Der eigen-sinnige Mensch - eBook

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Mitte des 19. Jahrhunderts hatte der Anatom und Physiologe Ernst H. Weber, der als Begründer der Psychophysik gilt, geschrieben: »Als haptische Wahrnehmung bezeichnet man das ›Begreifen‹ im Wortsinne, also die Wahrnehmung durch aktive Exploration im Unterschied zur taktilen Wahrnehmung, bei der das berührte Objekt unbewegt bleibt.« Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte der Biologe Ernst Haeckel entdeckt, dass bereits einzellige Organismen auf chemische und haptische Reize reagieren, obwohl sie noch kein Nervensystem besitzen. Er sprach davon, dass diese »Fluchtreaktionen« der Einzeller ein »internes Abbild zur Erhaltung des eigenen Organismus« voraussetzen. Auch Ernst Haeckel vermutete den Ursprung aller Sinne in der Haut.

Die Haut als »Sinnesorgan«

Unsere Haut ist die knapp zwei Quadratmeter große Hülle des Körpers. In unterschiedlicher Dichte beherbergt sie viele Hundert Millionen unterschiedlicher Fühler (»Rezeptoren«). Diese benachrichtigen uns über Berührungen und unterschiedliche physikalische Phänomene wie Hitze, UV-Strahlung, mechanischen Druck oder Reibungen. Unsere Haut ist Teil der Regulierung des Wasser- und Temperaturhaushalts unseres Körpers. Sie bietet chemischen Schutz und ist mit einem Fettfilm überzogen, der Säuren abmildert. Die intakten Strukturen der Haut verhindern das Eindringen von Mikroorganismen. Wir wissen heute, dass sich auf der Oberfläche unserer Haut, inklusive unserer inneren »Schleimhäute«, mehr fremde Zellen befinden, als wir insgesamt eigene Zellen haben. Dieses symbiotische Zusammenleben mit anderen Lebewesen ist für uns »überlebenswichtig. Andere Mikroben können uns gleichzeitig bei Abwehrschwächen oder Verletzungen der Haut bedrohen. Dann ist es umso wichtiger, dass diese rasch von anderen Zellen »repariert« werden. Im Rahmen der Immunabwehr hat die Haut wichtige Aufgaben.

Mithilfe des Tastsinns berühren wir ein breites Spektrum unserer Mit- und Umwelt von der Nahrungsaufnahme bis zum Gehen, von zufälligen Begegnungen mit Fremden bis zum intimen Kontakt. Wir sprechen noch vom »Tastsinn«, aber in der Wissenschaft wird heute vom »Tastsinne-System« geredet. Zum einen nehmen wir passiv Berührungen unseres Körpers wahr (»taktile« Wahrnehmungen, lat. »tangere«: tasten, befühlen), zum andern können wir durch aktive Bewegungen Reizstrukturen erkunden und »begreifen« (haptisch, griech. »haptein«: berühren, angreifen).

Tast- und Druckrezeptoren vermitteln uns einen fortlaufenden Eindruck (»Interozeption«) über unseren Körper. Dieses innere »Tastempfinden« bildet den Referenzpunkt für unsere äußeren Wahrnehmungen. Das Geschehen der unbewusst ablaufenden körperlichen Veränderungen bezeichnet der Neurobiolge Antonio Damasio als »Proto-Selbst«. Dieses entwickle sich lebenslang und diene immer wieder neu als Bezugspunkt für unsere Wahrnehmungen. »Jede Wahrnehmung ist eine Schöpfung, jede Erinnerung auch eine Neuschöpfung – alles Erinnern ist in-Beziehung-setzen, verallgemeinern, neu kategorisieren. In einem solchen Verständnis haben starre, unveränderliche Erinnerungen, hat die ›reine‹ Auffassung von einer, nicht durch die Gegenwart verzerrten Vergangenheit keinen Platz.« (Oliver Sacks)

Der Neurowissenschaftler David Linden schreibt in seinem Buch Touch: The science of the sense, that makes us human: »In den letzten Jahren haben wir geradezu eine Explosion in unserem wissenschaftlichen Verständnis von Berührung erlebt.« Diese optimistische Einschätzung wird von anderen Forschergruppen (Francis McGlone, Hakan Olofsson) geteilt. Mithilfe neuer Technologien hat die Forschung herausgefunden, dass es zwei parallel arbeitende Berührungssysteme gibt.

