Nimm mich - oder stirb

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5.

Jede einzelne Minute war eine Qual für Manuela. Auch in dieser Nacht fand sie keine Ruhe. Neben den Lebensmitteln gingen nun auch ihre Medikamente zur Neige, was sie als sehr viel schlimmer empfand. Sie brauchte die Beruhigungsmittel und die Kapseln gegen ihre Angstzustände, daran klammerte sie sich und ohne die konnte sie nicht überleben. Beide Medikamente waren leer, woraufhin sie einen Weinkrampf bekam. Was nun? Es blieb ihr nichts anderes übrig: Sie musste das Haus verlassen um einzukaufen und ihren Arzt aufzusuchen, damit er ihr ein Rezept ausstellte. Ob sie das schaffen würde? Noch in der Nacht konnte sie sich nicht zurückhalten und aß auch die letzte Dose, wobei ihr die Pfirsiche nicht wirklich schmeckten. Bei jedem Bissen wusste sie, dass das Unvermeidliche näher rückte: Sie musste endlich aus dem Haus!

Am nächsten Morgen um kurz vor neun Uhr nahm sie all ihren Mut zusammen und verließ die Wohnung, nachdem sie bei ihrem Arzt anrief und um das Rezept für beide Medikamente bat. Der Moment, als sie die Tür aufsperrte und jeden einzelnen Riegel zur Seite schob, fiel ihr unendlich schwer. In ihrer Jackentasche war das Pfefferspray, das sie fest umklammert hielt. Sie musste sich zwingen, sich nicht ständig umzusehen. Sie durfte es nicht zulassen, Walter zu zeigen, dass er sein Ziel erreichte und dass sie sich ängstigte. Auch, wenn sie dadurch riskierte, ihn zu reizen. Gestern hatte sie im Internet, überraschenderweise ganz legal, einen Taser für knapp fünfzig Euro bestellt. Schon wenige Minuten später bekam sie die Nachricht, dass ihre Bestellung bereits auf dem Weg sei und für heute war die Lieferung angekündigt. Sehr gut. Mit diesem Gerät würde sie sich vielleicht sicherer fühlen.

Der Einkauf war eine Tortur. Hinter jedem Regal vermutete sie Walter, weshalb sie rasend schnell Dinge in den Einkaufswagen einlud, was sonst nicht ihre Art war. Sie wusste und spürte, dass Walter hier irgendwo war, aber wo? Würde er es wagen, ihr hier etwas anzutun, wo es von Menschen nur so wimmelte? Nichts geschah. Sie konnte unbehelligt einkaufen und fuhr zu ihrem Arzt, wo das Rezept erfreulicherweise für sie bereitlag. Sie hatte keine Lust auf ein Arztgespräch, da der doch nur versuchen würde, ihr die Einnahme auszureden. Das kannte sie aus früheren Zeiten und darauf konnte sie gerne verzichten. Der Apotheker machte sie auf die Risiken aufmerksam, was sie nicht interessierte. Der Mann machte sich in ihren Augen nur wichtig. Dass sie sehr schlecht aussah und dass sich der Mann Sorgen machte, ahnte sie nicht. Ohne Kommentar nahm sie die Medikamente, die sie die nächsten Tage leichter überstehen ließen.

Zuhause angekommen, trat der freundliche Nachbar Andreas Grießer auf sie zu. In seiner Hand hielt er ein kleines Paket, das er für sie angenommen hatte. Das war der Taser, den sie sehnlichst erwartete! Der handliche Elektroschocker würde von nun an ihr ständiger Begleiter werden. Grießer war erschrocken über das Aussehen der hübschen, aber sehr scheuen Nachbarin, von der er nicht viel wusste. Seit Tagen hatte er sie nicht gesehen und sich deshalb Sorgen gemacht. Jetzt, wo sie vor ihm stand und ihm das Päckchen mit einem gemurmelten Dankeschön fast aus der Hand riss, wurden seine Sorgen noch größer. Was war passiert?

