Leichenschau

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Из серии: Leo Schwartz #8
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Leichenschau
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Irene Dorfner

Leichenschau

Leo Schwartz ... und das Experiment

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Impressum

VORWORT

ANMERKUNG:

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

Liebe Leser!

1.

2.

Von der Autorin sind bisher folgende Bücher erschienen:

Über die Autorin Irene Dorfner:

Impressum neobooks

Impressum

3. Auflage 2021 – Copyright © Irene Dorfner

All rights reserved

© Irene Dorfner, Postfach 1128, 84495 Altötting

Cover-Design: Vanja Zaric, 84503 Altötting

Lektorat: FTD-Script Altötting

Earl und Marlies Heidmann, Spalt

VORWORT

Man müsste es dahin bringen, dass sich alle Menschen dem Fanatismus und der Intoleranz schämen.“

Friedrich II, der Große (1712-1786), preußischer König

Ich wünsche ganz viel Spaß beim Lesen des achten Falles mit

Leo Schwartz & Co.!!

Liebe Grüße aus Altötting

Irene Dorfner

ANMERKUNG:

Die Personen und Namen in diesem Buch sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Der Inhalt des Buches ist reine Fantasie der Autorin. Auch hier sind Ähnlichkeiten rein zufällig. Die Örtlichkeiten wurden den Handlungen angepasst.

und jetzt geht es auch schon los:

1.

Schon seit den frühen Morgenstunden des ungemütlichen Junitages saß die Frau bewegungslos auf der Bank am Busbahnhof Altötting. Menschenmengen, darunter viele Pendler, Schüler, Mütter mit kleinen Kindern und später auch viele alte Frauen und Männer, gingen achtlos an ihr vorüber. Vor allem früh morgens und in der Mittagszeit war viel los. Je später es wurde, desto geringer wurde die Anzahl der Passanten. Bereits zum dritten Mal hatte der unfreundliche Busfahrer der Linien 50/51 der Frau zugerufen: „Was ist jetzt? Einsteigen oder nicht?“, um dann genervt die Tür zu schließen und davonzufahren, denn eine Antwort bekam er nicht.

Am Nachmittag spielten Kinder Fußball auf dem nun fast verwaisten Busparkplatz, denn nach siebzehn Uhr war hier nicht mehr viel los. Busse fuhren nur noch selten. Und wenn, dann auf den unteren Spuren in direkter Bahnhofsnähe. Hier am letzten Bussteig war seit Stunden kein Betrieb mehr. Auch auf den Parkplätzen, wo vor Kurzem noch dichtes Gedränge herrschte und sich die Fahrer beinahe um die freien Plätze stritten, war nur noch gähnende Leere. Die Kinder hatten jetzt einen riesigen freien Platz zum Spielen und nutzten diesen auch aus. Der Fußball flog weit und die Kinder rannten und lachten, ohne auf irgendeine Gefahr Acht geben zu müssen, was alle nach einem anstrengenden Schultag sichtlich genossen. Das Wetter war ihnen völlig egal, auch der einsetzende Nieselregen hielt sie von ihrem Spiel nicht ab. Natürlich hatten die Kinder die Frau auf der Bank bemerkt, beachteten sie aber nicht weiter. Der kleine Thorsten war mit seinen neun Jahren ein begeisterter und sehr geschickter Fußballspieler und hatte bereits einen kräftigen Schuss drauf. Es kam, wie es kommen musste: Er holte mit dem rechten Fuß aus, traf den Ball seitlich und schoss der Frau direkt ins Gesicht.

„Entschuldigung,“ rief Thorsten und rannte schuldbewusst zu der Frau. „Es tut mir sehr, sehr leid. Das wollte ich echt nicht. Habe ich Ihnen wehgetan?“ Er konnte sich die Predigt der Frau und vor allem die seiner Mutter bereits vorstellen und spürte Panik in sich aufsteigen. Thorsten stand nun direkt vor der Frau, die wider Erwarten kein einziges Wort von sich gab, keine Miene verzog, ihn nicht einmal ansah.

„Hallo? Geht es Ihnen nicht gut?“

Der Blick der Frau ging ins Leere. Natürlich hatten Thorstens Freunde den verunglückten Schuss mitbekommen und waren hinzugeeilt, um ihm beizustehen.

„Was ist mit ihr?“, durchbrach Daniel die Stille, denn alle standen jetzt im Halbkreis um die Frau und starrten sie an.