Historisch hatte die Forschung den Tastsinn vor allem auf seine »taktilen Unterscheidungsfähigkeiten« hin untersucht. Diese nehmen vor allem Bezug auf Mechanorezeptoren im Bereich der Hände und Füße. Deren Funktionen werden dem »schnellen, ersten Berührungssystem« zugeordnet. Solche Rezeptoren finden sich insbesondere in den unbehaarten Teilen des Körpers. Sie sind mit »A-Nervenfasern« für die Unterscheidung von Druck, Erschütterung oder Gleitfähigkeit (»haptische Informationen«) zuständig. Mit ihrer Hilfe können aktiv Unterschiede auf äußeren Oberflächen erkundet werden. Sie nehmen niedrigschwellige Reize auf und leiten diese, über sogenannte markscheibenisolierte Nervenfortsätze, rasch an das zentrale Nervensystem weiter. Ihre Geschwindigkeit ermöglicht reflexartiges Reagieren. Insgesamt umfassen die »A-Nervenfasern« etwa 25 Prozent der Tastempfindung. Die Nervenleitgeschwindigkeit der »A-Fasern« ist etwa 50-mal höher als diejenige der »C-Fasern«, die nicht mit einer Markscheibe versehen sind.

»C-Fasern« nehmen taktile Wahrnehmungen auf und sind in erster Linie für gefühlsbezogene Qualitäten der Berührung zuständig. Sie leiten sowohl angenehme Berührungen als auch Empfindungen von Schmerz, Temperatur oder Juckreiz an das Gehirn weiter. »C-Fasern« befinden sich ausschließlich in den behaarten Zonen des Körpers. Gefühlsbezogene Berührungen waren bis dahin wissenschaftlich kaum erforscht und verstanden.

Die beschriebenen Rezeptoren und Nervenleitungen finden sich nicht nur in der Haut, sondern auch in Muskeln, Faszien und Gelenken. Zudem wird die Integration ihrer Botschaften durch mentale Prozesse wie Aufmerksamkeit, subjektive Bewertung, persönliche Erinnerungen und Gefühle beeinflusst. Zwischen den Berührungsbotschaften und dem »Autonomen Nervensystem«, das eine Vielzahl von Körperfunktionen – Blutdruck, Herzaktion, Atmung, Darmtätigkeiten – reguliert, besteht ein enger Austausch. Mithilfe von »bildgebenden Verfahren« (CT, MRT, MRI) konnten Untersuchungen der Gehirnfunktionen zeigen, dass eine enge Verbindung zwischen Berührungen und deren Verarbeitung im sogenannten Inselorgan des Gehirns bestehen. Psychosomatische Wechselwirkungen bringen Veränderungen des Körperempfindens, der Spannungen in der Muskulatur, der Körperhaltung sowie der Einstellungen und Erwartungen mit sich. Selbst- und Fremdberührung können wichtige Impulse zum Spannungsausgleich bewirken.

Im Hinblick auf sinnliche Erfahrungen hat der Psychiater Erwin Strauss die Unterscheidung zwischen deren »pathischen« (griech. »pathos«: Leidenschaft, Erdulden) und »gnostischen« (griech. »gnosis«: Kenntnis, Wissen) Anteilen vorgeschlagen. »Pathisch« ist die unmittelbare, sinnliche Aufnahme von Tönen, Farben, Gerüchen oder Berührungen. »Gnostisch« ist die eher distanzierte Erkenntnis von erlebten Erfahrungen. »Pathisch« erleben wir das, was gegenwärtig geschieht. Dieses ruft, je nach unserer aktuellen Empfangs- und Reaktionsbereitschaft, eine unterschiedliche » Resonanz« in uns hervor. »Gnostisch« richten wir unsere Aufmerksamkeit eher auf die Vergangenheit und Zukunft. Wir überdenken unsere Erfahrungen, geben ihnen Richtungen, Entfernungen oder Stabilität. Es wäre aber falsch, die beiden genannten Zugangswege der sinnlichen Erfahrung strikt zu trennen, denn sie sind unterschiedliche Dimensionen unserer Gesamterfahrung.