Manuela ließ den Mann einfach stehen. Vollbepackt fuhr sie mit dem Lift nach oben. Alles war prima gelaufen, sie hätte sich nicht so viele Sorgen machen müssen. Schon als sie den Schlüssel ins Schloss steckte, bemerkte sie, dass etwas nicht stimmte. Sie hatte sich angewöhnt, immer zwei Mal abzuschließen, was diesmal nicht der Fall war. Was war hier los? In Panik ließ sie ihre Einkäufe fallen und rannte zum Lift. Sie nahm nur das Päckchen und ihre Handtasche mit, die über ihrer Schulter hing. Sie riss das Päckchen auf und griff nach dem Taser, den sie fest umklammert hielt und der hoffentlich funktionierte. Die Verpackung ließ sie achtlos liegen. Sie musste weg hier, und zwar so schnell wie möglich. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis der Lift endlich kam, und es dauerte noch viel länger, bis sich die Tür endlich schloss. Nun hielt sie den Taser mit beiden Händen, da sie vermutete, auf Walter zu stoßen, sobald sie im Erdgeschoss ankam. Vor ihr stand tatsächlich ein Mann, aber nicht Walter. Es war schon wieder der zweiundfünfzigjährige Andreas Grießer aus dem vierten Stock, der erschrocken einen Schritt zurückwich, als er Manuela und ihre Bewaffnung sah. Sie hätte sich erklären können, tat das aber nicht, dafür war keine Zeit. Sie rannte grußlos an ihm vorbei. An ihrem Wagen angekommen suchte sie hektisch in ihrer Jackentasche nach dem Autoschlüssel.

„Hallo, meine Schöne.“

Die Stimme erkannte sie sofort. Schon bei der ersten Silbe gefror ihr das Blut in den Adern. Sofort hielt sie ihren Taser in die Richtung, aus der die Stimme kam.

„Beruhige dich, ich tu dir doch nichts.“

Jetzt sah sie ihn. Er tauchte hinter einem der parkenden Autos auf, hinter dem er sich verkrochen hatte. Sie war ihm ins Netz gegangen. Er hatte gewusst, dass sie sofort flüchten würde. Sie ärgerte sich über sich selbst, aber noch größer war ihre Angst. Was hatte Walter vor? Er kam auf sie zu und sie wich einen Schritt zurück. Mehr Platz hatte sie nicht, denn sie stand mit dem Rücken am nächsten Fahrzeug. Wohin sollte sie gehen, wenn er noch näher kam?

„Du hast gemerkt, dass ich in deiner Wohnung war? Natürlich hast du das, schließlich habe ich nur einmal abgeschlossen. Du fragst dich, woher ich den Schlüssel habe? Dein Hausmeister ist keine große Leuchte. In einem unbeobachteten Moment habe ich ihm den Ersatzschlüssel einfach abgenommen. Du kannst mir nicht entkommen, meine Schöne. Ich werde dich überall finden, das weißt du doch. Warum sagst du nichts? Freust du dich denn nicht, mich nach so langer Zeit wiederzusehen?“

„Verschwinde!“, schrie Manuela hysterisch.

„Sei doch nicht so unfreundlich. Ich verzeihe dir alles, was du getan hast, wenn du mit mir nach Hause kommst. Wir beide sind füreinander bestimmt. Nichts und niemand wird uns trennen können, das ist uns doch beiden klar.“

„Du sollst verschwinden, sonst rufe ich die Polizei!“

„Es gefällt mir nicht, wie garstig du zu mir bist. Sobald wir zuhause sind, werde ich dir das wieder abgewöhnen. Bitte komm zurück und mach keinen Ärger, sonst muss ich böse werden.“ Walter Neuberts Stimme wurde lauter und bedrohlicher.

„Ich komme nicht zurück. Geh nach Hause und lass mich in Ruhe!“

„Du weißt, dass ich das nicht kann. Ich will und kann nicht ohne dich leben. Wir beide sind Seelenverwandte, so etwas gibt es nicht oft. Verstehst du denn nicht, was für ein Glück wir haben? Ich bitte dich nochmals: Komm mit mir nach Hause!“

„Niemals!“, flüsterte sie. Ihre Knie zitterten, und jetzt zitterten auch ihre Hände. Walter konnte das sehen und das wollte sie nicht, aber sie konnte nichts dagegen unternehmen.

„Was willst du jetzt tun, mein Engel? Willst du mich mit dem Spielzeug in deiner Hand daran hindern, dich zurückzuholen? Das ist doch lächerlich, davon lasse ich mich nicht abhalten, du müsstest mich eigentlich besser kennen. Komm endlich zur Vernunft, Manuela. Komm zu mir zurück und alles wird wieder gut. Was willst du denn in dem hässlichen Wohnbunker in diesem kleinen schwäbischen Kaff? Du gehörst nicht hierher, du gehörst zu mir.“ Walter kam noch einen Schritt näher.

Manuela umklammerte den Taser. Sie konnte Walters Atem spüren und sein Aftershave riechen, was die Erinnerungen noch lebendiger machte. Sie spürte den Drang, einfach wegzulaufen, aber Walter stand ihr im Weg. Was sollte sie tun?

