ewigkeit.

Ich habe oft an Dich gedacht. Aber Du wolltest ja nachhause. So hab’ ich halt mit dem Hund geredet. Hab ihm alles Schöne gezeigt. Er hat mich angeschaut mit seinen klugen Augen und verstanden.

Ich versuchte durch Wandern, Dich zu vergessen. Aber alles glitt an mir vorbei wie tote Blätter, Blätter, die bunt gefärbt sind, aber von den Ästen gerissen. Ich habe versucht, Dich hinter mir zurückzulassen, aber ich bin treuer als ich sein will. Herzliche Grüsse und Küsse

Christian

Hittas Werben wird kräftig unterstützt von Irmas Freundin Marianne, die inzwischen ihre grossen Pläne, die Welt zu entdecken, aufgegeben hat. Sie erwartet in Arosa ihr erstes Kind und möchte ihre Freundin wieder in der Nähe haben. Und so kehrt Irma im Herbst 1961 für eine weitere Wintersaison nach Arosa an ihre Stelle im Schneideratelier zurück.

Während des folgenden Winters kommen sich Hitta und Irma immer näher, und sie lernt auch seine Familie kennen. Er stammt aus äusserst bescheidenen, sogar armen Verhältnissen. Sein Vater, von Beruf Koch, arbeitete bei der Schweizer Armee, war aber immer wieder zeitweise arbeitslos, wohl weil er kein einfacher Mensch war und auch gerne etwas zu tief ins Glas schaute.

Seine Mutter, von allen Nane genannt, war gezwungen, mit auswärtiger Reinigungsarbeit Geld dazuzuverdienen, aber sie tat dies mit einer grossen Selbstverständlichkeit und Liebenswürdigkeit. Nichts war ihr zu viel, sie war für alle da, stets bereit zu helfen und zu unterstützen. Ihr grosses Herz prägte die Familienatmosphäre, in der Hitta, seine ältere Schwester Martha und sein jüngerer Bruder Hans aufwuchsen.

Irma erfährt, wie viel Hitta seine Familie bedeutet und auch, wie wichtig ihm seine Freunde sind, obwohl er wenig über seine Gefühle spricht, oft sogar sehr wortkarg ist; wie ein typischer Bergler halt. Nur beim Schreiben und wenn er beginnt, Geschichten zu erzählen, entwickelt er eine erstaunliche Beredtheit und eine unglaubliche Fantasie, mit der er die Zuhörer in seinen Bann schlägt.

Geld bedeutet Hitta nichts. Solange er ein – noch so bescheidenes – Dach über dem Kopf und genug zu essen hat, verschwendet er keinen Gedanken daran. Es wäre schade um die Zeit. Zeit hingegen bedeutet ihm viel, und er geht gerne verschwenderisch und locker um damit; eine Armbanduhr trägt er aus Prinzip nicht.

Ein junger Mann also, der in jeder Hinsicht anders ist als Irmas zahlreiche Verehrer in Schmerikon oder die Tanzpartner in Arosa. Am meisten beeindruckt sie vielleicht der Umstand, dass Hitta zwar stetig um sie wirbt und sie gewinnen möchte, sich aber dennoch nicht manipulieren lässt. Wenn nötig, hält er ihr – auch das in brieflicher Form – durchaus auch einmal den Spiegel vor und ermahnt sie, sorgfältig mit ihm und der Beziehung umzugehen. Ihn kann sie nicht tanzen lassen wie die anderen jungen Männer. Das gefällt ihr.