„Keine Ahnung.“

„Schläft sie?“

„Mit offenen Augen?“

„Ich hab‘ gesehen, dass du sie direkt im Gesicht getroffen hast. Aber sie beschwert sich nicht. So, wie ich das sehe, hat sie nichts abbekommen. Kommt, lasst uns weiterspielen, es macht gerade so viel Spaß.“

„Nein, wir können sie doch nicht einfach so sitzen lassen. Vielleicht ist sie so schwer verletzt, dass sie sich nicht mehr bewegen kann.“ Thorsten hatte ein schlechtes Gewissen. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn die Frau sich im Nachhinein bei seiner Mutter hierüber beschwerte. Es kam leider oft vor, dass ihm ein Missgeschick mit dem Fußball passierte. Er hatte seiner Mutter versprechen müssen, nicht davonzulaufen, sondern sich um den angerichteten Schaden zu kümmern. Er startete noch einen Versuch: „Hallo?“, sprach er sie erneut an, während er sie an der Schulter anfasste und zuerst zaghaft, dann kräftig schüttelte.

„Ist die krank? Die gibt ja keinen Mucks von sich.“

„Oder sie ist blöd. Mein alter Onkel Erwin reagiert auch auf gar nichts, er liegt nur im Bett.“

Einer der Jungs trat der Frau nun mehrfach gegen das Schienbein, zuerst leicht, dann immer kräftiger. Schließlich schüttelte er die Frau, und zwar so lange, bis sie schließlich zur Seite kippte, von der Bank fiel und auf dem Boden lag.

2.

Leo Schwartz stand als Erster vor der Leiche der jungen Frau. Er wohnte in Altötting und hatte den kürzesten Anfahrtsweg. Er sah sich die Leiche an und war erstaunt, denn augenscheinlich schien sie in Ordnung zu sein.

„Leo Schwartz mein Name, Kripo Mühldorf. Sie haben uns gerufen?“ Er sah den 38-jährigen, kleinen, fülligen Notarzt mit der Glatze fragend an.

„Dr. Leichnahm mein Name, Dr. Richard Leichnahm. Diese Kinder dort haben die Frau gefunden und die 110 gewählt. Leider konnte ich nur den Tod der Frau feststellen. Ich habe die Kriminalpolizei gerufen, weil mit der Toten etwas nicht stimmt.“

Leo versuchte, sein Schmunzeln zu unterdrücken und nicht auf den Namen des Notarztes zu reagieren, aber der hatte seine Reaktion offensichtlich bereits erwartet.

„Leichnahm mit einem h. Und ja, ich habe in meiner beruflichen Laufbahn schon die eine oder andere blöde Bemerkung bezüglich meines Namens gehört und auch jeden nur denkbaren Witz darüber ertragen müssen. Man muss auch die positive Seite sehen: Keiner vergisst meinen Namen. Außerdem,“ fügte er hinzu, „sind Sie auch nicht schwarz und heißen doch so.“

„Sie haben völlig recht. Es tut mir leid, entschuldigen Sie bitte. Was ist mit der Frau?“

„Die Frau ist ca. 30 – 35 Jahre alt. Keine äußeren Verletzungen. Nach meiner Einschätzung ist der Tod schon vor längerer Zeit eingetreten, die Leichenstarre ist bereits weit fortgeschritten.“

„Sind Sie sich sicher? Die Leiche sieht nicht danach aus.“

Leo war skeptisch. Er hatte bereits mehrere Leichen gesehen, bei denen die Leichenstarre eingesetzt hatte, und die sahen bei Weitem schlimmer aus.

„Ich zeige Ihnen etwas,“ sagte Dr. Leichnahm, nahm ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und fuhr der Toten damit über die Wange und dann über den Handrücken. Er hielt Leo das Tuch vors Gesicht.