„Manuela?“ Andreas Grießer war ihr gefolgt. An seiner Seite war der nette, alte Mann aus dem Erdgeschoss, Ibrahim Kalin, der mit Andreas gesprochen hatte und ihm zur Seite stehen wollte. Andreas hatte die Angst in ihren Augen gesehen und er befürchtete, dass etwas Schreckliches passiert sein musste. Andreas mochte die neue Nachbarin sehr und wollte ihr helfen. Dasselbe galt für Ibrahim Kalin, der sich in seinem ganzen Leben noch nie vor etwas gefürchtet hatte und für den Zivilcourage an erster Stelle stand. Auch wenn er nicht verstand, was hier vor sich ging, war es für ihn keine Frage, dass er Andreas Grießer ohne weitere Erklärung unterstützen wollte.

Als Walter Neubert die Fremden auf sich zukommen sah, stieß er eine letzte Warnung aus:

„Ich habe es dir schon einmal gesagt: Entweder du nimmst mich, oder du stirbst! Niemand außer mir soll dich haben!“ Dann verschwand er in der Dunkelheit.

Andreas hatte den Mann gerade noch gesehen. Ibrahim sah in der Dunkelheit mit seinen achtundsiebzig Jahren sehr schlecht, er hatte nur eine Silhouette wahrnehmen können. Erschrocken sahen die Männer Manuela an, die immer noch mit dem Taser im Anschlag dastand. Ibrahim sprach mit seinem akzentuierten Schwäbisch beruhigend auf sie, dasselbe versuchte Andreas Grießer. Es verging viel Zeit, bis Manuela endlich antwortete.

„Was wollte der Mann von dir?“

„Das ist eine lange Geschichte.“

„Ich habe Zeit. Wie sieht es mit dir aus, Ibrahim?“

„Mich brauchst du nicht fragen. Ich bin Rentner und habe immer Zeit.“

„Danke, aber ich möchte euch nicht langweilen.“

„Du kannst einen alten, einsamen Mann nicht langweilen. Du kommst jetzt mit. Ich mache uns einen schönen, starken Tee, der wird dir guttun.“ Ibrahim duzte die Frau einfach, das machte Andreas schließlich auch. Ibrahim und Andreas verband eine jahrelange, sehr gute Nachbarschaft, die sich in den vielen Jahren zur Freundschaft entwickelt hatte. Ibrahim war alleinstehend und Andreas half, wann immer seine Hilfe benötigt wurde.

Während Ibrahim sprach, nahm ihr Stefan den Taser aus der Hand, den sie immer noch fest umklammert hielt. Sie hatte einen Krampf, der sich nur langsam löste.

 

Manuela war immer noch geschockt davon, Walters Gesicht zu sehen und seine Stimme zu hören. Sein Atem und der Duft des vertrauten Aftershaves verursachten einen Würgereiz, dem sie nachgeben musste. Sie übergab sich auf dem Parkplatz, was weder sie, noch die beiden Männer, störte. Erschöpft lehnte sie sich an den Wagen. Dann suchte sie mit zitternden Händen nach den Beruhigungstabletten und nahm gleich drei davon. Langsam beruhigte sie sich.

„So, jetzt reicht es aber“, entschied Ibrahim und nickte Andreas zu. Beide griffen ihr unter die Arme und sie ließ sich widerstandslos mitführen. Um sich den Männern zu widersetzen hatte sie keine Kraft mehr. Am liebsten hätte sie sich irgendwo verkrochen, stattdessen fand sie sich in Ibrahims Wohnung wieder. Sie fühlte sich nicht wohl in der fremden Umgebung und brauchte lange, bis sie endlich bereit war, von sich zu erzählen.

Beide Männer waren fassungslos, als sie die Geschichte hörten, wobei Manuela die Teile wegließ, die ihr zu peinlich vor den beiden waren. Sie brauchten nicht alle Details zu wissen, für die sie sich schämte und ihr sehr unangenehm waren. Das, was sie bereit war zu erzählen, musste ausreichen.

Die beiden Männer hingen an Manuelas Lippen. Je mehr sie von ihrer Leidensgeschichte preisgab, desto fassungsloser waren sie. Wie war es möglich, dass ein Mann der Partnerin so etwas antun konnte?

Irgendwann kam Manuela zu dem Punkt, an dem sie die Mappe auf den Tisch legte, die sie in Kopie immer bei sich trug.

„Wenn ihr mir nicht glaubt: Hier sind die Beweise“, schloss sie ihre Ausführungen. Sie war müde, die Tabletten wirkten.

„Warum sollten wir dir nicht glauben?“ Ibrahim stand auf und langte in das prall gefüllte Bücherregal. Er zog eine Flasche hervor.