Es gefällt ihr sehr, und dennoch – oder vielleicht genau deshalb? – packt sie im Frühling erneut die Unruhe, der Drang nach neuen Erfahrungen und neuen Welten, und sie bewirbt sich kurz entschlossen auf ein Zeitungsinserat für eine Sommerstelle als Zimmermädchen in einem Hotel in Brissago im Tessin. Zuvor aber will sie einige Tage mit Hitta auf der Coaz-Hütte verbringen. Hitta hat für sie beide eine Frühlingsskitour auf den Chapütschin, einen wunderschönen, einsamen Aussichtsgipfel, geplant. Es ist Irmas erste Skitour auf einen Dreitausender, und entsprechend wird die erfolgreiche Ankunft auf dem Gipfel etwas Besonderes sein, würdig genug für einen ganz besonderen Moment. Irma weiss nicht, dass Hitta in einer Tasche im Innenfutter seiner Skijacke zwei Verlobungsringe mit sich trägt, es soll eine Überraschung sein. Dann aber kommt unerwartet ein Gast für zwei Tage auf die Hütte und möchte sich ihnen für die Tour anschliessen, denn die Wetterbedingungen sind ideal. Hitta verflucht den Mann innerlich, aber er bringt es nicht übers Herz, ihm die Bitte abzuschlagen. Irma, die nichts von Hittas geheimen Plänen weiss, ist irritiert, dass dieser Gast während des Aufstiegs ständig jammert, das Tempo sei zu schnell, und sie deshalb den Gipfel erst kurz vor Mittag erreichen. Was bedeutet, dass sie kaum Zeit haben, den einmaligen Rundblick zu geniessen und etwas zu essen, denn die Schneeverhältnisse werden durch die starke Sonneneinstrahlung zusehends ungünstiger. Irma hat zwar seit ihren ersten Versuchen auf Skiern einiges an Können zugelegt, aber die lange Abfahrt im schweren Frühjahrsschnee macht ihr etwas Sorgen. Tatsächlich ist es aber der Gast, der sich schwertut und ständig hinfällt, sodass sie erst mitten am Nachmittag zur Hütte zurückgelangen. Die Ringe stecken immer noch in Hittas Skijacke. Da der unwillkommene und einzige Gast am nächsten Tag die Hütte verlässt, schlägt Hitta für die freien Tage einen Ausflug in den Süden vor. Mit dem Postauto fahren sie nach Bondo im Bergell und steigen zu Fuss nach Soglio hinauf, in das schöne alte Dorf auf einer Sonnenterrasse hoch über dem Tal, welches Giovanni Segantini einst «la soglia del paradiso», die Schwelle zum Paradies, nannte. Dort übernachten sie. Aber so schön es da sein mag, für Hitta scheinen der Ort oder der Moment nicht speziell genug zu sein, und die beiden steigen am nächsten Tag wieder ins Tal hinunter und fahren mit dem Postauto weiter nach Chiavenna, um schliesslich, nach einigem Umsteigen, im blühenden Frühling am Comersee zu landen. Jetzt ist der Moment gekommen: Hitta gräbt die Ringe aus ihrem Versteck – und ehe sie sich versieht, ist Irma glücklich verlobt.

Verlobungsturbulenzen

Nach dem kurzen Ausflug nach Italien geht es noch einmal zurück ins Val Roseg, wo Hitta die Hütte aufräumt und dann den grossen Schlüssel im Schloss dreht und ihn an den rostigen Nagel am Türrahmen hängt. Mitte Juli wird er für die Sommersaison zurückkehren. Nun fahren die Verlobten nach Arosa, wo Irma ihre Sachen packt und sich nach einem Zwischenhalt in Schmerikon auf den Weg nach Brissago macht. Schon in den ersten Minuten ihres Besuchs fällt den Eltern der Verlobungsring auf, und der Vater ist ausser sich. Wenn Irma die Verlobung mit diesem «protestantischen Ist-Nichts und Hat-Nichts» nicht rückgängig mache, werde er sie enterben, droht er. Aber Irma lacht nur: «Tu das, dein Geld bedeutet mir nichts. Ich brauche es nicht. Hitta und ich sind jung, wir können arbeiten und unser eigenes Geld verdienen!» Als Hitta sofort nach Schmerikon reist, um mit dem Vater zu sprechen, weigert sich dieser, ihn auch nur anzuhören, und Hitta muss unverrichteter Dinge wieder abreisen, während Irma bis zu ihrem Stellenantritt in Brissago bei den Eltern bleiben will.

Frl. Irma Müller, Spenglerei, Schmerikon

Arosa, im Juni 1962

Liebe Irma!

Die Zeit vergeht wie die Wolken des Mittags. Was bleibt? Die Erinnerung – die Erinnerung an unsere Reise, an Dich. An unser Hotel in Lecco, an Soglio, an den Spaziergang bei klatschendem Regen, damals. An unser Essen, den Wein. An Ballabio, an die Fahrt mit dem Schiff. Nachts, bei Regen und Blitz. An das Zimmer in Colico.

An Dich, Dein lachendes Gesicht, Dein Haar, Dein atmender Körper, Deine lieben Hände, Deine Augen, Deine Lippen.

