Der eigen-sinnige Mensch - eBook

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Kontakt nimmt Bezug auf Fragen wie: »Was will dieser Moment oder diese Aufgabe von mir?« Bin ich bei mir und bei der Situation? Bin ich aufmerksam, interessiert (lat. »inter- esse«, dazwischen sein), offen, wach, aufgeschlossen, empfänglich für das, was ich beabsichtige und tue? Nehme ich bewusst »Anteil« an dem, was geschieht? Oder fühle ich mich nicht angesprochen, bin ich müde, gelangweilt, schwer, angespannt oder unter Zeitdruck? Möchte ich die Sache schnell hinter mich bringen? Wenn es gelingt, mehr im Kontakt (lat. »cum«- mit/zusammen, »tangere« – berühren, beeindrucken) mit sich zu sein, innerlich berührt zu sein, sich aufmerksamer in die Situation einzuspüren, dann kann man am/im eigenen Körper leib-seelische Spannungsunterschiede (den jeweiligen »Tonus«) bemerken und selbstständig ändern. Dies ist »selbstverantwortliche Berührungstherapie«.

Berührungen in der Psychotherapie

Zu Beginn seiner Arbeit waren für Sigmund Freud therapeutische Berührungen nicht ungewöhnlich. Ende des 19. Jahrhundert galt die »manuelle oder instrumentelle Reflexbehandlung« von »hysterogenen Zonen« als gängige Praxis. 1896 wandte sich Sigmund Freud in einem Brief an seinen Freund Wilhelm Fliess. Dieser hatte als Hals-, Nasen- und Ohren-Spezialist mit seiner »nasogenitalen Reflexneurose« für Aufmerksamkeit gesorgt. In seinem Brief beschrieb Freud die Behandlung einer Patientin, die unter »krampfartigen Brustschmerzen« litt: »Ich habe mir bei ihr eine merkwürdige Therapie erfunden. Dabei suche ich empfindliche Stellen auf, drücke auf diese und provoziere so Schüttelkrämpfe, die sie befreien.«

Bei einer anderen Patientin hatten Freud und sein Kollege Josef Breuer eine »hysterogene Zone« »in einer ziemlich großen, schlecht abgegrenzten Stelle an der Vorderfläche des rechten Oberschenkels« gefunden. Wenn sie die »hyperalgische Haut« (schmerzempfindliche Haut) an dieser Stelle drückten, dann nahm das Gesicht der Patientin einen seltsam schmerz-lustartigen Ausdruck an, ihr Gesicht rötete sich, sie schloss die Augen, warf den Kopf zurück, und ihr Rumpf bog sich rückwärts – was damals ein Hinweis auf einen Anfall von schwerer Hysterie galt.


Peter Gaymann, Wellness Hühner

Freud suchte später für seine Methode einen gänzlich anderen Weg ohne jede körperliche Berührung. Er bevorzugte die indirekte »Berührung durch Worte«. Er beschrieb die »Berührungsangst« als ein Kernelement des neurotischen Verdrängens. Dieses »Tabu« der Berührung erstrecke sich nicht nur auf die direkte Berührung mit dem Körper, dem unmittelbaren leiblichen Kontakt, sondern auch auf das übertragene, gedankliche »in Berührung kommen mit« dem Verbotenen (Sigmund Freud, Totem und Tabu).

Georg Groddeck, einer der Begründer der Psychosomatik, schrieb über seine praktische Arbeit: »Die tiefste Grundlage für ärztliches Handeln (…) ist eine gewisse Übereinstimmung dieser beiden Menschen (Arzt und Patient) auf animalischem Gebiet. Der Ausdruck ›animalisch‹ soll bedeuten, dass dieser wichtigste Faktor der Behandlung zunächst nichts mit dem Wissen und Können des Arztes zu tun hat, sondern aus der Begegnung zweier Menschenwelten, aus ihrer gegenseitigen menschlichen Sympathie und Antipathie entsteht. Es gehört nicht viel Erfahrung dazu, um zu wissen, dass die körperliche Berührung für die Ausbildung dieses Heilfaktors beinahe entscheidend ist.«

Heute haben körperliche Berührungen im Rahmen der psychotherapeutischen Arbeit nur eine marginale Rolle. Durch die Trennung zwischen Psyche und Körper fehlt jegliche körperliche Berührung in der Aus- und Weiterbildung der Psychotherapeuten. Zudem erwarten Patienten in der Psychotherapie ausschließlich ein Reden über ihre Probleme.

