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Das blaue Mal

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Aber auch geschäftliche Briefe hatte er vorgefunden. Herr Friedrich Herlinger, bei dem er mit einer ziemlich großen Summe hing, mahnte nun, es mahnte der Juwelier Jönig, dessen Bekanntschaft Kehlhausen vermittelt hatte, und der erst vor mehreren Wochen nicht auf die selbstloseste Weise Carlo aus der Klemme geholfen hatte, es mahnten Lieferanten und Professionisten. Carlo nahm einen Bleistift und machte eine Aufstellung aller seiner Verbindlichkeiten. Es ergab sich, daß er ein gut Teil seines Vermögens aufgebraucht hatte. Nach dieser niederschmetternden Erkenntnis stand es für Carlo nunmehr fest, daß er, wenn er ein jämmerliches Ende vermeiden wollte, mit aller Kraft schleunigst daran gehen mußte, seine Studien zu beendigen und sich nach einer Stellung umzusehen.

Er suchte einen stadtbekannten Einpauker auf, mit dem er einen Arbeitsplan für die nächsten Monate entwarf, und bei dem er die Skripten jener Vorlesungen entlehnte, die er versäumt und über die er die nächste Prüfung abzulegen hatte. Gleichzeitig ließ er sich in einen Ausbildungskurs einer Handelsschule einschreiben.

Es brach nun für ihn eine Zeit ernster Tätigkeit an. Nicht leicht fiel es ihm mehr, zu lernen. Sein Gehirn war dieser Beschäftigung entwöhnt, sein ganzes Denken undiszipliniert und fahrig, es fehlte ihm an Konzentration. Aber ein glücklicher Zufall wollte es, daß er in den nächsten Wochen so ziemlich sich selbst überlassen blieb, daß sich ihm keine Ablenkung, keine Verführung bot. Ein besonders heißer Sommer war hereingebrochen, früher als sonst hatten heuer seine Freunde die Großstadt verlassen. Carlo saß bei heruntergelassenen Jalousien im Arbeitszimmer, plagte sich mit Paragraphen und suchte das Wesen der doppelten Buchführung zu erfassen. Wie ein Asket verscheuchte er die verlockenden Gebilde, die seine Phantasie über Lehrbücher und Gesetzessammlungen hinweg vor ihm gaukeln ließ: Sommertage irgendwo am Meer oder in den Dolomiten, Sommertage in heiterer Gesellschaft, aus der die kleine zarte Gestalt der Baronin de Vermaingaut immer am deutlichsten hervorsprang.

Gegen Ende November hatte er den Handelskursus absolviert und konnte mit erträglichem Erfolg die Prüfung ablegen. Mit dem Jus jedoch wollte es gar nicht vorwärts gehen. Hier handelte es sich um eine Materie, die er nur schwer seinem Gedächtnis einverleibte und noch schwerer behielt. Immer öfter stellte er sich die Frage, ob er mit diesem qualvollen Büffeln nicht doch nur seine jetzt so überaus kostbare Zeit verliere. Und als ihm selbst sein Einpauker von der Fortsetzung der juristischen Studien abriet, gab er sie schweren Herzens endlich auf.

Sehr mißmutig, unzufrieden mit sich und der Welt, war Carlo in diesen Tagen. Es war ein Wunsch seines verstorbenen Vaters gewesen, daß der Sohn einen akademischen Grad erreiche, und auch ihm selbst, Carlo, hätte es geschmeichelt, den Doktortitel tragen zu dürfen. Fast beschämt mied er in dieser Zeit sogar das Zusammentreffen mit seinen engsten Freunden.

An einem trüben Wintertag aber hatte er eine Begegnung, die ihn wieder aufrichtete und aus seiner Apathie riß. Er traf nämlich, als er gedankenverloren in der Dämmerung über die Mariahilferstraße schlenderte, Lisl Ortner. Fast hätte er sie in ihrem braunen Winterkostüm, einem billigen Fuchs, der sie aber sehr gut kleidete, um den Hals, nicht wiedererkannt.