„Alkohol? Du bist Moslem, Ibrahim“, versuchte Andreas einen Witz zu machen, auch wenn er immer noch erschrocken davon war, was er eben gehört hatte.

„Das ist Medizin für Notfälle, und das ist ein Notfall.“ Er schenkte vorsichtig ein. „Trink, Mädchen. Den hat mein Neffe selbst gebrannt, reine Medizin.“

Das Gebräu brannte fürchterlich, trotzdem trank sie ein zweites Glas. Ob Alkohol in Verbingung mit den Medikamenten so eine gute Idee war? Es war ihr gleichgültig. Die Gesellschaft der Männer tat ihr gut. Ibrahim schenkte nach und je mehr sie trank, desto ruhiger und müder wurde sie tatsächlich.

Andreas hatte die Unterlagen durchgesehen. Die Fotos waren widerlich und verursachten ein flaues Gefühl im Magen, weshalb auch er einen Schnaps brauchte.

„Wahnsinn! Es tut mir leid, dass du das durchmachen musstest. Man liest ja immer nur von häuslicher Gewalt und Stalking oder sieht etwas im Fernsehen darüber. Wenn man aber selbst damit konfrontiert wird, ist das schon eine andere Hausnummer. Dir ist hoffentlich klar, dass dieser widerliche Mann diesmal einen Schritt zu weit ging? So wie ich das sehe, hat er gegen die Auflagen verstoßen. Er stand direkt vor dir, somit wurde die ihm vom Gericht auferlegte Grenze mehr als unterschritten.“

„Wie soll ich das beweisen?“

„Hallo? Ich habe den Mann gesehen. Du hast einen Zeugen.“

„Ich habe ihn nicht gesehen, aber Andreas reicht. Mehr als einen Zeugen brauchst du nicht. Gehen wir?“

„Wohin?“

„Zur Polizei. Dort kannst du Anzeige erstatten.“

„Und was mache ich danach? Walter ist in meine Wohnung eingebrochen, er hat einen Schlüssel. Ich kann nicht mehr in meine Wohnung gehen.“

„Wenn du keine Angst vor mir hast, kannst du heute Nacht gerne hierbleiben“, sagte der alte Ibrahim und lächelte verlegen.

„Und gleich morgen früh werde ich das Schloss an deiner Tür austauschen. Wir beide werden ein Auge auf dich haben. Wenn du Angst hast oder Hilfe brauchst, werden wir für dich da sein.“

„Ihr seid so lieb zu mir. Womit habe ich das verdient?“

„Das ist die schwäbische Gastfreundschaft“, sagte Ibrahim und lachte laut, wodurch sich die Stimmung etwas entspannte. Nach einem weiteren Schnaps brachen die drei auf.

Auch heute Abend hatte Stefan Kimmerle Dienst. Er erkannte Manuela Kaufmann sofort, als sie in Begleitung zweier Männer eintrat. Er erschrak, denn die Frau sah echt schlecht aus.

„Ich habe einen Zeugen, der Walter Neubert gesehen hat“, kam sie sofort zur Sache. Sie musste sich konzentrieren, um ihre Worte klar zu formulieren. Es war doch keine gute Idee mit dem Alkohol gewesen. Ihre Zunge war sehr schwer und sie hatte das Gefühl, als wäre ihr Kopf ein einziger Schwamm. Sie setzte noch einmal nach und wiederholte ihr Anliegen, damit der Polizist sie auch richtig verstand.

„Mein Nachbar Andreas Grießer hat Walter Neubert gesehen, als er direkt vor mir stand. Nehmen Sie jetzt bitte meine Anzeige auf?“

„Sehr gerne, Frau Kaufmann. Da Herr Neubert gegen die Auflagen verstoßen hat, dürfen wir jetzt tätig werden.“ Stefan Kimmerle war erleichtert. Seit Frau Kaufmann hier war und er diesem Neubert begegnet war, rechnete er mit dem Schlimmsten. Vielleicht konnte mit der Anzeige Schlimmeres verhindert werden?

6.

Zwei weitere Tage vergingen. Walter Neubert hatte sich nicht blicken lassen. Manuela wurde von ihren Nachbarn dazu überredet, wieder zur Arbeit zu gehen. Irgendwie mussten sie die Frau dazu zwingen, wieder so etwas wie einen normalen Alltag zuzulassen. Ibrahim Kalin bestand darauf, sie zu begleiten und holte sie auch am Abend ab, was ihr sehr guttat, auch wenn der alte Mann im Notfall keine große Hilfe sein würde. Sie fasste Schritt für Schritt wieder Mut, auch wenn sie ohne ihre Medikamente nicht über die Runden kam. Auch wenn alles ruhig schien, war sie vorsichtig und rechnete immer und überall mit Walter, den die Polizei immer noch nicht gefasst hatte. Alle paar Stunden rief sie Kimmerle an und musste sich anhören, dass Walter noch auf freiem Fuß war.