 

„Alle sichtbaren Körperstellen wurden mit einer dicken Schicht Schminke überzogen. Die Leichenflecke wurden gänzlich unkenntlich gemacht. Sehen Sie sich das an. Es wurden sogar Adern fein säuberlich nachgezeichnet. Eine perfekte Arbeit, würde ich sagen.“

„Sie meinen, jemand hat sich die Mühe gemacht und die Leiche geschminkt, damit sie so aussieht, als würde sie noch leben?“

„Warum sie geschminkt wurde, entzieht sich meiner Kenntnis. Das herauszubekommen ist Ihr Job. Ich kann Ihnen nur sagen, dass nach meiner vorsichtigen Einschätzung nach der Tod mindestens vor zwei Tagen eingetreten ist und dass die Frau nicht hier verstarb.“

„Warum sind Sie sich so sicher, was den Ort betrifft?“

„Meine Schwester ist Kosmetikerin. Daher weiß ich, dass es nicht nur eine Ewigkeit dauert, sondern jede Menge Utensilien dafür benötigt werden, bis ein Gesicht auch nur annähernd so hergerichtet ist. Dazu kommen die Hände, das Gesicht und der Hals. Alles wurde mit lebensechten Adern und Schatten versehen. Sehen sie sich die Fingernägel an. Dass die bearbeitet wurden, sieht man nur bei genauer Betrachtung. Und diese Lippen! Alles in allem eine phantastische Arbeit, so etwas habe ich bislang noch nicht gesehen.“ Dr. Leichnahm war fasziniert. Die Leiche war perfekt geschminkt worden. Er hatte beinahe Hochachtung vor der aufwändigen Arbeit. „Bezüglich der Todesursache kann ich absolut nichts sagen, das müssen Spezialisten abklären. Wie bereits gesagt, gibt es keine äußeren Verletzungen oder sonstige Hinweise, mit denen ich dienen könnte.“

Viktoria Untermaier, Leos Vorgesetzte und mittlerweile auch seine heimliche Lebensgefährtin, war nun ebenfalls eingetroffen und hörte erstaunt den Ausführungen des Dr. Leichnahm zu. Der Arzt hatte einen österreichischen Akzent, was Leo bislang nicht aufgefallen war. Für ihn als Schwaben, der vor zehn Monaten von Ulm nach Mühldorf versetzt wurde, klang bayrisch und österreichisch absolut gleich. Als er das einmal in einer geselligen Runde bemerkte, schlug ihm sofort heftiger Widerspruch entgegen. Die Bayern beharrten vehement darauf, dass ihr Dialekt absolut nichts mit dem der Österreicher zu tun hätte, und sie wollten sich mit den direkten Nachbarn der nahen Grenze auf keinen Fall vergleichen lassen. Was wahrscheinlich umgekehrt ähnlich war.

„Die Frau geht sofort in die Gerichtsmedizin,“ wies Viktoria Untermaier an, was Leo bereits veranlasst hatte. Viktoria war heute offensichtlich schlecht gelaunt, denn sie ging mit energischen Schritten auf die Gruppe der Kinder zu, zu denen sich bereits einige Elternteile und darüber hinaus viele Schaulustige versammelt hatten. Leo sah seiner Viktoria hinterher, die heute wieder besonders hübsch aussah. Erst seit wenigen Wochen war er mit der 47-jährigen, 1,65 Meter großen Viktoria liiert. Er war sehr glücklich darüber, denn sie war lange für eine neue Beziehung wegen ihrer gescheiterten Ehe und der unschönen Scheidung noch nicht bereit gewesen. Leo hatte sogar Verständnis für ihr Zögern, denn er hatte das Vergnügen, diesen Kotzbrocken von Exmann kennenzulernen.

Seit der gemeinsamen Urlaubswoche, die sie auf Kos in Griechenland verbracht hatten, waren erst wenige Wochen vergangen. War das eine schöne Zeit gewesen, die er nach einem schrecklichen Fall mit seiner Exfrau auch dringend gebraucht und zusammen mit Viktoria auch sehr genossen hatte. Sie hatten sich nach der Rückkehr darauf geeinigt, dass sie noch niemandem davon erzählen wollten, dass sie zusammen waren, vor allem nicht den Kollegen. Viktoria hatte ihn davon überzeugt, dass sie sich als Paar zuerst ausprobieren mussten, obwohl Leo am liebsten allen, die ihm über den Weg liefen, von seiner Viktoria erzählen wollte. Eigentlich hatten sie vorgehabt, es sich heute bei Leo zuhause vor dem Fernseher gemütlich zu machen. Wein und Knabberzeug standen bereit, Viktoria wollte Pizza mitbringen. War das der Grund für ihre üble Laune?

„Ihre Freundin?“, unterbrach Dr. Leichnahm Leos Gedanken.