Für die psychotherapeutische Arbeit ist einerseits ein Klima von Vertrauen, Geborgenheit und menschlicher Nähe wichtig. Andererseits ist aufgrund von neurotischen Übertragungsphänomenen durch Berührungen die Gefahr von sexuellen Verführungssituationen und Übergriffen vorhanden. Deshalb werden Berührungstechniken in den meisten Psychotherapien nur selten angewandt. Sie werden stattdessen an spezielle Körpertherapeuten delegiert. Der Austausch über die therapeutischen Prozesse ist zwischen den Therapeuten meist schwierig. Mehr als zwanzig Jahre habe ich mit Kollegen unterschiedlicher Richtungen ein internationales Seminar für körperorientierte Psychotherapie, Körpertherapie und Körperkunst, »Leib oder Leben«, organisiert. In meinen Workshops habe ich versucht, Therapeutinnen und Therapeuten in Selbsterfahrungen die möglichen Wirkungen von Berührung und Kontakt »am eigenen Leib« nahezubringen. Die Umsetzung ihrer Erfahrungen in die berufliche Arbeit war für die meisten schwierig.

Händedruck als Kommunikationsmittel

Wir sprechen zwar von einer psychotherapeutischen »Be-Handlung«, aber dies ist ein irreführender Begriff. Hände spielen in der Therapie kaum eine Rolle. Aber die Bewegungen und Positionierung der Hände von PatientInnen, sowie deren wechselnde Spannung oder nervöse Beweglichkeit können subtile Hinweise auf ihr Befinden vermitteln. Sind ihre Hände verkrampft oder offen? Wie häufig und wann werden sie für unbewusste Selbstberührungen genutzt? Sind die Hände und Arme verschränkt oder an den Körper gepresst? Wie viel Bewegungsspielraum ermöglichen sie?

Eine weitgehend unproblematische Berührung in der Psychotherapie ist die Begrüßung durch Handkontakt. Die Art und Weise, wie mir jemand die Hand zum Gruß darreicht, zögernd oder herausfordernd, ob er diese von sich streckt oder zu sich zieht, ob jemand seine Hand fast leblos in meine legt oder sie kraftvoll nach unten drückt – all dies können Botschaften über den aktuellen Zustand und das Anliegen eines Menschen vermitteln. Die Temperatur der Hand, ob kalt oder warm, feucht oder trocken, rau oder zart, ist ein weiteres Signal in der Kommunikation. Auch die Dauer des Handkontakts, schnell und zurückweichend, dauerhaft und klammernd, mit der ganzen Hand oder nur mit wenigen Fingern, gibt mögliche Informationen. All dies kann Hinweise darauf geben, wie man »zueinanderfinden« kann, wie die Bedürfnislage ist, inwieweit man sich vertrauensvoll »in die Hand eines anderen begeben« möchte, ob man »bei der Hand genommen werden« möchte oder »Hand-in-Hand« zusammenarbeiten.

Nachdem sich in der Therapie ein gutes Arbeitsbündnis und eine vertrauensvolle Zusammenarbeit entwickelt haben, können diese Kommunikationsformen bewusst thematisiert und alternative Formen für die Zukunft erprobt werden. Aus dieser Berührung kann eine freundliche Erinnerung für die »Übung« von Veränderungen »im Alltag« werden.

Individuelle Berührungsangst und ihre Auflösung im »Massenkörper«

Der Literaturnobelpreisträger Elias Canetti wurde durch die Nationalsozialisten ins Exil gezwungen. Er widmete sich in seinem Buch Masse und Macht auch der individuellen Berührungsfurcht in unterschiedlichen Kulturen sowie deren paradoxer Auflösung innerhalb von Menschenmassen. »Nichts fürchtet der Mensch mehr als die Berührung durch Unbekanntes. Man will sehen, was nach einem greift, man will es erkennen und zumindest einreihen können. Überall weicht der Mensch der Berührung durch Fremdes aus. (…) Alle Abstände, die die Menschen um sich geschaffen haben, sind von dieser Berührungsfurcht diktiert.« Über die Auflösung dieser Berührungsfurcht schreibt er: »Es ist die Masse allein, in der der Mensch von dieser Berührungsfurcht erlöst werden kann. Sie ist die einzige Situation, in der diese Furcht ins Gegenteil umschlägt. Es ist die dichte Masse, die man dazu braucht, in der Körper an Körper drängt, dicht auch in ihrer seelischen Verfassung, nämlich so, dass man nicht darauf achtet, wer es ist, der einen bedrängt. Sobald man sich der Masse einmal überlassen hat, fürchtet man ihre Berührung nicht. In ihrem idealen Falle sind alle gleich. (…) Es geht dann alles plötzlich wie innerhalb eines Körpers vor sich.«