Sie aber trat ihm in den Weg und sprach ihn an: »Halten Sie alle Ihre Versprechungen so, Herr Zeller? – Gar nicht schön haben Sie sich gegen uns benommen, gar nicht schön.« Und sie schmollte noch ein wenig und verzog das Mäulchen, aber bald war sie versöhnt.

»Kommen Sie doch in ein Kaffeehaus und lassen Sie uns gemütlich plaudern,« lud er sie ein.

»In ein Kaffeehaus? Wenn uns jemand miteinander sieht, ist die Tratscherei fertig. Und um acht Uhr muß ich zu Hause sein, spätestens, sonst ist Mama besorgt,« zögerte sie.

»Haben wir zwei vor den anderen etwas zu verbergen? Um acht Uhr bringe ich Sie nach Hause, und wenn Sie erlauben, sage ich Ihrer Frau Mama noch guten Abend.«

»Das ist etwas anderes!« Sie folgte ihm in ein nahes Kaffeehaus, wo sie sich in einer Fensternische niederließen.

Geradezu der liebe Himmel mußte ihm die Lisl Ortner in den Weg geschickt haben. Sein übervolles Herz eröffnete sich ihr, natürlich und frei gab er sich, und aus dem Gefühl heraus, zu einer anteilfähigen Seele zu sprechen, vertraute er ihr, als wäre sie sein bester Kamerad, seine Kümmernisse an. Aufmerksam hörte sie ihm zu, und erst als er geendigt hatte, ergriff sie das Wort, um ihn zu trösten, ihm Mut zuzusprechen, über seine Gegenwart ein freundliches Licht zu breiten. Bis er wirklich wieder von Vertrauen und Hoffnung erfaßt wurde. Er war in praktischen Dingen eigentlich recht unerfahren, sie aber hatte die Weisheit des braven Hausmütterchens. Sie gab ihm Ratschläge, wie er seinen Haushalt einrichten solle, um weiter behaglich und doch nicht so kostspielig zu leben.

»Was brauchen Sie denn einen Diener, Herr Zeller? Genügt es Ihnen nicht, wenn Ihnen die Hausbesorgerin aufräumt und die Wohnung in Ordnung hält. Und ein Zimmer sperren Sie halt ab, große Gesellschaften geben Sie jetzt ohnehin nicht. Sie müssen sich das jetzt gut einteilen mit Ihrem Geld, damit es so lange vorhält, bis Sie zu einer einträglichen Stellung gelangt sind.«

Und während sie so sprach, ihn anblickte und belehrte, schaute er sie an und freute sich an dieser Erscheinung voll Gesundheit und Anmut und Keuschheit. Als sie aber diesen Blick der Bewunderung fühlte, wurde sie etwas unsicher und errötete.

Sie blickte auf die Uhr: »Oh, jetzt heißt‘s aber eilen,« sagte sie und erhob sich.

Die Ortners wohnten ziemlich weit draußen, in der Mariahilfer Vorstadt, in der Stumpergasse. Eine Zeitlang ging Carlo schweigend neben Lisl her. Und plötzlich sagte er ganz aus seinen Gedanken heraus: »Wissen Sie, Fräulein Lisl, das ist doch wunderbar: verbummelt und materiell recht bedrängt und stellungslos, wie ich jetzt bin, habe ich doch manchmal das Gefühl, daß ich die Bestimmung zu irgend etwas Besonderem, zu irgendeiner – lachen Sie mich nicht aus – irgendeiner Tat habe. Ich habe gerade in den letzten Wochen, wo ich mich sozusagen zu mir zurückfand, Momente gehabt, in denen die Erkenntnis über mich kam, daß dieses Leben, das ich bis vor kurzem gelebt, gar nicht das meinige, gar nicht das mir gehörige ist, und daß ich ganz, ganz andere Bahnen zu gehen habe. Welche Bahnen freilich, das weiß ich nicht.«

»Sie müssen eben jetzt warten, bis das Schicksal Ihnen einen Wink gibt,« sagte sie.

»Und Sie, liebes Fräulein Lisl, möchten Sie auch ein bißchen aufpassen und neben mir stehen, damit ich solch einen Wink nicht übersehe?« fragte er sie impulsiv.