„Wie bitte?“

„Na so, wie sie die Frau ansehen, liegt das auf der Hand, mir können Sie nichts vormachen. Haben Sie noch Fragen bezüglich der Toten oder kann ich mich verabschieden?“

„Hatte die Frau irgendwelche Papiere ohne Persönliches bei sich?“

„Nein, nichts dergleichen. Keine Handtasche. Die Hosen- und Jackentaschen sind vollkommen leer. Wenn Sie mich fragen, sind die Kleidungsstücke alle nagelneu. Und wenn ich noch anmerken darf, sind die Schuhe etwas zu groß. Aber ich möchte der Gerichtsmedizin nicht vorgreifen.“

„Eine Frage hätte ich noch: Ich hatte schon oft mit Notärzten und Ersthelfern zu tun. Sie waren doch nicht immer Notarzt, dafür achten sie zu sehr auf Kleinigkeiten.“

„Sie haben mich erwischt, Herr Schwartz. Ich war Pathologe bei der Medizinischen Universität Wien. Aus privaten Gründen bin ich seit einiger Zeit hier in Altötting als Notarzt tätig. Sind wir hier jetzt fertig? Die Pflicht ruft.“

Dr. Leichnahm wurde bereits mehrfach angefunkt. Leo sah dem Arzt nach. Es würde ihn sehr interessieren, warum er hier in Altötting gelandet ist. Viktorias Rufe rissen ihn aus seinen Gedanken. Sie brauchte bei den Befragungen der Kinder, Eltern und Passanten seine Unterstützung.

Inzwischen waren auch die Kollegen Werner Grössert und Hans Hiebler vor Ort, die sichtlich Mühe hatten, mit den aufgebrachten Eltern zu sprechen, da diese mit allen Mitteln versuchten, ihre Kinder zu schützen. Alle sprachen und riefen wild durcheinander und erschwerten dadurch die Arbeit der Polizei erheblich. Nach einer gefühlten Ewigkeit waren die Befragungen endlich beendet. Die Kriminalbeamten fuhren genervt ins Präsidium Mühldorf am Inn, der Feierabend war gestrichen. Natürlich war keiner begeistert davon. Es war nach einundzwanzig Uhr und jeder einzelne von ihnen hatte sich den Abend anders vorgestellt. Werner Grössert wurde während des Abendessens mit seiner Frau gerufen. Hans Hiebler hatte sich fertiggemacht, um auszugehen, warum er auch einen betörenden Herrenduft hinter sich herzog und dazu auch noch blendend aussah. Werner trug zur Überraschung aller nicht einen seiner teuren Anzüge, sondern nur Jeans und T-Shirt. Trotzdem sah er auch mit der Freizeitkleidung sehr aufgeräumt aus.

„Werner, du machst die Busfahrer ausfindig. Irgendjemand muss doch diese Frau bemerkt haben. Ich kann und will mir einfach nicht vorstellen, dass die Tote völlig unbemerkt über einen längeren Zeitraum dort auf der Bank gesessen hat.“

Der 38-jährige, 1,75 m große Werner nickte und machte sich umgehend an die Arbeit. Werner war direkt in Mühldorf geboren und aufgewachsen und stammte aus einer angesehenen Anwaltsfamilie, die über den Werdegang ihres Sprösslings bei der Polizei nicht begeistert war. Er hätte eigentlich als einziger Sohn später einmal die Anwaltskanzlei übernehmen sollen, so zumindest war die Planung. Stattdessen hatte er gegen ihren Willen die Ausbildung bei der Polizei begonnen und ließ sich trotz vieler Diskussionen, Drohungen und auch verlockende Angebote nicht davon abbringen. Während der wenigen Familientreffen wurde vermieden, über Werners Beruf zu sprechen. Trotzdem ließen die Eltern keine Gelegenheit aus, ihren Unmut mit kleinen, spitzen Bemerkungen darüber Ausdruck zu verleihen. Als wäre das nicht genug, waren sie mit der Wahl der Schwiegertochter ebenfalls nicht einverstanden. Werners Frau stammt nicht nur aus sehr einfachen Verhältnissen, sondern war mit einer Hautkrankheit geplagt, die sie immer wieder zu längeren Krankenhaus- und Kuraufenthalten zwang.