Alle außer ihr selbst glaubten, dass Walter aufgegeben hatte, aber am Abend wurde Manuela in ihrer Annahme bestätigt.

Als es am nächsten Morgen sehr früh an Manuelas Haustür klingelte, erschrak sie. Ihren Mut, den sie durch die Hilfe ihrer reizenden Nachbarn zurückgewonnen hatte, war seit gestern Abend dahin. Es war etwas geschehen, was ihr erneut den Boden unter den Füßen wegzog.

Es klingelte wieder und wieder. War das Walter? Sie hatte auch in der letzten Nacht trotz des neuen Schlosses kaum ein Auge zugetan, was auch an dem lag, was sich gestern in der Arbeit ereignete und wovon sie Ibrahim nichts sagte. Der gutmütige, gebrechliche, alte Mann wäre mit der Nachricht völlig überfordert gewesen und hätte ihr auch nicht helfen können.

Wieder klingelt es. Sie entschied, sich mucksmäuschenstill zu halten, dann würde derjenige sicher schnell wieder gehen. Dann klopfte es.

„Frau Kaufmann? Hier Kimmerle.“

Konnte das sein? War das der Polizist? Vielleicht würde er ihr mitteilen, dass Walter gefasst wurde? Oder war das eine Falle, die ihr Walter stellen wollte? Aber woher sollte er den Namen des Polizisten kennen? In Manuelas Kopf schwirrten die Fragen nur so durcheinander. Sie entschied, vorsichtig zu sein.

Sie bewegte sich lautlos und spähte durch den Türspion. Dann erkannte sie den Polizisten Kimmerle. Ob er gute Nachrichten bezüglich Walter hatte?

Stefan Kimmerle hörte, wie Schlösser gedreht wurden. Als sich die Wohnungstür langsam öffnete, setzte er sein charmantestes Lächeln auf.

„Guten Morgen, Frau Kaufmann. Störe ich?“

Manuela war unsicher, ob sie den Mann hereinlassen sollte. Es war lange her, dass sie Besuch hatte. Als sie noch mit Walter zusammen war, hatte sie zu spät gemerkt, dass er es geschafft hatte, alle ihre Freundschaften zu brechen oder einschlafen zu lassen. Er hatte irgendwann still und heimlich ganz Besitz von ihr ergriffen und es gab nur noch sie beide. Als sie etwas daran ändern wollte, hatte Walter sein wahres Gesicht gezeigt und ihr das Leben zur Hölle gemacht.

Kimmerle betrat die Wohnung. Auch wenn er jetzt hier war, verschloss Manuela Kaufmann alle Riegel der Tür sorgfältig. Ihm war klar, dass das Routine war und sie das immer so machte.

„Bevor Sie mich fragen: Nein, wir haben Walter Neubert noch nicht gefunden“, sagte Stefan Kimmerle betont hochdeutsch, auch wenn ihm das als Schwabe sehr schwer fiel.

Manuela nickte die niederschmetternde Nachricht nur ab.

„Das hat mir gestern mein Chef kurz vor Feierabend gegeben“, sagte sie und legte einen Umschlag auf den Tisch. „Und das hier lag auf meinem Schreibtisch.“

Kimmerle starrte auf den Umschlag und auf die kleine Schachtel. Er nahm zuerst den Umschlag, zog das Blatt raus und las kopfschüttelnd die haltlosen Verleumdungen und Anschuldigungen, die darin gegen Manuela Kaufmann vorgebracht wurden. Das selbstverständlich anonyme Schreiben besagte, dass Manuela in Nürnberg als vorbestrafte Prostituierte gearbeitet hat und dass gegen sie aktuell diverse Verfahren wegen Unterschlagungen und Urkundenfälschungen laufen.

„Starker Tobak. Das hat Ihr Chef hoffentlich nicht geglaubt?“

„Irgendwas bleibt doch immer hängen“, sagte Manuela geknickt. „Ich schäme mich so sehr, dass ich mir einen neuen Job suchen werde. Jetzt, wo Walter weiß, wo ich arbeite, bin ich dort sowieso nicht mehr sicher.“

„Sie denken, dass das von Walter Neubert stammt?“

„Von wem denn sonst? Sehen Sie sich den Inhalt der Schachtel an, dann werden auch Sie überzeugt davon sein“, war ihre Antwort.