Sie gab ihm keine Antwort und blickte zu Boden. Aber als er jetzt nach ihrer Hand faßte und sie drückte, erwiderte sie leise diesen Druck.

Frau Oberst Ortner nahm ihn trotz der späten Stunde auf ihre ungezwungene und herzliche Art auf und nötigte ihn, zum Abendbrot zu bleiben, das sie zu viert, am unteren Ende des Tisches die kleine Elly, ein schlanker, hübscher Backfisch mit kurzgeschorenem Haare, einnahmen.

* * *

»Ja, natürlich, soll geschehen,« erwiderte Clemens von Ströbl, sich behaglich in ein Fauteuil zurücklehnend und eine Zigarette in Brand steckend. »Schon morgen spreche ich mit meinem Alten, der soll dann beim Direktor Walter der Industriebank, mit der unsere Firma ja eng liiert ist, ein gutes Wort für dich einlegen. Das ist gescheit von dir, daß du die fade Geschichte mit dem Jus endlich an den Nagel gehängt hast.«

Seit diesen Worten Ströbls in der Bar des Hotels Bristol waren vierzehn Tage vergangen. Carlo war schon einigemal mit Clemens zusammengetroffen, aber dieser war nicht auf die Angelegenheit zurückgekommen. Nun begann Zeller selbst davon zu sprechen, während sie zusammen im Turnsaal des Klubs standen, bereit, Hantelübungen zu machen.

»Sag einmal, Clemens, wie steht denn die Sache mit der Industriebank? Du weißt, daß es mir jetzt einigermaßen eilig ist.«

Ströbl wurde sichtlich verlegen. »Ja, lieber Carletto, mit der Industriebank ist leider gegenwärtig nichts. Keine Vakanzen dorten. Es kann ja unter Umständen eine Stellung im Sekretariat frei werden, aber wann, das ist nicht genau vorauszusehen. Ich weiß das schon seit einigen Tagen, ich wollte an einer anderen Stelle auch anklopfen für dich, in der Austriabank, wo mein Vetter Robert im Rechtsbureau arbeitet.«

»Nun, und welches Resultat?«

»Ich habe ihn leider bis jetzt nicht sprechen können; ich werde im Laufe der nächsten Tage einmal zu ihm hinaufschauen. So dringend ist es für dich schon, einen Posten zu haben?«

Carlo nickte.

»Geht‘s mit dem Geld schon zu Ende?«

Carlo hörte mit scharfem Ohr aus dieser Frage das lauernde Mißtrauen. Nie war es ihm so klar zu Bewußtsein gekommen, wie in diesem Augenblick, daß man ihn glatt fallen lassen würde, wenn er nicht mehr in der Lage wäre, gesellschaftlich mitzutun. Er warf den Kopf hochmütig in den Nacken: »Davon kann nicht die Rede sein. Aber ich habe eben bereits genug von dem Bummelleben. Du bist ja jetzt auch tätiger als früher.«

»Richtig. Naja, wenn du die Sache beschleunigen willst, mußt du dich auch sonst umtun, alle Hoffnungen darfst du nicht auf mich setzen.«

Nun wußte Zeller wenigstens, woran er mit Ströbl war. Und er beschloß, heute noch mit Kehlhausen zu sprechen, dem man ebenfalls gute Beziehungen nachrühmte, ferner mit Herrn Kommerzialrat Anbelang, Vorstandsmitglied des Klubs, ein Großindustrieller, der in vielen Verwaltungen saß. Und Lisl Ortner, die er noch am selben Abend – wie beinahe jeden Abend jetzt – im Kaffeehaus in der Mariahilferstraße traf, riet ihm, es auch mit einem Inserat in einer großen Tageszeitung zu versuchen.

 

Ach ja, wenn er Lisl in dieser Zeit nicht gehabt hätte! Immer mehr entpuppte sie sich als sein einziger Freund, als sein bester Kamerad. An den Tagen, an denen sie einander aus irgend einem Grund nicht sehen konnten, kam er sich sehr einsam vor.