„Hans, du suchst die Vermisstenmeldungen durch.“

Hans Hiebler war mit seinen 53 Jahren der Älteste, hatte aber keine Ambitionen, großartig Karriere zu machen. Er war ein sehr guter Polizist, stammte gebürtig von einem Bauernhof vor den Toren Mühldorfs, war 1,80 m groß, sportlich und war das, was man einen Frauenhelden nannte. Er war nie verheiratet, konnte nicht allein sein und liebte alle Frauen, wobei er keinen besonderen Typ bevorzugte. Er konnte nur die zickigen, falschen und verlogenen Frauen nicht leiden.

„Hast du die Pizza schon besorgt?“, flüsterte Leo Viktoria zu, als sie an der Kaffeemaschine standen. Leo war 49 Jahre alt. In wenigen Wochen hatte er seinen 50. Geburtstag, vor dem er etwas Bammel hatte. Für ihn waren Menschen über 50 immer alt gewesen und dazu würde er nun auch bald gehören. Mit seiner Körpergröße von 1,90 Meter und der schlanken Figur fiel er schon auf, aber noch auffallender war sein Kleidungsstil, über den sich schon viele amüsiert hatten. Er trug immer Jeans, eine alte Lederjacke, Cowboystiefel und entweder ein einfarbiges Hemd oder ein T-Shirt mit dem Aufdruck einer Rockband, die außer ihm niemand zu kennen schien. Leo fand sich selbst absolut hip und chic. Nicht nur wegen seines Äußeren, sondern vor allem wegen seines schwäbischen Dialekts war er hier in Oberbayern ein Exot. Er hatte sich in Mühldorf gut eingelebt, inzwischen gehörte er dazu.

„Natürlich habe ich die Pizza besorgt, sie liegt im Auto und gammelt vor sich hin. Ich habe mich so sehr auf einen schönen Abend gefreut.“

Leo lächelte nur, strich ihr kaum merklich über den Arm und setzte sich an seinen Schreibtisch. Er ging die Aussagen der Kinder und deren Eltern durch, die fast alle wertlos waren. Danach machte er sich an die Aussagen der Passanten, von denen einige sehr interessant waren.

„Hört mal her,“ rief Leo in den Raum, „ich habe hier drei Aussagen vorliegen. Demnach müsste die Tote mindestens seit dem Vormittag dort gesessen haben. Könnt ihr euch das vorstellen?“

„Kaum zu glauben,“ sagte Viktoria und schüttelte den Kopf. „Ist unsere Gesellschaft schon so sehr abgestumpft, dass man sich nicht mehr füreinander interessiert? Man kann an einem stark frequentierten Ort eine Leiche setzen und keinen schert das?“

„Jetzt seid mal nicht so ungerecht,“ mischte sich Werner entgegen seiner sonstigen Art in die inzwischen eingetretene heftige Diskussion ein. „Wir haben alle die Leiche gesehen, sie wirkte absolut lebendig. Warum um alles in der Welt sollte ich eine Frau ansprechen, die an der Bushaltestelle sitzt, während ich auf den Bus warte?“

„Was ist mit den Busfahrern und den Anwohnern? Möchtest du die etwa auch in Schutz nehmen?“ Viktoria war sehr aufgebracht.

„Ich möchte niemand in Schutz nehmen. Natürlich hätten die Busfahrer genauer nachsehen können, genauso wie die Anwohner. Aber wie gesagt: Die Tote sah absolut lebendig aus und saß am Bussteig. Warum sollte sie dort nicht sitzen?“

Viktoria, Leo und Hans diskutierten mit Werner. Sie waren sich darüber einig, dass sie anders gehandelt hätten, und waren von den Passanten, Busfahrern und Anwohnern enttäuscht. Werner ließ sich nicht beirren. Er hatte Verständnis und sagte nichts mehr dazu. Er hatte seine Meinung deutlich gemacht und machte sich wieder an die Arbeit. Trotz großer Bemühungen seinerseits konnte er keinen zuständigen Sachbearbeiter bezüglich der Busfahrer ermitteln, es war einfach schon zu spät. Busse fuhren schon seit Stunden nicht mehr, nachts überhaupt nicht.

Hans Hiebler hingegen konnte drei vermisste Frauen ausfindig machen, die der Toten sehr ähnlich sahen. Aber ohne den ausführlichen Bericht der Pathologie München konnten sie sich nicht sicher sein, sie mussten bis morgen warten.

Es war mittlerweile fast elf Uhr und Viktoria entschied, dass es für heute genug war.