Die Hand: empfangen, begreifen, handeln

»Mangels anderer Beweise würde mich der Daumen vom Dasein Gottes überzeugen«, sagte der Physiker Isaac Newton. Die Entwicklung der Gegenüberstellung des menschlichen Daumens gegen die Handfläche und Fingerkuppen, die Entwicklung des »Spitz«- oder »Pinzettengriffs« gilt als wichtiger Entwicklungssprung in der Menschwerdung. Es gibt kaum ein differenzierteres und vielgestaltigeres Wahrnehmungsorgan als die Hand. Inklusive Elle und Speiche umfasst die Hand 29 einzelne Knochen. Viele der 33 Muskeln, die unsere Hand bewegen, erstrecken sich vom Unterarm in die Hand hinein. Fast nirgendwo auf der Körperoberfläche hat der Tastsinn ein so hohes Auflösungsvermögen wie im Bereich von Fingern und Hand. Nirgendwo ist die Feinmotorik so genau entwickelt wie in der Präzision von Handbewegungen. In der Hand werden Berührungssinn, Eigenwahrnehmung und Wahrnehmung der Eigenbewegung so zusammengeführt, dass sie eine räumliche Vorstellung der Dreidimensionalität ermöglichen. Die Verbindungen von Hand und Hirn machen diese zu einem »Werkzeug des Geistes« (Marco Wehr/Martin Weimann).

Der Neurologe Frank Wilson hat facettenreich beschrieben, wie die Hand entscheidend zur Entwicklung des menschlichen Gehirns, der Sprache und der menschlichen Kultur beigetragen hat. Unsere Hände können zart und offen wahrnehmen, spüren und empfangen, aber auch kräftig zupacken und derb austeilen. Sie unterstützen gestenreich unsere Sprache. Viele Alltagsbegriffe nehmen Bezug auf die Hand: behandeln, verhandeln, vorhanden sein, etwas liegt auf der Hand, von der Hand in den Mund, seine Beine in die Hand nehmen, handhaben, begreifen, ergreifen, etwas in Händen halten oder aus der Hand geben, bei der Hand nehmen, kurzerhand, allerhand, alle Hände voll zu tun haben, seine Hände in Unschuld waschen oder seine Hand aufs Herz legen – dies sind nur wenige Beispiele.

Vom kindlichen Übergangsobjekt des Daumenlutschens über hilfreiche Handreichungen, das handwerkliche Gestalten und Bauen, therapeutische Behandlung bis hin zum Datenhandschuh der virtuellen Realität – überall steht die Hand im Mittelpunkt. Die haptischen Dimensionen des Tastsystems haben im Zusammenhang mit der Entwicklung von Robotern, computeranimierten Berührungen oder Bewegungen auf Distanz heute neues Interesse geweckt.

Es ist schon erstaunlich, dass Forschungen zeigen, dass die meisten Menschen ihre eigenen Hände auf Fotos nicht wiedererkennen konnten. Vielleicht hilft es, wenn wir unseren Händen öfters ein paar Momente der liebevollen Aufmerksamkeit widmen, sie betrachten, reiben, kneten und bewundern.

Die embryonale Entwicklung von Haut und Tastsinn

Jede einzelne Zelle ist dazu in der Lage, physikalische oder chemische Veränderungen an der eigenen Oberfläche zu registrieren und sich durch Eigenbewegungen an diese anzupassen. Der Biologe Gregory Bateson hat poetisch angemerkt, dass jede Zelle mit den anderen Zellen durch Berührungen zusammenarbeite. Man könne fast sagen, dass sie sich umarmen.

 

Die biologische Entwicklungsgeschichte (Embryologie) der Haut und des Hautsinnes beginnt mit der Ausbildung der Keimblätter des menschlichen Embryos. Aus der äußeren Haut, dem Ektoderm, entwickelt sich die obere Schicht, die Epidermis. Aus dieser Schicht entwickelt sich auch das Nervengewebe. In einem langen Prozess von Zellwanderungen werden unterschiedliche Fühler (Rezeptoren) für Druck, Wärme und Schmerz sowie das »Jucksystem« in die darunterliegende Schicht des Mesoderms (mittlere Haut) ausgebildet. Im subkutanen Gewebe, der Unterhaut, bilden sich versorgende Blutgefäße und das Fettgewebe zur Flüssigkeits- und Wärmeregulierung.

Embryologische und Ultraschalluntersuchungen konnten zeigen, dass der nur knapp zweieinhalb Zentimeter große Embryo bereits ab der achten Schwangerschaftswoche mit einer Ganzkörperbewegung auf Berührungsreize in einem Lippenbereich reagiert. Diese Fähigkeit, die noch vor der Ausbildung aller inneren Organe existiert, kann als biologischer Beweis dafür gelten, dass sich das Tastsystem als erstes Wahrnehmungssystem entwickelt und sich frühzeitig enge Verbindungen zwischen Empfinden und Bewegen entwickeln. Bis zur 14. Schwangerschaftswoche dehnt sich diese Berührungssensibilität auf alle Körperregionen des Embryos aus. Ab der 12. bis 13. Schwangerschaftswoche sind bei ihm zielgerichtete Greifbewegungen der sich ausbildenden Hände zu beobachten. Diese Greifbewegungen finden unter Ausschluss jeglicher visueller Information statt.