Liebte er sie – liebte sie ihn? Nie war von Liebe zwischen ihnen gesprochen worden, der Ton, in dem sie miteinander verkehrten, war wohl ein herzlicher und vertrauter, aber nie ein vertraulicher, von einem Flirt, wie er so viele früher mit jungen Mädchen aus der großen Welt gehabt hatte, war bei diesen Beziehungen nicht die Rede. Aber wenn er in ihrer Nähe war, da fühlte er sich irgendwie geborgen, wenn er neben ihr saß, wallte schneller sein Blut, und sein Herz klopfte stärker, und er war so glücklich, und oft, oft war es ihm, als müßte er sie an sich reißen: »Du, du, dich habe ich gesucht, immer nur dich, und nun, da ich dich gefunden habe, lasse ich dich nicht mehr.«

Aber wozu von solchen Dingen sprechen? warnte ihn eine innere Stimme. Daß auch sie ihm gut war, fühlte er. Die Möglichkeit einer Vereinigung stand noch in weiter Ferne. Einander durch Geständnisse zu erhitzen, hieß für sie beide, die sie jung und lebenshungrig waren, unnötige Qualen heraufbeschwören. Denn bei einem Mädel wie Lisl wäre es Verbrechen gewesen, an eine andere Vereinigung als an eine legitime zu denken.

* * *

Drei Monate lang bewarb sich Carlo nun bereits emsig um eine Stellung. Noch immer nichts. Weder die Interventionen seiner Freunde, die freilich sehr lässige gewesen sein dürften, noch eigene Wege, noch Inserate, noch Offerte hatten geholfen. Wenn er der Hoffnung gewesen war, sein Verkehr in den besten Kreisen Wiens könnte ihm diesmal bei seinem Fortkommen nützen, so sah er sich jetzt bitter enttäuscht. Man hatte ihn als jungen, hübschen Menschen aus guter Familie, von angenehmen Manieren und als flotten Tänzer gern gesehen, doch seine sonstigen Qualitäten schätzte man nicht allzu hoch ein. Und irgend eine Persönlichkeit, auf die man etwas geben mußte, stand weder als Protektor noch als Verwandter oder Freund hinter ihm. Man vertröstete ihn, schweifte vom Thema ab, sprach mit ihm von gesellschaftlichen oder sportlichen Veranstaltungen und entließ ihn mit einem echt wienerisch unverbindlichen: »Wir werden schon sehen, lieber Herr Zeller!«

Seine Stimmung wurde immer verzweifelter. Er mußte untätig sein, verdienstlos und dabei mit ansehen, wie sein Vermögen dahinschmolz. Wohl hatte er sich gewisse Einschränkungen auferlegt, aber darin so weit zu gehen, um mit den Zinsen seines Besitzes das Auslangen zu finden, wäre nur durch einschneidende Änderung seiner Lebensführung notwendig gewesen, durch Auflassen der Wohnung, Austritt aus dem Klub, Zurückziehen von seinem bisherigen Verkehr, – er wäre sich dann geradezu als deklassiert vorgekommen, und seine Chancen, eine Stellung von einigem Ansehen zu erlangen, als Privatsekretär oder Sekretär in einer Bank oder in einem großen, industriellen Unternehmen, kurz, eine Stellung, die einen repräsentativen, fähigen, eleganten Menschen erforderte, wären noch ungünstiger gewesen.

Damals meinte Carlo in seiner jugendlichen Ahnungslosigkeit, bitterere Tage werde er nie mehr durchzumachen haben, wenn diese Krise einmal überwunden sein werde. –

Aber auch über das Haus Ortner waren unfrohe und traurig bewegte Wochen hereingebrochen.

Schon längere Zeit war Lisl, die früher so frische und muntere, beim Zusammensein mit Carlo still und beklommen, ohne ihm auf sein Drängen Aufklärung über diese Veränderung ihres Wesens zu geben. Und wenn er im Hause oben erschien, bemerkte er auch in Mienen und Gebaren von Frau Ortner und Elly Bangen und Sorge. An einem Sonntag nachmittag nun, es war anfangs Februar, platzte Carlo mitten in eine Familienszene hinein: er fand Lisl tränenüberströmt, die Hände vors Gesicht geschlagen, in einer Sofaecke kauernd. Frau Ortner stand hochrot und sehr erregt vor ihr, Elly drückte sich verschüchtert in eine Ecke.