„Machen wir Schluss für heute. Morgen früh um 8.00 Uhr treffen wir uns in alter Frische im Besprechungszimmer. Der Chef hat von dem neuen Fall gehört. Er ist äußerst gespannt darauf, was wir zu berichten haben.“

Dass Rudolf Krohmer, der Leiter der Polizei Mühldorf, stärker in den Fall involviert sein würde, konnte bis dato noch niemand ahnen.

3.

Rudolf Krohmer saß bereits ungeduldig im Besprechungszimmer und wartete auf seine Kriminalbeamten. Der 52-Jährige liebte seine Arbeit, war korrekt und sehr warmherzig. Er hatte für alle immer ein offenes Ohr und wusste stets Rat, weshalb ihn die Kollegen besonders mochten. Er drückte gerne das eine oder andere Auge zu, was nicht immer bei allen gut ankam. Krohmer machte das nur, wenn es vertretbar war, denn dadurch waren ihm Personen Gefallen schuldig, die er zur gegebenen Zeit auch einforderte. Vor allem durch den Fall Mollenkopf, bei dem auch einige angesehene Personen aus der Mühldorfer Gesellschaft nicht sehr gut aussahen, ließ er einiges auf bayrische Art unter den Tisch fallen und hatte einige Pluspunkte gesammelt.

„Käffchen?“, säuselte ihn seine Sekretärin Hilde Gutbrod an. Beim Anblick der 60-jährigen, sehr schlanken und sehr geschwätzigen und neugierigen Frau brannten Krohmers Augen. Sie trug heute ein neongelbes, viel zu kurzes Kleid und schwarze, hochhackige Stiefel aus schwarzem Lackleder. Frau Gutbrod verleugnete ihr Alter und kleidete sich wie ein Teenager. Auch die Frisur war alles andere als altersgerecht: schwarz gefärbt, hochtoupiert und seit zwei Tagen mit pinkfarbenen Strähnen durchzogen.

 

„Ja bitte,“ antwortete Krohmer knapp und bemerkte dabei die bunten, langen Fingernägel, die Frau Gutbrod demonstrativ zur Schau stellte. Als Frau Gutbrod einschenkte, sah er sie genauer an. Was hatte sie mit ihrem Gesicht gemacht? Vollkommen glattgebügelt und kaum eine Mimik, dazu waren die Lippen überdimensional angeschwollen, als hätten sie mehrere Bienen gleichzeitig gestochen. Krohmer konnte den Blick nicht von ihr abwenden, was seine Sekretärin erfreut zur Kenntnis nahm und als Kompliment auffasste. Er hatte es also bemerkt, dass sie sich kosmetisch hatte behandeln lassen.

Zum Glück kamen Viktoria Untermaier, Leo Schwartz, Hans Hiebler und Werner Grössert nun nacheinander in das Besprechungszimmer, wodurch Krohmer endlich den Blick von seiner Sekretärin abwenden konnte. Er hatte bei ihrem Anblick tatsächlich eine Gänsehaut bekommen.

„Käffchen?“, rief Frau Gutbrod laut durch den Raum. Jetzt starrten sie alle an, was ihre Absicht gewesen war. Wofür hätte sie sich verschönen lassen, wenn es nicht alle bewundern konnten?

„Alle Achtung, Frau Gutbrod!“, sagte Hans mit einem Lächeln und pfiff dabei durch die Zähne. „Sie sehen heute ja wieder besonders hübsch aus. Haben Sie eine neue Frisur?“

Natürlich hatte auch er, wie die anderen auch, bemerkt, dass sie sich hatte aufspritzen lassen.

Statt einer Antwort kicherte sie nur, schenkte reihum Kaffee ein und setzte sich einfach dazu, was sie in letzter Zeit öfters machte, obwohl sie niemand dazu aufgefordert hatte. Aber hier erfuhr sie alles aus erster Hand und musste sich nicht mühsam durch die Protokolle und Berichte lesen. Rudolf Krohmer ließ sie gewähren, denn sie war zwar neugierig und mischte sich überall ein, war darüber hinaus aber auch sehr fleißig und hatte einen scharfen Verstand, der gepaart mit ihrer Phantasie manchmal allerdings mit ihr durchging.

„Was haben wir?“, begann Krohmer.

„Gestern Abend wurde am Busparkplatz Altötting die Leiche einer Frau gefunden. Hier sind die Fotos,“ sagte Viktoria und schob die Bilder über den Tisch. „Wir wissen noch nicht, um wen es sich handelt. Sie hatte keinerlei Papiere oder Privates bei sich.“

Krohmer besah sich die Fotos. Frau Gutbrod war aufgestanden und sah ihrem Chef über die Schulter. Krohmer stutzte.