Die alltägliche Berührung von glatten Oberflächen und Berührungen auf Distanz

Die häufigste berührte Oberfläche ist heute der eindimensionale Touchscreen der Handys und Tablets. Bereits kleine Kinder werden zu diesem Kontakt animiert. Verstärkte Aufmerksamkeit von Forschern und Industrien gilt auch neuen Formen der »Berührung auf Distanz«. Sie suchen nach Möglichkeiten von »vermittelten Berührungen« und untersuchen, wie der Tastsinn – neben Hören und Sehen – stärker »als virtueller Kommunikationskanal« entwickelt werden könne. Technisch gestaltete Oberflächen simulieren bereits heute mithilfe von Datenhandschuhen oder haptischen Datenanzügen »virtuelles Tasten«. Sie vermitteln computeranimierte Berührungseindrücke bis hin zur Illusion des Cybersex.

Ob solche neuen Entwicklungen dem beklagten Berührungshunger der Moderne abhelfen können, scheint zweifelhaft. Sie könnten auch zur weiteren Entfremdung und Verarmung von Berührung führen. Der Medienforscher Marshall McLuhan schrieb: »Jede Erfindung oder Technologie ist einerseits eine Erweiterung von menschlichen Fähigkeiten, aber sie kann auch gleichzeitig als Selbstamputation unserer körperlichen Möglichkeiten verstanden werden.«

Manche Zukunftsszenarien sprechen davon, dass wir bald »intelligente Kleidungen« tragen könnten, die uns, mithilfe von »computer-enabled materials« und multiplen Sensoren über den Zustand unseres Selbst und unserer Umwelt informieren würden. Solche Technofantasien werden sich sicher vermarkten lassen. Aber ob sie auf Dauer zwischenmenschliche Berührungen ersetzen können, darf mit Recht bezweifelt werden.

Nichts kann liebevolle Berührungen ersetzen, und man kann sie nur vorübergehend an Fremde übertragen. Wir sollten mehr Kontakt erlauben und ermöglichen. Wenn eine Mutter ihr Neugeborenes zum ersten Mal in ihren Armen hält, dann erlebt sie unfassbare Momente des berührenden Glücks. Kinder suchen den kuschelnden Kontakt und wollen gestreichelt werden. Intuitiv reibt jeder als Erstes die schmerzhafte Stelle, an der man sich angestoßen hat, mit den eigenen Händen. Die nackte Haut zweier Liebender vereint ganze Kontinente. Wenn sich ernsthafte Schwierigkeiten in einer Partnerschaft auf Dauer nicht lösen lassen, dann signalisieren neurodermitische Hautausschläge manchmal stellvertretend die Ablehnung jedes weiteren Kontakts. Erst wenn man die Wohltaten von Berührung und Nähe gespürt hat, kann man sich umso besser seiner Haut wehren. Es gibt kein Medikament, das in traurigen Momenten des Abschieds so trösten kann, wie die liebevolle Umarmung eines nahestehenden Menschen – auch ohne Worte.

 

SCHMECKEN –

Was auf der Zunge liegt

Wollt ihr das Volk bessern, so gebt ihm (…) bessere Speisen. (Denn:) Der Mensch ist, was er isst.

Ludwig Feuerbach

Meine »Geschmacksgeschichte« beginnt am Übergang der Nachkriegsjahre in die Zeiten des »Wirtschaftswunders«. Diese Jahre waren für mich sowohl ein »selbstversorgender Garten auf dem Lande« als auch Beobachtungen einer Konjunktur »nachholenden Heißhungers« der Erwachsenen. Ihr »kollektives Gedächtnis« war noch geprägt von Krisenzeiten, in denen für die Mehrheit der Bevölkerung ein »Notwendigkeitsgeschmack« (Pierre Bourdieu) geherrscht hatte – meist minderwertiges Essen, in der Sorge um ausreichende »Fülle«. In den 50er- und 60er-Jahren sollte deshalb vieles demonstrativ »nachgeholt« werden.

In meiner Heimat hatten wir das Glück eines eigenen Gartens mit Gemüse und Obstbäumen. Für den Winter wurde Obst auf Vorrat eingemacht und Marmelade eingekocht. Meine Großmutter hielt Hühner, die für frische Eier sorgten und bisweilen eine herrliche Suppe hergaben. In der Nähe gab es eine Molkerei, in der man Milch, Butter und Quark kaufen konnte. Fleisch gab es seltener, und freitags wurde in der traditionell katholischen Familie nur Fisch gegessen. Süßigkeiten waren selten. In der vorösterlichen Fastenzeit mussten wir diese in einem Glas sichtbar aufheben, ohne daran zu naschen.