Nie werde ich die Zeit, niemals Dich vergessen!

Ja, die Zeit vergeht. […] Mein Maultier ist angekommen. Nächsten Montag geht’s in die Coaz.

Wünsche dir alles Gute und Schöne. Wie leer sind die Tage ohne Dich …

Dein Christian

In Irmas Gefühlswelt muss in diesen Tagen in Schmerikon, als frisch Verlobte, ein rechtes Durcheinander geherrscht haben. Schon vor Jahren hat sie begonnen, sich von der katholischen Lehre zu distanzieren. Ein Grund dafür könnten Trotz und Auflehnung gegen die strenge väterliche Autorität sein, welche die Kinder zu Kirchgang, Christenlehre und Gebet zwang; ein weiterer, dass Irma sich belogen und betrogen fühlte, denn die Geschichte der jungfräulichen Geburt Jesu konnte so nicht wahr sein, wie sie ihr in der Christenlehre und im Gottesdienst erzählt worden war. Die geforderte Unterwerfung unter die Autorität der katholischen Kirche gipfelte für Irma darin, dass sie diese «Lügengeschichte» glauben sollte, was ihre Empörung immer wieder von Neuem entzündete. «Unbefleckte Empfängnis! Wie konnten sie uns einen solchen Bären aufbinden!» Es ist daher nicht ganz einfach, die Beweggründe nachzuvollziehen, warum sie während dieser Tage das Gespräch mit dem katholischen Pfarrer in Schmerikon suchte. Hoffte sie vielleicht doch auf den kirchlichen Segen für diese Ehe und damit auf die Zustimmung der Eltern? Oder suchte sie insgeheim weitere Gründe für ihren Groll und ihre Abwendung von der Kirche, um dann umso überzeugter ihren Weg gehen zu können?

Vor ihrer Abreise von Schmerikon geht Irma jedenfalls zur Beichte – nicht um zu beichten, sondern um den Pfarrer zu fragen, was er von ihrer Verlobung mit einem Protestanten halte. Sie müsse diese Beziehung sofort auflösen und zwölf Vaterunser als Busse beten, entgegnet der Pfarrer. «Das dürfen Sie nicht, dazu haben Sie kein Recht! Niemand hat ein solches Recht, und niemand hat die Macht, das zu verlangen! Was ist, wenn ich tue, was Sie sagen, und damit todunglücklich werde?», erwidert Irma aufgebracht. – «Es darf nicht sein, dass eine Katholikin einen Protestanten heiratet. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.» Damit ist für Irma die Sache klar: Für sie ist die Kirche als moralische Instanz gestorben.

Wenig später reist sie ab – ohne ihren Verlobungsring. Dies aber nicht, weil sie die Verlobung aufgelöst hätte, wie es der Vater verlangte, sondern weil der Ring während ihres Aufenthalts in Schmerikon auf rätselhafte Weise verschwunden ist. Irma ist überzeugt, der Vater habe ihn an sich genommen, auch wenn sie sich nicht erklären kann, wie das hat geschehen können. Das Eingreifen einer höheren Macht kommt als Erklärung wohl nicht infrage, obwohl Irma später erfährt, dass ihre Eltern in der Kirche dafür beteten, dass diese Ehe nie geschlossen würde.

Brissago

Brissago, die kleine Ortschaft an der Grenze zu Italien, liegt am tiefsten Punkt der Schweiz, nur 197 Meter über dem Meeresspiegel, eingebettet zwischen dem Ufer des Lago Maggiore und den steilen Berghängen. Im ältesten Teil des Orts liegt die wunderschöne Kirche San Pietro e Paolo, umgeben von jahrhundertealten Zypressen. Die engen Gassen, die zum See hinunterführen, sind von vornehmen alten Herrschaftshäusern gesäumt; mit Gärten, in denen Zedern und Zitrusbäume gedeihen. Und die beiden Inseln mitten im intensiven Blau des Sees muten mit ihren botanischen Gärten wie ein irdisches Paradies an. Alles hier ist warm, sanft und lieblich.