„Weiß man ungefähr, wie alt die Frau ist?“ Rudolf Krohmer war kreidebleich geworden, was niemandem aufgefallen war.

„Der Notarzt schätzt sie auf ca. Anfang/Mitte dreißig.“

„Und er meint, dass die Kleidung, die sie trug, nagelneu war. Die Schuhe waren übrigens ebenfalls nagelneu und etwas zu groß.“

„Das heißt, das ist nicht ihre Kleidung?“

„Offensichtlich nicht. Der Notarzt schätzt, dass die Frau seit mindestens zwei Tagen tot ist. Nachdem man die Leiche lebensecht geschminkt hatte, wurde sie am Busparkplatz abgesetzt. Das ist die Aussage von Dr. Leichnahm, die von der Pathologie bestätigt werden muss.“

„Sie ist bereits seit zwei Tagen tot? Seit Montag?“ Nun begann Krohmer zu zittern und wurde kreidebleich.

„Was ist mit Ihnen, Chef? Geht es Ihnen nicht gut?“ Hilde Gutbrod machte sich Sorgen. Auch die anderen starrten Krohmer nun an, den sie noch nie so gesehen hatten.

„Gehen Sie an Ihre Arbeit Frau Gutbrod, die Akte Bender mit den entsprechenden Anweisungen liegt auf Ihrem Tisch,“ sagte Krohmer leise, aber bestimmt. Frau Gutbrod wollte protestieren, fügte sich dennoch, denn der Blick ihres Chefs ließ sie für einen Moment erschaudern. „Und wagen Sie es ja nicht, an der Tür zu lauschen, verstanden?“, fügte Krohmer hinzu.

Frau Gutbrod wurde knallrot, denn es war tatsächlich so, dass ihr Chef sie schon mit dem Ohr an der Tür erwischt hatte. Was war heute los mit ihm? Warum schickte er sie weg? Kannte er die tote Frau etwa? Während sie zu ihrem Büro ging, machte sie sich die wildesten Gedanken über das, was sie eben erlebt hatte. Und als sie an ihrem Schreibtisch saß, war sie sich sicher, dass sie die Lösung gefunden hatte: Die Tote war die heimliche Geliebte ihres Chefs! Es konnte nicht anders sein, denn warum sonst hatte er so heftig reagiert. Ihr wurde speiübel. Schon seit Längerem war sie davon überzeugt, dass es in der Ehe der Krohmers kriselte! Sie stand auf, warf einen prüfenden Blick auf den Gang, schloss die Tür und rief ihre Nichte Karin an, um sie über die Neuigkeit zu unterrichten.

Als Frau Gutbrod das Besprechungszimmer verlassen hatte, beschloss Krohmer, offen und ehrlich mit seinen Kollegen zu sprechen.

„Das, was ich Ihnen jetzt sage, bleibt unter uns. Haben wir uns verstanden?“

Die Kollegen nickten und ahnten nichts Gutes. Krohmer hatte große Mühe zu sprechen. Ständig knetete er seine Hände und starrte darauf, er musste sich sehr zu dieser Aussage überwinden.

„Wir, also meine Frau und ich, haben ein Patenkind, ihr Name ist Silke Deser. Sie ist neunundzwanzig Jahre alt und wir haben sie nach dem Tod ihrer Eltern bei uns aufgenommen. Damals war sie sechzehn Jahre alt. Während eines Schulausfluges wurde sie in Berlin von Mitgliedern einer Sekte angesprochen. Von welcher, kann ich Ihnen nicht sagen, obwohl ich sehr viel recherchiert habe. Aber dass es sich dabei um die Mitglieder einer Sekte gehandelt hat, haben Schulfreudinnen einstimmig ausgesagt. Silke stand offenbar seitdem in Kontakt mit dieser Sekte und ist dann, nachdem sie volljährig geworden war, nach Berlin abgehauen und lebte fortan dort. Natürlich haben wir versucht, sie davon abzuhalten und sie wieder zurückzuholen, aber sie hat jeglichen Kontakt zu uns abgebrochen und sich nie wieder bei uns gemeldet. Am letzten Sonntag bekamen wir überraschend einen Anruf von ihr. Sie bat uns unter Tränen um Verzeihung, was natürlich vollkommen überflüssig war. Selbstverständlich waren wir nicht böse auf sie. Wir freuten uns, dass sie gesund war und sich meldete. Wir haben uns sofort mit ihr verabredet, sie wollte uns am Montag besuchen. Sie hatte uns etwas Wichtiges mitzuteilen, was sie uns aber nicht am Telefon, sondern persönlich sagen wollte. Um was es dabei ging, kann ich Ihnen daher nicht sagen. Sie erinnern sich, dass ich Montag frei hatte. Meine Frau und ich haben den ganzen Tag gewartet, aber Silke ist nicht aufgetaucht. Natürlich haben wir uns Sorgen gemacht und waren enttäuscht, aber wir wollten sie nicht drängen und waren uns sicher, dass sie sich wieder melden würde.“