Der Berührungsforscher Martin Grunwald hat die Entwicklungsbewegungen und Berührungserfahrungen des Embryos dargestellt (Martin Grunwald, 2017). Er geht davon aus, dass tastbasierte Erfahrungen des Embryos eine basale »neuronale Matrix im Gehirn« bilden. Im mütterlichen Fruchtwasser erfährt sich der bewegende Embryo mithilfe seines Tastsinns als Organismus im Raum und entwickelt ein erstes Körperschema. Berührungen sind eine wichtige Bedingung für zielgerichtete Bewegungen der Körperglieder. Winzige Sensoren in Haut, Muskeln, Sehnen und Gelenken senden auch im Ruhezustand ständig elektrische Impulse aus, die über die Positionen und die Lage der Körperglieder informieren. Berührungserfahrungen können als Bezugspunkte für die anderen Sinnessysteme dienen.

Die zahlreichen Selbstberührungen des Embryos können als Beruhigungsmöglichkeiten verstanden werden. Vor allem die Mundregion, die besonders dicht mit Tastrezeptoren und Bewegungsmöglichkeiten versehen ist, wird vom wachsenden Embryo betastet und bewegt, auch als Vorbereitung auf die Nahrungsaufnahme nach der Geburt.

Vor der Geburt bilden Zellen der Haut die sogenannte Käseschmiere, die die Haut des Embryos vor möglichen Schädigungen durch das Fruchtwasser schützt und als Gleitfilm für den Geburtsvorgang dient.

Nach der Geburt dienen tastende Erforschungen vor allem der Mundregion dem Säugling als Bezugspunkte seiner weiteren Bewegungsentwicklung. Die Berührungen zwischen ihm und der Mutter tragen zur Entwicklung seines psychischen Befindens bei. Aus phänomenologischer Sicht hat der Psychiater Thomas Fuchs darauf verwiesen, dass die Erfahrung des Widerstands in der Berührung hilft, die eigenen körperlichen Grenzen, den Übergang »vom Leib zum Körper« als eigenem »Körperschema« zu entwickeln. »An den Grenzen der gespürten Leiblichkeit taucht das zentrale Phänomen des Widerstands auf: In Berührung, Druck oder Stoß, beim Kauen oder Schlucken, bei der Defäkation, als Gegenrichtung des Bodens im Liegen oder Stehen. Widerstand bedeutet Gegenwirkung zu einer vordringenden leiblichen Richtung«. Tastend begegnen wir dem »anderen«, das uns zugleich fremd und verwandt scheint. Das »Fremde«, das uns berührt und das wir berühren, hinterlässt in uns »Eindrücke«. Diese sind nicht nur mechanisch, sondern haben auch Gefühlsqualitäten. Berührungsreize vermischen sich mit anderen Sinneswahrnehmungen und Gedächtnisinhalten, mit Handlungsabsichten, Erwartungen und Gefühlsbewertungen.

Psychobiologische Konsequenzen von Nähe und Berührung

Biochemie und Neurochemie waren die Grundlagen für die Arbeiten des Primatenforschers Harry Harlow. Mithilfe von technischen »Surrogat-Müttern« konnte er erstmals die fundamentale Bedeutung von mütterlicher Berührung und Zuwendung für die Entwicklung des Wachstums von Säuglingen nachweisen. Seine Forschungen über »Kontakttröstungen« bei jungen Primaten zeigten, dass Berührungen ein hochwirksamer, biologischer Ausdruck von mütterlicher Liebe sind. Seine Mutter-Kind-Experimente mit Affenbabys förderten wichtige Umwälzungen in der Psychologie des 20. Jahrhunderts.

Der Zeitgeist der Laborforschung war in den 50er-Jahren stark von technischen Apparaturen dominiert. In diesen Forschungen zur existenziellen Bedeutung von körperlicher Berührung wurden viele Jungtiere durchaus malträtiert, um dadurch größere Aufmerksamkeit für die Bedeutung der behutsamen Erziehung von Menschenkindern zu ermöglichen (Donna Haraway). Harlows Arbeiten wurden wegen ihrer drastischen Forschungsmethoden auch kritisiert. Sie fanden jedoch in einem kulturellen Klima statt, in dem von wissenschaftlicher Seite noch häufig und lautstark eine »distanzierte« mütterliche Liebe für notwendig befunden wurde. Sie sollte stattdessen auf einer »neutralen Nähe« basieren, denn zu viele Berührungen, so hieß es, würden kleine Kinder nur »verweichlichen« und »Abhängigkeitsprobleme erzeugen«.