In der kleinen Schachtel lag ein funkelnder, hellblauer Aquamarin, der Kimmerle bekannt vorkam und ihn schockierte. Der Mann war also tatsächlich so dreist, sich sogar bis zur Arbeitsstelle vorzuwagen.

„Lesen Sie den Zettel“, forderte sie Kimmerle auf, der den kleinen, rosafarbenen Zettel auseinanderfaltete. Hätte er vielleicht Handschuhe anziehen sollen? Dafür war es jetzt zu spät.

Der ist dafür, dass du zur Polizei gegangen bist und die dich jetzt beschützt. Du warst ein sehr böses Mädchen, meine Schöne.

Kimmerle bekam eine Gänsehaut. Das war einfach nur krank und abstoßend. Er hatte ein schlechtes Gewissen, denn irgendwie trug er Schuld an dem Inhalt der Nachricht an Frau Kaufmann. Er hatte dafür gesorgt, dass rund um die Uhr einer der Kollegen immer vor dem Haus stand und aufpasste, was die Kollegen sogar freiwillig außerhalb der Dienstzeit gerne übernahmen. Natürlich trugen dabei viele Uniform, wogegen Kimmerle nichts einzuwenden hatte. Jetzt war ihm klar, dass das sehr ungeschickt war und Neubert deshalb so reagierte.

„Ich kümmere mich darum. Darf ich das Schreiben und den Zettel mitnehmen?“

„Gerne, nehmen Sie auch den Stein mit. - Warum sind Sie hier?“

„Ich mache mir Sorgen um Sie. Jetzt noch mehr, nachdem ich das hier erfahren habe. Ich würde Ihnen gerne meine Hilfe anbieten. Hier ist meine Handynummer, unter der Sie mich Tag und Nacht erreichen können. Melden Sie sich, wenn Sie Hilfe brauchen.“

„Das ist sehr lieb, Danke. Aber ich weiß, dass ich Walter nicht entkommen kann. Es gibt nur noch zwei Aquamarine, dann bin ich tot.“

„Daran dürfen Sie nicht denken! Geben Sie nicht auf! Kämpfen Sie gegen diesen Wahnsinnigen!“

„Sie haben gut reden! Wenn das so leicht wäre! Ich habe keine Kraft mehr, verstehen Sie das nicht? Es ist, als würde ich gegen Windmühlen kämpfen. Was ich auch unternehme, Walter kreuzt immer und überall meinen Weg und pinkelt mir ans Bein. Ich schaffe es nicht, ihm zu entkommen.“

„Bitte beruhigen Sie sich, Frau Kaufmann. Ich kann Sie verstehen, das dürfen Sie mir glauben. Wie gut kennen Sie Walter Neubert?“

Manuela war für einen kurzen Moment irritiert, mit dieser Frage hatte sie nicht gerechnet und sie musste sich konzentrieren.

„Wie gut ich Walter kenne? Ziemlich gut, denke ich. Wir waren sechs Jahre lang ein Paar. Die ersten beiden Jahre waren sehr harmonisch, aber dann veränderte er sich Stück für Stück. Irgendwann habe ich ihn nicht widererkannt.“

„Nutzen Sie Ihre Kenntnis aus. Schlagen Sie den Mann mit seinen eigenen Waffen.“

„Und wie soll ich das tun? Hinter jeder Ecke und jeder Tür könnte Walter stehen. Außerdem versucht er gerade, mein Leben erneut zu zerstören. Er hat erreicht, dass ich Angst habe. Jetzt hat er mir auch noch meinen Job genommen, indem er Lügen über mich verbreitet. Was kommt als Nächstes? Vielleicht wendet er sich gerade in diesem Moment an meinen Vermieter.“

„Wer ist Ihr Vermieter?“ Kimmerle wollte die Frau am liebsten in die Arme nehmen und trösten, aber das würde nichts bringen. Er konnte ihr am besten helfen, wenn er so sachlich wie möglich blieb.

 

„Warum fragen Sie? Was ist mit meinem Vermieter?“

„Ich werde mit ihm sprechen und ihn vorwarnen. Wir werden es nicht zulassen, dass dieser Vollpfosten sein Werk vollendet. Wo es nur geht werden wir ihm Knüppel zwischen die Beine werfen.“

„Das wird nichts nützen….“

„Hören Sie endlich auf zu Jammern! Reißen Sie sich zusammen und nehmen Sie Ihr Leben wieder selbst in die Hand! Der Typ will Sie genau da haben, wo sie jetzt sind. Wollen Sie ihm die Genugtuung geben?“ Kimmerle hatte sie an beiden Schultern gepackt und sah ihr in die Augen.