„Und Sie meinen, die Tote könnte Ihr Patenkind sein?“

„Ich bin mir nicht sicher, ich habe sie schließlich über zehn Jahre nicht mehr gesehen. Eine Ähnlichkeit ist vorhanden.“

„Nehmen Sie es mir nicht übel, Chef. Warum haben Sie keine Vermisstenmeldung rausgegeben, wenn sich Ihre Nichte seit Montag nicht mehr gemeldet hat? Heute ist bereits Donnerstag.“ Leo konnte diese Nachlässigkeit nicht nachvollziehen. Er an seiner Stelle hätte längst alles in seiner Macht stehende in die Wege geleitet, um das Mädchen zu finden.

„Mit welcher Begründung denn? Sie wissen doch genau, wie die Richtlinien und Vorgaben für eine Vermisstenanzeige sind. Silke war früher ein sprunghafter Mensch und hasste es, wenn man ihr nachspionierte. Wir wollten es uns nicht mit ihr verscherzen und haben uns darauf geeinigt, einfach nur abzuwarten. Ich hätte doch niemals damit gerechnet, dass ihr etwas zugestoßen sein könnte. Wir sind davon ausgegangen, dass ihr etwas dazwischenkam oder sie es sich anders überlegt hatte. Junge Menschen darf man nicht drängen, irgendwann kommen sie dann von selbst wieder zurück.“

In welchem Psychoblatt hatte er das denn gelesen? Viktoria und Leo waren peinlich berührt von dieser Aussage und hätten ihrem Chef am liebsten heftig widersprochen. Hans war derselben Meinung wie der Chef, Werner hielt sich zurück.

„Handelt es sich bei der Toten um eine Blutsverwandte?“, fragte Werner und wandte sich damit wieder den Fakten zu. Jetzt im Nachhinein konnte man eh nichts mehr an der Situation ändern.

„Ja, sie ist die Tochter meiner Schwester. Wir können also jederzeit einen DNA-Abgleich machen.“

„Dann reden wir hier nicht lange rum, sondern werden das umgehend veranlassen, dann wissen wir Bescheid.“ Viktoria nahm das Handy und telefonierte mit der Gerichtsmedizin München.

„Wann können wir mit einem Bericht rechnen?“, fragte sie die hörbar gestresste Frau am Telefon.

„Das wird noch dauern. Wir haben momentan sehr viel Arbeit, am Wochenende haben wir acht Todesfälle reinbekommen. Außerdem haben wir krankheitsbedingten Personalmangel. Heute wird das leider nichts mehr. Ich hoffe, dass wir es bis morgen Mittag schaffen, aber versprechen kann ich nichts.“

Viktoria war sauer. Sie konnte nachvollziehen, dass Krohmer Höllenqualen ausstehen musste. Die Nachricht kam deshalb besonders bei ihm nicht sehr gut an.

„Bis Morgen? Kann man das nicht irgendwie beschleunigen?“, rief er aufgebracht.

„Wenn wir Druck machen und herauskommt, dass es sich bei der Toten um eine Verwandte handelt, könnten Sie mächtig Ärger bekommen,“ beschwichtigte Leo seinen Chef. „Allerdings hätte ich eine Idee.“

„Und die wäre? Ich bin für alles offen.“

„Wenn wir den Notarzt von Altötting bitten, uns diesbezüglich zu helfen? Natürlich müssten Sie Ihre Beziehungen spielen lassen und den Schriftkram erledigen.“

Krohmer war begeistert.

„Das kriege ich hin. Sprechen Sie mit dem Mann und überzeugen Sie ihn.“

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