Der Psychologe und Endokrinologe Seymour Levine konnte nachweisen, dass die Trennung junger Primaten von ihren Müttern zu erheblichen pathologischen Veränderungen ihrer Stresshormone führte. Wenn die jungen Primaten anschließend mit ihren Müttern wieder vereint wurden, zeigte sich rasch eine Rückentwicklung der ausgeschütteten Stresshormone sowohl bei den Jungen als auch bei ihren Müttern. Weitere Arbeiten der Berührungsforschung zeigten, dass Frühgeborene, die mehrmals am Tag für einige Minuten sanft massiert werden, deutlich schneller an Gewicht und Kraft zunehmen. Diese Berührungen fördern eine schnellere Reifung des Nervensystems.

Schritt für Schritt wurden Berührungen immer mehr als wichtiger Faktor des menschlichen Überlebens verstanden. Forschungen über die Wechselwirkungen der Mutter-Kind-Beziehungen, unterstützt durch psychoanalytische Beobachtungen in der Säuglingsforschung (John Bowlby, Rene Spitz, Daniel Stern), zeigten praktische Möglichkeiten für eine verbesserte Gestaltung des »Bindungsverhaltens« zwischen Müttern und ihren Kindern auf.

Soziologisch sind die psychobiologischen Forschungen als Teil eines sich insgesamt verändernden Klimas der amerikanischen Gesellschaft zu verstehen, das seit den späten Jahren des Zweiten Weltkriegs eine zunehmende »Psychologisierung« (Eva Illouz) der Erziehung, der sozialen Interaktionen und der Gestaltung von Arbeitsplätzen vorantrieb.

Bereits 1906 hatte der Engländer Henry Dale ein Hormon der Hirnanhangsdrüse (Hypophyse) entdeckt, das er nach einer griechischen Sprachableitung Oxytocin nannte, was so viel bedeutet wie »schnelle, leichte Geburt«. Er hatte die Rolle dieses Neuropeptids für den Geburtsverlauf und die nachfolgende mütterliche Milchproduktion beim Stillen erforscht. Dreißig Jahre später erhielt Henry Dale für seine Entdeckung den Nobelpreis für Medizin. Erst langsam wurde das gesamte Wirk- und Einflussspektrum von Oxytocin deutlicher, vor allem im Zusammenhang mit Berührungen, auch im Erwachsenenalter, mit Nähe, Vertrauen und Intimität. Oxytocin wird heute als »Gegenspieler« zu Stresshormonen und als mitverantwortlich für die Initiierung von »Ruhe und Verbindungsreaktionen« angesehen. Manche sprechen leicht ironisch von einer »Wunderdroge« (Stefanie Kara). Oxytocin kann die Serotonin-Freisetzung beeinflussen, was auch darauf hinweist, dass Berührungen eine wichtige Rolle in der Prävention und Therapie von Depressionen haben können.

Störungen des Tastsinns und psychosomatische Aspekte von Hautleiden

Nervenentzündungen oder -verletzungen, Multiple Sklerose, chronische Stoffwechselerkrankungen der Niere, Diabetes mellitus, toxische Umweltvergiftungen oder psychische Leiden können zu Störungen des Tastempfindens führen.

Der Neurobiologe António Damásio nennt die Haut »das größte aller Eingeweide« im Körper. Bei seelischen Belastungen führt die Verengung oder Erweiterung von Blutgefäßen unter der Haut dazu, dass sich »peinliches Erröten« zeigt.

In der »Psychosomatik der Haut« wird beobachtet, dass etwas zu sehr »irritiert«, »(zu) hautnah geschieht«, unbewusst »unter die Haut gegangen ist«, sodass es notwendig sei, »sich seiner Haut zu wehren« oder »seine Haut zu retten«.

Selbst zugefügte Hautverletzungen durch Ritzen und Schneiden sind bei sogenannten Borderline-Störungen häufig. Sie bringen diesen Menschen eine vorübergehende Entlastung und werden nicht in suizidaler Absicht ausgeführt (Ulrich Sasse).