Die Arbeit im Hotel hingegen ist alles andere als lieblich. Irma soll mit anderen Mädchen einen Schlafplatz in der Waschküche des Hotels teilen, und sie soll jeden Morgen beim Putzen der Zimmer die vollen Nachttöpfe der Hotelgäste leeren. Sie wehrt sich energisch und bekommt ein eigenes Zimmer, und sie muss sich auch nicht mehr um die Nachttöpfe kümmern, denn die Chefin merkt schnell, dass Irma tüchtig ist und zügig und exakt arbeitet. So zügig, dass ihr nach Erledigung aller Arbeiten genügend Zeit bleibt, um im See zu baden und die Umgebung zu erkunden. Eigentlich eine perfekte Sommerarbeitsstelle, wäre da nicht noch so einiges, was Irma nicht behagt: Unter den Angestellten herrscht eine merkwürdige, erotisch aufgeladene Stimmung, ständig werden anzügliche Bemerkungen gemacht, und die Paarkonstellationen wechseln alle paar Tage. Und zu guter Letzt beginnt der Geschäftsführer, Irma nachzustellen, was die Hotelbesitzerin mit Missfallen bemerkt und entsprechend kommentiert. Wieder hat Irma das Gefühl, eine völlig neue Welt betreten zu haben, aber es ist eine Welt – anders als jene auf der Coaz-Hütte –, die ihr nicht behagt. So romantisch die engen Gässchen von Brissago sind und so idyllisch die beiden Inseln wie grüne Smaragde im tiefblauen See liegen, so vulgär und allzu menschlich zeigt sich ihr das Leben hinter den Kulissen des Hotels. Das wird ganz bestimmt niemals ihre Welt sein, aber sie kann hier Erfahrungen sammeln und eine Menge über die Führung eines Gästebetriebs lernen.

Wie überall, wo Irma hinkommt, gibt es auch in Brissago bald den einen oder anderen jungen Mann, der sich für sie interessiert. Sie hat recht viel freie Zeit, ist hübsch und attraktiv, bald braun gebrannt und abends häufig unterwegs. Sie ist verlobt, aber sie ist erneut drauf und dran, sich doch ein wenig von einem hübschen Tessiner Burschen umgarnen zu lassen, denn sie ist hin- und hergerissen, geplagt von Zweifeln und Ängsten. Nicht, ob Hitta der richtige Mann für sie ist; daran zweifelt sie nicht. Aber sie ist erst 22 Jahre alt und hat Angst vor einer endgültigen Bindung. Auch ist sie unsicher, ob sie wirklich in Zukunft auf alle anderen jungen Männer, die ihren Weg kreuzen könnten, verzichten will. Die einzige Ehe, die sie aus der Nähe kennt, ist die ihrer Eltern. Wird sie Hitta gehorchen müssen wie die Mutter dem Vater? Wird Hitta, wie ihr Vater, alles kontrollieren und bestimmen wollen? Und wird sie die dem Vater eben erst abgerungene Freiheit nun schon wieder aufgeben müssen? Wird sie mit diesem einfachen Leben in den Bergen, fast ohne Geld, überhaupt zurechtkommen? Und mit den Tieren, die Hitta so wichtig sind? Sie hat doch gar keine Erfahrung mit Tieren. Will sie das alles wirklich? Sollte sie die Einwände der Eltern vielleicht doch nicht in den Wind schlagen? Eigentlich ist es doch sehr angenehm, sich von einem jungen Tessiner ein wenig anhimmeln und sich von ihm die schönsten Plätzchen am Lago Maggiore zeigen zu lassen, ohne irgendwelche Verpflichtungen.

Und so kommt es, dass Hitta häufig Briefe schreibt und Irma weniger häufig zurückschreibt.

An Frl. Irma Müller, Albergo Camelia, Brissago

Coaz, 15.7.62

Meine liebe Irma!

Noch schnell ein paar Zeilen, bevor ich schlafen gehe. Diesen Sonntag haben wir ziemlich Besuch gehabt. Heute Abend ist es ruhiger. Morgen muss ich nach Pontresina einkaufen gehen. Mutter hat alle Vorräte aufgebraucht. Übermorgen gehe ich mit zwei Touristen auf den Glüschaint.

So vergeht die Zeit im Nu, immer gibt es etwas. Selten schon war ich körperlich in so guter Verfassung wie zur Zeit. Ich mag laufen wie ein junger Hund. Dies kommt unter anderem vom seriösen Lebenswandel …! Doch bin ich zufrieden so, habe gar nicht das Bedürfnis nach Vergnügen. Nur mit Dir möchte ich wieder einmal ausgehen.