Ich erinnere mich gut an die gedeckten Tafeln der Familienfeste. Mittags gab es Braten mit Kartoffeln und dicken Soßen. Anschließend tranken die Erwachsenen »echten Bohnenkaffee« mit Kondensmilch. Dazu wurden selbst gemachte Buttercreme- und Schwarzwälder-Kirschtorten sowie Frankfurter Kranz serviert. »Gute Butter«, Mayonnaise, Russische Eier, Schinkenröllchen mit Dosenspargel sowie Dosenananas gehörten zu den besonderen Köstlichkeiten dieser Zeit.

Für uns Kinder wurde manchmal durchsichtiger Wackelpudding mit Vanillesoße gereicht, der damals als »Götterspeise« angepriesen wurde (sicher nicht in Erinnerung an die »Ambrosia« der griechischen Götter, die angeblich unsterblich machen sollte).

Nach dem Krieg galten süßes, fettes und fleischhaltiges Essen als kulinarische Höhepunkte eines neuen »Prinzips Hoffnung«. Für uns Kinder hieß es, »alles zu essen, was auf den Tisch kommt« und den Teller immer »leer« zu essen. Wem dies schwerfiel, der wurde an das Schicksal der hungernden Kinder in Afrika gemahnt. Beliebt war damals die Geschichte vom »Suppenkasper«. Wer seine Suppe nicht aufisst, so zeigte der Suppenkasper, konnte rasch abmagern, und schon nach fünf Tagen drohte ihm möglicherweise der Tod. Erst viel später habe ich erfahren, dass diese Geschichte 1844 vom Frankfurter Armenarzt und Psychiater Heinrich Hoffmann, als »selbst erfundene Weihnachtsgeschichte«, für seinen dreijährigen Sohn Carl-Philipp verfasst wurde. Die Geschichten vom Struwwelpeter wurden später als »lustige Geschichten und drollige Bilder der Kinder von drei bis sechs Jahren« veröffentlicht. Heute scheinen sie eher eine Form von schwarzer Pädagogik zu sein.

Besondere »Köstlichkeiten« meiner Kindheit waren fettige belgische Fritten und rheinische Reibekuchen. Meine Oma hatte die liebenswürdige Gepflogenheit, die Teller der Kinder immer besonders voll zu machen. Zum Glück war ich während dieser Zeit viel draußen und ein begeisterter Sportler. Dadurch blieb mir ein drohendes Übergewicht erspart.

Die Vorliebe für süßes, fettes und gut gesalzenes Essen änderte sich, als Rundfunk und Fernsehen auf dessen Schädlichkeit »für das Herz« hinwiesen. Anfangs nahm man das Ganze noch nicht ernst. Man begann aber, trockene Weine zu bevorzugen und achtete mehr darauf, keinen »Bierbauch« zu haben. Maßhalten und eine gute Figur wurden wichtig.

Während meines Medizinstudiums habe ich mir erstes Wissen über Anatomie, Physiologie, Biochemie und Pathologie der Nahrungsaufnahme und Verdauung sowie Grundzüge von gesunden Ernährungsweisen aneignen können. Dieses Wissen ging kaum über Nährwert- und Kalorienberechnungen oder grobe Orientierungen für »gesündere« Ernährung hinaus.

In den 70er-Jahren tauchte die »Umweltfrage« auf und mit ihr Debatten über die Bedeutung von Bio- und Öko-Qualitäten. Schließlich wurde ich selbst Vater, und wir achteten genauer auf die Zusammensetzung der Babynahrung. Diskussionen um mögliche Folgen von industrieller Brot- und Nahrungsmittelproduktion, Zusatzstoffe, eine Begrenzung des Fleischkonsums und den Verzehr von mehr Gemüse fanden Eingang in die breitere Öffentlichkeit.

Inzwischen wird insgesamt mehr Wert auf einen bewussteren Umgang mit Nahrungsmitteln gelegt. Ein kritisches Bewusstsein für die Bedeutung von Ernährung, geschweige denn vom Genuss des Essens bleiben jedoch Stiefkinder der modernen Medizin. Diese Fragen werden gerne an andere Berufsgruppen delegiert. In meiner psychotherapeutischen Arbeit insbesondere mit Ärzten bin ich immer wieder erstaunt, wie schlecht diese sich selber täglich behandeln, etwa dann, wenn es um ihre geregelten Pausen für Mahlzeiten geht.