»Um Gottes willen, was ist denn geschehen?« entfuhr es dem erschrockenen Carlo.

»Sehr gut, daß Sie gerade jetzt kommen, Herr Zeller, sehr gut,« wandte sich Frau Ortner an ihn: »Sie sind ja ein Freund unserer Familie, Sie sollen alles erfahren und sollen uns raten.« Sie hieß ihn, sich an den runden Mitteltisch niedersetzen, und während vom Sofa her von Zeit zu Zeit ein Aufschluchzen Lisls herüberkam, erzählte sie:

»Sehen Sie, Herr Zeller, wir können einfach nicht mehr weiter. Es ist ja wahr, der Artur ist heute schon Leutnant in Josefstadt und die Elly hat ihren Posten bei der Staatsbahndirektion. Aber der arme Bursch kann von seiner Gage halt doch nicht leben, und das kleine Salär der Elly hilft auch nicht viel, denn alles, Sie wissen ja, wird von Tag zu Tag teurer, die Lebensmittel, die Schuhe, die Kleider, jetzt sind wir auch im Zins gesteigert worden. Ich weiß wirklich nicht mehr, wo ein und aus. Nun ist vor einiger Zeit wieder ein Brief meines Schwagers aus New York gekommen, wir haben Ihnen ja von ihm erzählt, und er schreibt mir wieder, ich soll mir doch das Leben erleichtern und Lisl hinüberschicken. Mein Gott, leicht gibt man ja sein Kind nicht aus dem Haus, leichten Herzens, das dürfen Sie nicht glauben, schickt man sein Mädel nicht übers Meer – aber wenn‘s nicht anders geht! Uns allen wäre es eine große Erleichterung. Lisl könnte sorglos, ja in Luxus leben, ich hier würde das eine Zimmer vermieten, und für Elly und mich langt es zur Not gerade noch. Aber nun denken Sie sich: Während die Lisl früher immer sagte, sie möchte ganz gern zum Onkel, jetzt auf einmal will sie nichts davon wissen, unverständlicherweise. Sie sträubt sich mit Händen und Füßen! Grund für ihre Weigerung gibt sie mir keinen an. Vielleicht können Sie mehr aus ihr herausbekommen oder ihr gar den Kopf zurechtsetzen. – Was nur in das Mädel gefahren ist!«

Blutübergossen und sehr betreten saß Carlo da. Es wollte ihm scheinen, als hätte am Schlusse der aufgeregten Erklärung der Frau Ortner dort, wo sie von der unverständlichen Weigerung Lisls sprach, ein ziemlich scharfer, gegen ihn gerichteter Vorwurf herausgeklungen.

»Ich werde mit Fräulein Lisl sprechen, wenn sie ruhiger ist,« sagte er.

Langsam versiegten Lisls Tränen, man setzte sich an den Tisch und versuchte, ein gleichgültiges Gespräch zu führen, das sich allerdings nur schwer vorwärtsschleppte.

»Möchten Sie mir die Freude machen und mit mir in ein Kino kommen, Fräulein Lisl?« fragte Carlo, nachdem sie den Tee eingenommen hatten, denn ihm war darum zu tun, aus dem Haus zu kommen. »Es wird Sie zerstreuen.«

Lisl, die ihn verstand, willigte ein, und da auch Frau Ortner gegen einen gemeinsamen Kinobesuch nichts einzuwenden hatte, brachen die beiden bald auf.

Wortlos gingen sie über die Mariahilferstraße dem Ring zu. An den Kinos, die mit großen Plakaten lockten, schritten sie vorbei. In die Innere Stadt führte Carlo Lisl in ein ganz altes Viertel hinter dem Stephansdom.

»Wohin gehen wir?« fragte sie.

»Sie haben doch Vertrauen zu mir? Ich kenne eine italienische Weinstube, in der es um diese Stunde ziemlich leer sein dürfte. Wollen Sie?«

Lisl nickte.