Danke für Deinen Telefonanruf. Hoffentlich kannst Du mal zwei Tage freimachen. Wie gerne würde ich Dich wiedersehen. Wenn Du es gar zu streng hast, plage Dich nur nicht zu lange ab, packe zusammen und komm in die Coaz. Hier bist Du immer herzlich willkommen.

Manchmal habe ich auch den Moralischen, fühl mich so alleine, stelle mir vor, wie Du mit anderen ausgehst, dich vergnügst und lachst, während ich hier allein bin, in Eis und Stein. Oft stelle ich mir vor, wie Du so gegen zwei Uhr nachts nachhause kommst; Du warst irgendwo tanzen. Ich stehe auf und unter langsam verbleichenden Sternen, beim langsamen Dämmern des Tages steige ich den Bergen zu.

Doch wird auch diese Zeit vergehen, und für den Herbst habe ich den Kopf voller Pläne. Das können wir aber mündlich besprechen, wenn Du nach Pontresina kommst. Hoffentlich erhalte ich auch bald einen Brief von Dir. Werde diese Woche noch anläuten. Bis dahin wünsche ich Dir, liebe Irma, alles Gute, grüsse und küsse dich recht herzlich,

Dein Christian

Frl. Irma Müller, Albergo Camelia, Brissago

Coaz, 29.7.62

Meine liebe Irma!

Heute war ein wunderbar ruhiger Sonntag. Am frühen Morgen ist alles ausgeflogen. Ich bin nochmals ins Bett und habe geschlafen bis elf Uhr. Es hat mir gut getan und war auch nötig. Dann gab es ein gutes Mittagessen. Gegen Abend zog ich noch mit Bina [Hittas Maultier] und Arno ins Hotel [Roseg]. Leider ist mein Telefon kaputt, Du konntest mir nicht anläuten.

Gestern war ein herrliches Gewitter. Ich war mit Bina unterwegs. Wie hat es gekracht und geblitzt. Das schönste Feuerwerk. Arno heulte vor Angst. Ich habe sogar das Milchkesseli versteckt wegen Blitzschlag.

Am Samstag habe ich Dir etwas Süsses aus Pontresina geschickt. Hoffentlich schmeckt’s.

Nun haben wir ja schon den 1. August. Wir werden wieder einen Holzstoss anzünden. Es wird sicher wieder schön, die Ruhe der Berge, das Mondlicht über dem Gletscher. So ohne Ansprache und Festerei ist es am schönsten. Am 1. August morgens gehe ich noch mit Gästen auf den Glüschaint. Das ist diesen Sommer ziemlich schwer. Der Gletscher ist unheimlich zerrissen. Mit einem Mann aus Brissago mache ich noch den Bianco. Auch mit Jack Neuhänsler und seiner Kletterschule könnte ich vierzehn Tage gehen. Doch Mutter ist dagegen. Sie ist nicht gerne so lange allein. Gestern war ich noch schnell in meinem Garten ob der Hütte. Die Edelweiss, der Türkenbund und eine wunderbare Alpenakelei blühen dort und lassen Dich grüssen. Vor der Hütte hat’s die gelbe Arnika, den Hahnenfuss und die stahlblauen Eisenhüte. Volle, satte Farben, dahinter den wildzerfurchten Sellagletscher, den Roseg, die Linie des Bianco. Wieviel mal habe ich das schon gesehen, und ich würde nicht tauschen gegen alles Geld der Welt. Für mich war die Natur schon immer viel. Doch diesen Sommer empfinde ich sie besonders stark. Manchmal möchte ich so eine Blume in meine vereinsamten Hände nehmen.

Manchmal möchte ich abends alleine auf einem Gipfel stehen. Im letzten, sterbenden Licht. Wie würde die Ruhe sein, wie das Licht! Wohl tödlich, man käme nicht mehr herunter. Ich freue mich so auf den Herbst. Ich möchte dann mit Dir ein wenig wandern. In diesen milden, farbenprächtigen Herbsttagen. Ich möchte Dir zeigen, wie schön alles ist. Wir wollen in unserer Ehe Kameraden sein, Kameraden, die zusammenhalten, die die Schönheit der Erde sehen. Wir wollen einander etwas bieten, ich Dir und Du mir. Ich stelle mir immer vor, Du seist mir ein guter, fröhlicher Kamerad. Kamerad und Geliebte zugleich, auf die man sich verlassen kann. Ich glaube auch, dass ich Dir viel bieten kann. Nicht ein Auto und Fernsehen, dafür aber geistige Werte und Liebe. Die Frage ist nur, was Du bevorzugst. Lass Dich nicht beeinflussen durch Deine Umgebung, diese ist meistens leer und dumm.