Der Geschmackssinn in philosophischer Hinsicht

In der westlichen Tradition der Philosophie galt der Geschmackssinn über zwei Jahrtausende als »niedrig« in der Hierarchie der Sinne. Aufgrund seiner Nähe zu den animalischen Fressinstinkten stand er unter Verdacht. Appetit wurde in der Nähe der Tiere angesiedelt, und immer drohte die »Völlerei« als Feind des Denkens. Die Subjektivität des Geschmacks erschien den Philosophen für den objektiven Erkenntnisgewinn, den der Mensch anzustreben habe, als wenig erfolgversprechend. Der denkende Mann war mit der Vernunft beschäftigt, Essen und Kochen waren dagegen Frauensache.

Eine frühe und oft geschmähte Ausnahme bildeten im 3. Jahrhundert v. Chr. der Philosoph Epikur von Samos und seine Schule. Er stellte sich polarisierend gegen die herrschende Stoa und Platon und sah in der Lust, als Abwesenheit von körperlichen Schmerzen und seelischer Unruhe, ein vom Menschen anzustrebendes »höchstes Gut«. Dabei ging es ihm nicht um Gelüste und Ausschweifungen, sondern vielmehr darum, wie die natürlichen Grundbedürfnisse nach Essen und Trinken gut befriedigt werden können. In Bezug auf die sozialen Freuden des Essens schrieb er: »Du sollst mehr Umsicht darauf verwenden, mit wem du isst und trinkst als darauf, was du isst und trinkst, denn Nahrungszufuhr ohne einen Freund ist das Leben eines Löwen und eines Wolfs.« Im Hinblick auf exotische Nahrungsmittel und regionale Produkte merkte er an:»Man sollte nicht aus Gier nach fernen Gütern die nahen gering achten, sondern bedenken, dass auch diese einmal zu den sehnlich erwünschten gehört haben.«

1850 schrieb der Philosoph und Anthropologe Ludwig Feuerbach noch in den Nachwehen der März-Revolution von 1848 den sozialkritisch gemeinten Satz: »Wollt ihr das Volk bessern, so gebt ihm (…) bessere Speisen. (Denn:) Der Mensch ist, was er isst.« Feuerbach setzte sich vehement für eine »neue Philosophie« ein, die die Wahrheit der Sinnlichkeit »mit Freuden und mit Bewusstsein« anerkennen sollte. Er wehrte sich gegen die philosophische Konstruktion eines Gegensatzes von Vernunft und Sinnlichkeit. Je nach Situation konnte diese Sinnlichkeit, ähnlich wie bei Epikur, im Wein und im Wasser, in Gänseleberpastete, Gerstenklößen oder der »schwarzen Suppe der spartanischen Enthaltsamkeit« gefunden werden. Auch das »trockene Brot der Pflicht« könne zum Leckerbissen werden, wenn man hungrig genug sei. Feuerbach sah in der Ernährung den Anfang aller Existenz und in der Nahrung den Anfang aller Weisheit. »Anfang und Wurzel alles Guten ist die Freude des Magens; selbst Weisheit und alles, was noch über sie hinausgeht, steht in Beziehung zur Freude des Magens.« Er sah in der umgebenden Natur, die wir uns einverleiben müssen, ein »zweites, umweltleibliches Ich«, das es zu achten, schätzen und behutsam zu pflegen gelte.

Der französische Philosoph Michel Serres merkte 1985 an: »Es wird ein wenig zu schnell vergessen, dass Homo sapiens zunächst den bezeichnet, der Sapor, also Geschmack, hat, dem der Geschmackssinn wichtig ist, das schmeckende Tier, und erst dann den, der durch Urteilskraft, Verstand oder Weisheit zum Menschen geworden ist, den sprechenden Menschen. (…) Die Weisheit kommt nach dem Geschmack, sie kann nicht ohne ihn kommen, aber sie vergisst ihn.«

Unterstützung für die philosophische Bedeutung des »Homo Sapor« kam aus anderen Wissenschaften. So zog der britische Zoologe und Neurophysiologe John Z. Young 1968, aufgrund seiner tierexperimentellen Untersuchungen in einem Vortrag über den »Einfluss des Mundes auf die Evolution des Gehirns« die Schlussfolgerung: »Die Tatsache, dass Gehirn und Mund sich beide am selben Ende des Körpers befinden, ist nicht so trivial, wie es scheint.« Dann wurde er grundsätzlicher: »Kein Tier kann ohne Essen leben. Die logische Konsequenz daraus ist, dass die Nahrung den wichtigsten Einfluss auf die Entwicklung der Organisation des Gehirns und des Verhaltens hat, das die Gehirnorganisation vorschreibt