Manuela spürte, dass dieser nette Polizist es gut mit ihr meinte. Hatte er nicht Recht? War es nicht an der Zeit, dass sie sich endlich aktiv wehrte? Ja, sie kannte Walter sehr gut und wusste, was er vorhatte. Sie stand auf und holte einen Ordner aus dem Schrank. Sie gab Kimmerle den Mietvertrag, aus dem die Kontaktdaten des Vermieters ersichtlich waren.

„Danke“, lächelte Kimmerle, der die Veränderung bemerkt hatte. Diese Frau brauchte jede Unterstützung, die sie kriegen konnte, das war klar. Und er war bereit, sie ihr zu geben. „Den Vermieter übernehme ich. Was könnte Neubert noch vorhaben?“

„Nachdem ich Walter angezeigt habe und ausgezogen bin, hat er jede Menge Dinge online auf meinen Namen bestellt. Ich war endlos lange damit beschäftigt, alles zurückzusenden und zu erklären, dass ich nichts bestellt habe.“

„Gut. Löschen Sie die Kundendaten bei allen Online-Händlern, und zwar so schnell wie möglich.“

„Reicht es nicht, wenn ich meine Zugangsdaten ändere?“

„Nein. Löschen Sie die Kundendaten, das ist sicher.“ Kimmerle schob ihr einen Notizblock und einen Stift zu. „Notieren Sie sich die Punkte, damit Sie keinen übersehen. Was fällt Ihnen noch ein?“

„Mein Wagen – er könnte ihn problemlos manipulieren.“

„Hat er das auch gemacht?“

„Ja, aber das konnte ich nicht beweisen.“

„Ab sofort lassen Sie Ihren Wagen stehen. Rufen Sie mich an, wenn Sie irgendwohin müssen.“

„Sie können nicht rund um die Uhr für mich parat stehen und mich herumkutschieren. Das kann ich nicht verlangen und das möchte ich nicht annehmen wollen. Sie bringen mich in eine Lage, die mir nicht gefällt. Ich bin nicht gerne von anderen abhängig.“

„In diesem Fall kann ich auf Ihre Befindlichkeiten keine Rücksicht nehmen. Wir müssen damit rechnen, dass sich Neubert an Ihrem Wagen zu schaffen macht, das können wir nicht riskieren. Ich möchte, dass Sie mein Angebot annehmen. Wenn ich keine Zeit habe, Sie zu fahren, dann finde ich eine andere Lösung. Ich werde Ihnen jemanden schicken, dem Sie vertrauen können.“

„Trotzdem kann ich nicht verlangen…“

„Ich kümmere mich darum, könnten wir uns darauf einigen? Wir können es uns nicht leisten, jeden einzelnen Punkt zu diskutieren, dafür haben wir keine Zeit.“

Manuela nickte nur verlegen.

„Sind Sie in irgendwelchen Vereinen?“, fuhr Kimmerle fort, denn noch hatte er einige Punkte auf seiner Liste, die er abhaken musste.

„Ja.“ Manuela war seit Monaten in einem Kampfsportverein, was ihr sehr viel Spaß machte. Allerdings nutzte ihr das, was sie dort gelernt hatte, absolut nichts gegen Walter.

„Treten Sie aus. Wenn Sie dort kein Mitglied mehr sind, kann er Ihnen nicht schaden.“

Auch jetzt nickte sie und schrieb mit zitternder Hand.

„Ich würde Ihnen raten, das Handy zu wechseln. Geben Sie die neue Nummer nur an wenige vertrauenswürdigen Personen weiter. Mieten Sie ein Postfach und holen Sie Ihre Post dort ab. Wenn Sie wollen, kann ich Sie dabei begleiten oder kümmere mich darum, dass Sie begleitet werden.“ Manuela kam kaum mit den vielen Notizen hinterher. „Heben Sie genug Bargeld für die nächsten zwei Wochen ab, dann wechseln Sie noch heute die Bank.“

Manuela betrachtete die prallgefüllte Liste, die immer länger wurde.

„Ist das alles wirklich notwendig?“

„Wir wollen sicher gehen, dass er Ihnen nicht schaden kann. Mit fällt nichts mehr ein.“

„Mir auch nicht.“ Manuela sah Kimmerle an.