Soeben scheint es wieder ein Gewitter zu geben, die ersten Donnerschläge krachen. Arno spitzt die Ohren. Es ist halb zehn Uhr. Mama ist schon schlafen gegangen.

Was ich noch schreiben möchte, ist die dumme Sache mit dem Ring. Das Beste ist, wenn ich Dich da selber machen lasse. Ich glaube, wenn Du fest willst, wird es Dir schon möglich sein, ihn wieder zu erhalten. Es ist ja kindisch und lachhaft, das Ganze. Ich habe es Deinem Vater auch geschrieben. Wahrscheinlich werden Deine Eltern, wenn sie zu Dir [nach Brissago] in die Ferien kommen, sehr freundlich sein und Dir alles bieten wollen. Alles, nur nicht den Ring. Diese Freundlichkeit ist aber falsch, und ich würde hart bleiben. Doch, ich glaube fest, dass Du den Ring wieder erhältst. Es würde mich mehr freuen, wenn Du ihn wieder erhältst, als wenn ich ihn holen müsste. Und das würde ich im Herbst, wenn ich nach Brissago komme, darauf kannst Du Dich verlassen.

So, nun ist das Gewitter in vollem Gange. Wie das leuchtet vor dem Küchenfenster!

Und wo wirst Du jetzt sein, liebe Irma? Was wirst Du jetzt wohl machen? Ich stelle mir Dein liebes Gesicht vor, Deine Hände, Deine Augen. Wie möchte ich bei dir sein, ganz nahe. Nicht hier alleine in der Coaz-Hütte schreiben. Man kann die Liebe nicht aufs Papier schreiben. Wie ich mich freue, auf Dich, auf den Herbst! Ich denke an Dich, wo immer Du seiest, ich liebe Dich!

Dein Christian

Frl. Irma Müller, Albergo Camelia, Brissago

Im August 1962

Meine liebe Irma!

Nun heult schon den ganzen Tag ein Südwind um die Hütte. Genau gleich wie damals, als Du und Signor Grivelli hier bei mir waren. Weisst du noch? Wie hat es gepfiffen übers Dach, gejault, durchs Kamin geblasen. Drei Tage lang. Wir haben Saharastaub geschaufelt, sind um den Herd gehockt, und Du hast Dir neben der Hütte die Toilette gebaut aus Schnee, nur für Damen. Leider musste die Toilette vor Gebrauch immer ausgeschaufelt werden, so hast du schlussendlich in die Büchse «gebiselt», wie Signor Grivelli auch. Das waren noch Zeiten!

Erinnerst Du Dich noch an die Märchenfahrt mit der Kutsche? Dieser frische, klare Morgen. Diese verschneiten, überzuckerten Lärchen und Föhren. Diese vereisten, glitzernden Bäche und Wasser. Die Spuren im Schnee. Die Gemsen, gleich neben uns, zum Greifen nahe. Dieser blaue Himmel, jagende Wolken, Sonnenstrahlen über Hang und Tal. An den Marsch zur Hütte, vorerst noch mit Sonne, dann kam der Wind auf. Die im Gegenlicht schimmernden Vorhänge aus gejagtem Schnee. Wie man kämpfen musste gegen den Wind, wie es den Atem fast vom Munde riss.

Ich schwelge ja in Erinnerung, lass mich, lass mich, dies ist alles, was bleibt. Dies bleibt dem Wanderer und Bergsteiger. Die Erinnerung an Vergängliches, an Schönes und Gutes. An den Sellapass, wie wir oben sassen, in der Sonne, auf dem Fels, den Blick nach Italien, ins dunstig verblauende Veltlin. An die wilden, weissen Bergamaskeralpen, an die schönste Disgrazia [Monte Disgrazia, 3678 m, höchster Gipfel der Bergeller Alpen]. Noch immer liegt meine Pfeife dort oben, wird wohl eine Bergdohle sie benutzen?

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