Als John Z. Young dies anmerkte, war das Interesse an der Hirnforschung noch kaum verbreitet. Erst dreißig Jahre später begann eine intensivere Beschäftigung mit dem Geruchs- und Geschmackssinn Fahrt aufzunehmen. Dies hing mit neuen molekularbiologischen und gentechnischen Untersuchungsmöglichkeiten sowie mit neuen bildgebenden Techniken wie Computertomografie und Magnetresonanz zusammen. Heute sprechen Forscher davon, dass der Geschmack sich aus dem Zusammenspiel sinnlicher Wahrnehmungen sowie deren Interpretation zu einer Gestalt im Gehirn entwickle. Der Philosoph und Gastrosoph Harald Lemke prägte den Begriff der »Essthetik« für den seiner Ansicht nach »organlosen Sinn« des Geschmacks, der sich nicht ausschließlich über die Sinnesphysiologie beschreiben lasse. Für ihn ist Schmecken eine andere Art des Erkennens.


Geschmack bezieht viele Sinnesqualitäten zugleich mit ein.

Der französische Jurist und Geschmacksphilosoph Jean Anthelme Brillat-Savarin schrieb 1826 in seiner Physiologie des Geschmacks: »Man kann alle Arten von Gemeinschaften um den Tisch versammelt finden: Liebe, Freundschaft, Familie, aber auch Geschäft, Spekulation, Macht, Aufdringlichkeit, Vorsitz und Schirmherrschaft, Ehrgeiz und Intrige. All diese Gäste am gemeinsamen Essenstisch allem ein sozialer Sinn ist. In allen Kulturen nehmen Gastmahle eine wesentliche gemeinschaftsstiftende Funktion ein. Der Soziologe Norbert Elias hat ausführlich über die Bedeutung des Essens für die Entwicklung der modernen Zivilisation gearbeitet. Jeder weiß, welche wichtige Rolle Manieren, Sitten, Höflichkeit, aber auch Ekelgefühle »bei Tisch« haben. Gemeinsames Essen dient darüber hinaus als Erinnerung an Opfergaben oder zu religiösen Ritualen, man beeinflussen, wie es uns schmeckt. Die Herausforderung besteht also darin, die Nahrung untereinander zu teilen und so vielleicht durch den gemeinsamen Genuss des Essens friedlichere Lösungen zu finden.« Auch die amerikanische Kulturwissenschaftlerin Diane Ackerman betont, dass der Geschmackssinn vor denke an Tauffeiern und Leichenschmaus, sowie zu Nationalgerichten oder der Pflege von traditioneller, lokaler Küche.

Geschmack und Essen sind vielfach mit Erinnerungen, Situationen, Belohnungen und Verboten verbunden. Auch wenn die Grundrichtungen unseres Geschmacks (süß, salzig, sauer oder bitter) angeboren sind, so werden sie von ersten Erfahrungen an der Mutterbrust, über »Szenen am Esstisch« der Familie, kulturelle Sitten der Gesellschaft, nicht zuletzt von modernen Esspraktiken infolge der industriellen Nahrungsmittelproduktion anerzogen, erlernt und bleiben veränderbar.

 

Die Entfaltung des Geschmacks beim Essen braucht Zeit und Lust. Seine sinnlichen Dimensionen und verführerischen Qualitäten stehen häufig am Anfang des Kennenlernens von Liebespaaren. Eine Einladung zum Essen wird zum Vorspiel »für mehr«. Im Austausch von Speichel durch Zungenküsse wird die Intimität der eigenen Mundhöhle gemeinsam geteilt.

In der biblischen Geschichte werden Adam und Eva durch die Verführung des verbotenen Apfels zum Sündenfall gelockt. Die Einverleibung des Verbotenen führte bekanntlich zu ihrer Vertreibung aus dem Paradies. Heute kennen wir sinnesphysiologische Verbindungen des Geschmackssinns mit den leicht »verführbaren« Hirnzentren von Motivation und Belohnung. Diese lassen sich durch raffinierte Geschmacksverstärker, Aromen und Werbekampagnen gezielt »reizen«. Wer diesen Verführungen zu oft und zu intensiv erliegt, dem bereiten sie mögliche neue Qualen, worauf die rasch zunehmenden »neuen Epidemien« von Übergewicht und Diabetes in Industriegesellschaften hinweisen. Bertolt Brecht hat geschrieben, dass erst das Fressen komme und dann die Moral.