„Warum machen Sie das alles für mich? Das hier hat doch nichts mehr mit normalem Polizeidienst zu tun.“

„Ich hasse solche Typen abgrundtief. Ich verabscheue es, wenn Menschen, vor allem Männer, ihre Macht schwächeren gegenüber ausleben und sie unterdrücken. Außerdem habe ich ein persönliches Interesse daran, solche Leute zur Strecke zu bringen. Was glauben Sie, mit was ich es tagtäglich zu tun habe? Ich würde gerne helfen, aber sehr oft sind mir die Hände gebunden, da ich mich an die Gesetze halten muss. Wenn Sie es erlauben, würde ich Ihnen sehr gerne helfen. Und ich spreche auch für meine Kollegen, die ähnlich denken wie ich.“

„Wie soll das gehen? Sie und ihre Kollegen können nicht rund um die Uhr für mich da sein, schließlich haben Sie einen Job.“

„In den nächsten beiden Wochen habe ich Urlaub und somit jede Menge Zeit. Sollte ich keine Zeit haben, werden Kollegen für mich einspringen, was übrigens auch für die Nacht gilt. Ich möchte ehrlich zu Ihnen sein, Frau Kaufmann. Schon seit Tagen steht immer einer von uns vor Ihrer Tür und passt auf Sie auf. Das ist von oberster Stelle nicht genehmigt und geschieht auf freiwilliger Basis. Ich hoffe, Sie nehmen uns das nicht übel.“

„Wirklich?“ Manuela war überrascht, damit hatte sie nicht gerechnet. Völlig Fremde opferten ihre Freizeit und standen ihr bei.

„Wir werden Sie rund um die Uhr beschützen. Natürlich nur, wenn Sie einverstanden sind. Sollten Sie dagegen sein, werden wir uns selbstverständlich zurückziehen. Ist das für Sie in Ordnung, Frau Kaufmann? Dürfen wir Ihnen helfen?“

Manuela konnte nichts darauf erwidern und nickte abermals. Konnte es sein, dass sie zum ersten Mal nicht allein auf sich gestellt war? Dass sie mit Andreas und Ibrahim nun auch noch diesen Polizisten und dessen Kollegen an ihrer Seite hatte? Sie konnte ihr Glück kaum fassen und weinte, was sie nicht bemerkte.

Kimmerle war die Reaktion peinlich. Mit weinenden Frauen hatte er noch nie umgehen können. Er schnappte sich die Unterlagen und stand auf. Manuela öffnete die Tür. Am liebsten hätte sie den Mann umarmt, aber solche Vertraulichkeiten und Körpernähe an sich waren ihr sehr unangenehm. Zaghaft reichte sie Kimmerle die Hand. Sie war immer noch unfähig, irgendetwas zu sagen. Dann schloss sie wieder sorgfältig die Tür. Sie hatte eine Liste, die es abzuarbeiten galt und machte sich sofort an die Arbeit.

Kimmerle rief Deutschle an, der von dem bevorstehenden Gespräch mit Frau Kaufmann informiert war.

„Gut gemacht, Stefan. Ich informiere die Kollegen und teile die Schichten ein. Ruf mich an, wenn es etwas Neues gibt.“

„Mach ich. Ich fahre jetzt zu dem Vermieter von Frau Kaufmann, einem gewissen Karl Schneiderjahn. Er soll in Orschel-Hagen in der Reutlinger Straße wohnen. Sagt dir der Mann etwas?“

Horst Deutschle lebte schon immer in Orschel-Hagen und kannte fast jeden hier im Ort.

„Den Karle kenne ich, wir gingen gemeinsam zur Schule. Mit dem wirst du zurecht kommen. Grüß ihn von mir.“

Das Gespräch mit dem Vermieter Schneiderjahn war rasch vorbei. Kimmerle war dort in Uniform aufgetaucht, da er wusste, dass das immer noch bei vielen Menschen mächtig Eindruck machte. Bei Schneiderjahn wäre das allerdings unnötig gewesen. Der Gruß von Horst Deutschle reichte aus, um ihm die Türen zu öffnen.

„Mir ist in dieser Richtung noch nichts untergekommen. Sollte sich das ändern, werde ich Sie umgehend informieren.“

„Vielleicht gelingt es Ihnen, alle Schreiben mit unbekanntem Absender direkt an mich weiterzugeben? Dadurch wäre es uns möglich, wichtige Spuren zu sichern.“

„Auch wenn unter diesen Umständen das Briefgeheimnis nicht gewahrt ist, werde ich das gerne machen. Wenn dem so ist, dass jemand der netten Frau Kaufmann schaden will, möchte ich meinen Teil zur Aufklärung beitragen. - Grüßen Sie mir den Horst, der soll sich bei Gelegenheit mal wieder blicken lassen!“

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