Sie bogen in ein enges, winkeliges Gäßchen ein und betraten nach einigen Schritten den niederen, gewölbten Raum des Weinlokales. Wie Carlo es vorausgesagt hatte, war es fast leer hier. Sie setzten sich in eine offene Loge, in der sie recht abgeschlossen waren.

»Warum wollen Sie nicht nach New York, Lisl?« Und als sie ihm keine Antwort gab, fügte er mit halblauter Stimme hinzu: »Ist es meinetwegen?«

Sie senkte tief den Kopf und hauchte nur: »Ja.«

»Lisl!« schrie er beinahe auf, und riß sie an sich. Sie bog, die Augen geschlossen, den Kopf zurück, und lange lagen ihre Lippen aufeinander. In dieser Stunde verlobten sie sich, versprachen sich einander fürs ganze Leben. Und dann, ganz eng zusammengerückt, Hand in Hand, besprachen sie die Zukunft.

Lisl sollte sobald als möglich nach New York. Carlo würde seine Anstrengungen verdoppeln, damit er ehestens einen Posten erhalte. Sei er aber einmal in Stellung, dann wollten sie ihre Verlobung publik machen, und mit dem nächsten Dampfer sollte sie zurückkehren zur Hochzeit. Gelänge es ihm aber nicht, in Wien unterzukommen, nun – so würde er ihr eben nach New York folgen! Jung und arbeitslustig war er, sprachenkundig, ohne einen Heller in der Tasche würde er auch nicht die Neue Welt betreten, warum sollte ihm nicht gelingen, was so vielen anderen gelungen war, es drüben zu Ansehen und Reichtum zu bringen?

Der Ruf in die Ferne – vielleicht ist das der Wink des Schicksals, vielleicht wartet dort meine Bestimmung auf mich!

Lisl Ortner traf ihre Reisevorbereitungen. Sie nähte und flickte und hatte alle Hände voll zu tun, um rechtzeitig fertig zu werden, denn am 10. März ging schon ihr Dampfer ab. Carlo aber, der nicht wollte, daß seine kleine Braut in allzu dürftiger Ausstattung hinüber käme und vielleicht über die Achsel angesehen würde, wurde wieder vom Leichtsinnsteufel gepackt, streifte durch die Geschäfte und machte Besorgungen. Das eleganteste Reisenecessaire, das er fand, brachte er Lisl, Frau Ortner es harmlos als ein Abschiedsgeschenk an seine liebe Freundin darstellend. Im geheimen jedoch steckte er Lisl noch jeden Tag irgendein Päckchen zu: ein Dutzend Seidenstrümpfe, ein Paar seidene Abendschuhe, ein Flakon französischen Parfüms, einen Reiseschal. Auch der Verlobungsring durfte nicht fehlen, den sie sich erst anstecken durfte, sobald sie im Zuge saß, denn vor der Mutter wollten sie sich als Verlobte erst erklären, wenn für sie die Möglichkeit bestand, einander zu ehelichen. Sie fürchteten beide, Mama Ortner könnte von diesem augenblicklich etwas aussichtslos aussehenden Verlöbnis nicht sonderlich erbaut sein. Aus gelegentlichen Äußerungen von ihr wußte Lisl, daß sie sich mit der Hoffnung trug, die Tochter könnte drüben in Amerika eine gute Partie machen.

Im Fluge vergingen die paar Wochen bis zu Lisls Abreise.

Es war am 9. März. Carlo war eben aus dem kleinen Gasthaus in seiner Nachbarschaft, in dem er seit Entlassung seines Dieners das Mittagmahl einzunehmen pflegte, nach Hause gekommen. Er war im Begriff, sich auf dem Sofa ein wenig auszustrecken, als es draußen läutete. Erstaunt über einen Besuch zu solcher Stunde, ging er hinaus, die Türe zu öffnen. Vor ihm stand Lisl. Verschämt war sie, ganz schüchtern, und doch die blauen Augen leuchtend vor Freude.