Der Geschmackssinn und die Ernährung können nicht losgelöst von technologischen Entwicklungen wie maschinelle Bodenbearbeitung, Pflanzenzucht, Weidehaltung, Massentierzucht, Fermentierung, Lagerung, Tiefkühltechniken oder komplexe Transportwege diskutiert werden. Mit deren Hilfe ist es in vielen Teilen der globalisierten Welt gelungen, die Ernährung großer Teile der Bevölkerung ausreichender zu gestalten.

Metaphern des Geschmacks

Im Alltag benutzen wir ein reichhaltiges Vokabular für das Schmecken. Sprachwissenschaftler eines Forschungsprojekts der Universität Zürich haben seit 2008 einen riesigen »Geschmackswortschatz« zusammengestellt. Dabei beziehen sie sich nicht nur auf Geschmacksqualitäten, sondern auch auf die Geschmacksintensität (würzig, mild, pikant, fad), darauf, wie sich eine Speise im Mund anfühlt (cremig, knusprig, knackig) sowie auf Überschneidungen von Geschmäckern oder vielfältige, vergleichende Umschreibungen wie »es schmeckt wie …«. Es wird deutlich, dass Geschmacksbezeichnungen vielschichtige Bedeutungen haben, unterschiedliche Assoziationen wecken, oft vage bleiben und dadurch viele Möglichkeiten der Verführung in der Werbung eröffnen. Ein typisches Beispiel ist der Begriff »frisch« im Zusammenhang mit Geschmack und Nahrungsmitteln. Er genießt uneingeschränkte Sympathie und umspannt ein weites sprachliches Bedeutungsfeld.

Umgangssprachliche Anwendungen des Wortes »süß« bewegen sich im Umfeld von Wohlgeschmack und Freude. Wir sprechen vom »süßen Leben« (im Italienischen von »la dolce vita«), von Momenten, die uns das Leben »versüßen«, vom »süßen Schlaf« und »süßen Traum«. Partner verwenden den Kosenamen »Süße/-r«. Manchmal kann das Ganze »zuckersüß« oder »süßlich« werden, wenn zu viel »Süßholz geraspelt« wird. Sowohl Liebe als auch Rache können in unserer Sprache »süß« sein. »Süß« kann aber auch eine negative Bedeutung haben im Sinne von geziert, weichlich, fad oder klebrig.

Redewendungen, die sich auf »salzig« beziehen, verweisen darauf, dass »dem Leben ohne Salz die Würze fehlt«. In der Bergpredigt sagte Jesus seinen Jüngern, dass sie »das Salz der Erde« seien. Salz gilt in vielen Kulturen als Symbol für Freundschaft und Treue. In früheren Zeiten war Salz auch ein Zahlungsmittel und eine sogenannte Primitivwährung. Salz war Ausdruck von Reichtum und Macht. Römischen Legionären wurde zusätzlich zu ihrem Sold Salz als »Salär« (lat. »salarium«) ausgezahlt.

Salz kommt wie Aphrodite aus dem Meer und birgt Anspielungen auf Sexualität, wie das »Salz auf deiner Haut«. Es fördert Geschmack, wo ansonsten manches fad und geschmacklos bliebe. Aber es gibt auch »gesalzene Preise«, Situationen in denen man jemandem »die Suppe versalzt« und »salzige Tränen« fließen. Salz zu verstreuen bewirkte in manchen Kulturen Angst vor drohenden Katastrophen. Im Mittelalter galt Salz als probates Mittel, um Hexen zu vertreiben, wobei man zum Schutz Salzkörner über die linke Schulter warf. Über die Möglichkeit des Verrats durch verstreutes Salz wurde hinsichtlich des von Judas umgeworfenen Salzstreuers spekuliert, wie ihn Leonardo da Vinci auf seinem berühmten Bild vom »Letzten Abendmahl« dargestellt hat. Der Literaturwissenschaftler Thomas Straessle hat eine umfangreiche Enzyklopädie über das Salz geschrieben, in der er über dessen Vorkommen als Medium und Gabe in Magie, Glauben und Sprache berichtet. Er zitiert die Dichterin Ricarda Huch: »Der Mensch kann, das wissen wir, ohne Salz nicht leben; aber ein Gericht aus purem Salz wäre tödlich.« In manchen Traditionen waren der zeitweilige Verzicht auf die Würze des Salzes und die bewusste Betonung der »Fadheit« (»blandness«) eine wichtige Weisheitsübung, wie dies der Philosoph François Jullien für das alte China beschreibt: »Der Weise genießt das Geschmacklose (wei wuwei) und beschäftigt sich mit ›Nichthandeln‹.«

Sauer macht nicht nur lustig. Wer »sauer ist«, kann heftig reagieren. Etwas »sauer Verdientes« ist mit großer Mühe verbunden. Sauer wird in Zusammenhang mit ärgerlich, beschwerlich, böse, beleidigt, eingeschnappt sein verstanden. Etwas kann »sauer aufstoßen«, macht uns »stinksauer«, etwas anderes »versauert« oder man ist »angesäuert«. Mühsam, unerfreulich und missmutig muss man notgedrungen in einen »sauren Apfel beißen«, macht dazu ein »saures Gesicht« oder »gibt jemandem Saures«.

Bitterer Geschmack weckt die Assoziation potenziell giftiger Nahrungsmittel. Ein »bitterer Nachgeschmack« kann Ausdruck davon sein, dass eine »bittere Wahrheit« ausgesprochen wurde. Jemand ist »verbittert«, macht »bittere Erfahrungen« und schluckt »bittere Arzneien« oder fürchtet »erbitterte Feindschaften«. Bitter leitet sich vom mittelhochdeutschen »bitta« – »beißend, scharf« ab. Es stellt eher einen herben, für manchen fast schmerzlichen Geschmack dar. Galle ist bitter. »Bitterlich« kann für abscheulich, ekelhaft, grässlich, betrüblich, spöttisch und zynisch stehen. Manches nimmt ein »bitteres Ende«, jemand wird »bitterböse«, man kann etwas »bitter bereuen« oder »bitter nötig« haben. Eine ungewöhnliche Mischung stellt das Wort »bittersüß« dar, das die gleichzeitige Mischung aus guten und schlechten Erfahrungen zum Ausdruck bringt.

Der Mund, durch den die Nahrung in uns gelangt, hat im Volksmund viele Bezeichnungen wie Maul, Klappe, Schnauze, Schnute oder Fresse. Man kann jemandem »nach dem Mund reden«, »über den Mund fahren«, jemand hat ein großes »Mundwerk«, man kann jemandem »Honig ums Maul schmieren« oder »das Maul aufreißen«. Ein anderer steht »mit offenem Mund« daneben. Eine Gaumenfreude »mundet«. Die Art und Weise, etwas in den Mund zu nehmen oder zu essen, kann ruhig und bedächtig sein, während andere etwas in sich hineinstopfen und herunterschlingen. Unangenehmes und Unausgesprochenes kann man in sich »hineinfressen«. Der Mund wird poetisch beschrieben als »der Platz, an dem wir die Welt begrüßen«, als das »Tor des Körpers« oder als »Salon des großen Risikos« (Diane Ackerman).

Im Mund, als einer der intimsten Zonen des Körpers, befindet sich die Zunge. Mal ist diese Ausdruck von Provokation und Ekel, mal kann die Zunge Lust anzeigen und lüstern wirken. Die Zunge kann »schwer sein« oder »sich lösen«. Es kann einem etwas »auf der Zunge liegen«, was man aber nicht ausspricht. Manchmal möchte man sich »auf die Zunge beißen«, und man muss »seine Zunge hüten« oder »im Zaum halten«. Man kann »das Herz auf der Zunge tragen« oder etwas »mit Engelszungen« ausdrücken.

Den oberen Teil der Mundhöhle, den Gaumen, kennen wir im Zusammenhang mit »Gaumenfreuden« und einem »feinen Gaumen«. Was Appetit macht, kann »den Gaumen kitzeln«, gutes Essen kann zu einem »verwöhnten Gaumen« beitragen. Auch die Geräusche, die beim Essen entstehen, das Schmatzen und Schlürfen, das Knacken und Knuspern (»Ohrenschmaus«) tragen zum Geschmack bei, ebenso wie Farben und Formen, die das Essen zur »Augenweide« machen. Der Geschmacksphilosoph Brillat-Savarin hat davon gesprochen, dass beim Schmecken »der Mund die Küche« und »die Nase der Schornstein« sei. Geschmacksempfindungen werden zusammen mit den Riechorganen wahrgenommen. Die letztendliche Bewertung dessen, was in Mund, Gaumen oder der Nase gefühlt wird, findet durch Vergleiche auf der Ebene des Gehirns statt.

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