»Vor dem Abschied, Carlo, wollte ich mir doch einmal dein Heim anschauen, damit ich mir auch das Bild von den vier Wänden mitnehmen kann, zwischen denen du lebst!«

Erregt und bewegt führte Carlo sie in sein Arbeitszimmer. Mit einem glücklichen Lächeln sank sie an seine Brust. Unter Lachen und unter Tränen saßen sie zwei Stunden lang beieinander. Nicht leicht fiel es ihm, das junge, blühende Geschöpf in den Armen, das sicherlich seinen Wünschen keinen starken Widerstand entgegengesetzt hätte, Herr seiner Sinne zu bleiben. Aber er bezwang sich, und ihre zärtlichen Blicke sagten ihm Dank für seine ehrenhafte Haltung.

Am nächsten Morgen dann, es war ein regnerischer Märztag mit fast winterlichen Schauern, standen sie alle an dem Waggon, aus dessen Fenster Lisl Ortner ihnen die letzten Abschiedsworte zurief. Sie war guter Dinge, oder sie tat wenigstens alles, die Rührung und den Trennungsschmerz sich nicht merken zu lassen.

Der Leutnant Artur Ortner, der zur Verabschiedung der Schwester nach Wien gekommen war, lächelte unsicher, aber in strammer, militärischer Haltung. Carlo Zeller stand etwas abseits, ziemlich stumm. Aber der letzte Ruf, als der Zug aus der Halle rollte, kam von ihm: »Auf Wiedersehen, Lisl!«

Carlo setzte seine Bemühungen zur Erlangung einer Stelle fort, aber mit stets geringeren Erfolgen. Wo sich ihm ein Posten bot, war‘s immer ein ganz niederer, der ihm nur demütigend erschien und gar nicht die Möglichkeiten geboten hätte, einen Hausstand zu gründen. Diejenigen, die sich einmal seine Freunde genannt und mit denen er auch rein äußerlich den Umgang noch aufrecht hielt, kümmerten sich gar nicht mehr um seine Privatangelegenheiten. Und er sprach mit ihnen auch nicht mehr darüber, da er schon wußte, wie wenig echter Teilnahme er dort begegnete.

Von Lisl kamen fleißig Briefe. Sie war im Hause des Onkels gut und liebevoll aufgenommen worden, befand sich wohl, und die Sehnsucht nach Carlo quälte sie und trübte ihre Tage. Solche Briefe waren natürlich nicht geeignet, Carlos Geduld zu stärken. Da kam Ende Juni die Stunde über ihn, da er sich sagte: »Genug des fruchtlosen Suchens hier, jetzt hinüber zu Lisl.« In einem von Leidenschaft durchzitterten Brief teilte er ihr diesen Entschluß mit.

 

Er ging an den Verkauf seiner Möbel, er machte zu Geld, was sich irgendwie verwerten ließ.

Gerade jener Brief aber, mit dem er Lisl seine baldige Ankunft angezeigt hatte, blieb unbeantwortet.

Er war vermutlich verloren gegangen. Carlo wiederholte den Inhalt in einem zweiten Schreiben, in dem er sich auch beschwerte, solange von ihr ohne Nachricht zu sein.

Der Erlös seiner Einrichtung wie sein restliches Bargeld sicherten ihm für die erste Zeit in Amerika noch immer eine gewisse Unabhängigkeit.

Den Freunden erzählte er, daß er einen nicht allzu lang währenden Besuch bei Verwandten in New York vorhabe; er wollte lästiges Fragen und Gerede vermeiden. Es belustigte ihn sehr, als er wahrnahm, wie sein Ansehen durch diese Reise wieder gehoben wurde. Man gab ihm sogar einen fidelen Abschiedsabend bei Sacher.

Von Frau Ortner verabschiedete er sich, als ob er eine Sommerreise anträte. Wie wird die gute Frau überrascht werden, wenn meine erste Nachricht aus New York kommt! – dachte er voll innerer Fröhlichkeit.

Ganz allein, ein Einsamer, in dem wehmütigen Bewußtsein, niemand zurückzulassen, dem er fehlte, aber auch in dem freudigen, glücklichen, dem einzigen Menschen entgegenzuziehen, der sich nach ihm sehnte, fuhr er an einem Augusttag vom Wiener Nordbahnhof ab.

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