Bei chronischen Überlastungen und unbewusstem Abwehrverhalten kann sich dieses mit Juckreiz paaren. Neurodermitis drückt sich in Rötung und Verfärbungen der Haut sowie in Schuppungen und unbewusst in Widerwillen und Ängsten vor Berührungen aus. Im Rahmen von psychotherapeutischen Konfliktklärungen habe ich beobachten können, wie dies für von Neurodermitis betroffene Menschen am eigenen Leibe nachvollziehbar wurde. Mit nachlassender Anspannung und Ängstlichkeit gingen die Krankheitszeichen ihrer Haut zurück. Bei manchen Behandlungen von Hauterkrankungen ist neben dem Auftragen von Salben, Cremes oder Puder kein direkter Berührungskontakt möglich. Hier kann die »Therapeutic Touch«-Methode möglicherweise helfen, eine »indirekte« Form der Berührung, die mit einem über die materielle Grenze der Haut hinausgehenden, »energetischen Feld« des menschlichen Körpers arbeitet. Durch systematische Streichbewegungen soll dieses »energetische Feld« der Haut heilsam beeinflusst werden. Auch wenn diese Phänomene wissenschaftlich noch nicht schlüssig erklärbar sind, so sind die praktisch erzielten Erfolge mit dieser Behandlungsmethode vielversprechend.

Ärztliche Berührungen

In meiner Arbeit haben Berührungen unterschiedliche Bedeutungen gehabt. Nach dem theoretischen Studium erlernte ich Techniken der körperlichen Untersuchung. Im Rahmen der körperlichen Untersuchung wurden wir auf Qualitäten der Haut wie Farbe, Durchblutung, Feuchtigkeit und Narbenbildung hingewiesen. Wir lernten unpersönlich zu untersuchen, fast wie ein verlängertes Sehen.

Die ärztliche Untersuchung des entblößten Körpers erscheint uns heute selbstverständlich. Eine ganzkörperliche Untersuchung ist in der Medizin erst schrittweise seit Beginn des 19. Jahrhunderts zur Praxis geworden. Zuvor wurde eine körperliche Untersuchung als verschroben oder gar anzüglich verstanden (Roy Porter). Lange war es üblich, dass Ärzte mit ihrem Ohr direkt auf dem Körper der Patienten dessen innere Geräusche abhörten. Einen Wendepunkt brachte hier die Entwicklung des Stethoskops durch den französischen Arzt René Laennec im Jahr 1819.

Ende des 18. Jahrhunderts hatte der Österreicher Leopold Auenbrugger eine Klopftechnik zur Verwendung des Körperschalls in der Diagnostik von Hohl- und Festorganen in der medizinischen Untersuchung entwickelt. In »lauschender Berührung« (Anna Harris) lernen Ärzte und Ärztinnen die »hohl und dumpf klingenden Körperräume« zu entdecken, Strukturen von Rippen und Lunge zu finden sowie Organe und Körperhöhlen durch deren Klang und Widerhall zu vermessen.

Die körperliche Untersuchung ist eine ritualisierte Einführung in das, was es bedeutet, Arzt oder Patient zu sein. Sie bestätigt das Recht der Ärzte, fremde Körper zu berühren sowie diagnostisch oder intervenierend in deren Inneres vorzudringen.

Das Erlernen von ärztlichen Untersuchungs- und Berührungstechniken ist ein weitgehend unpersönlicher und distanzierter Prozess. Im Vordergrund der ärztlichen Berührungen stehen Objektivierung, Ethik und Hygiene. Ich erinnere mich nicht, dass während meiner ärztlichen Ausbildung über heilsame Qualitäten von Berührungen sowie über die Bedeutung von Nähe, Kontakt oder Verbindung gesprochen wurde.

Heute wird beklagt, dass die unmittelbare, körperliche Untersuchung durch den Arzt ohne Zuhilfenahme von Instrumenten zunehmend an Wert verliert. Aus technischer Perspektive wird gleichzeitig darauf hingewiesen, dass manuelle, ärztliche Untersuchungen im Vergleich zu technischen Geräten eine geringere diagnostische Genauigkeit besitzen.

Die sorgfältige ganzkörperliche Untersuchung ist auch für geübte Ärzte zeitaufwendig. Der Zeitdruck, der heute auf Ärzten lastet, drängt manuelle körperliche Untersuchungen in den Hintergrund. Welche Qualitäten und welche zwischenmenschlichen Aspekte der Arzt-Patienten-Beziehung dabei verloren gehen, ist eine Debatte wert.

 

Unter dem Titel »Losing touch« hinterfragen kanadischen Familienärzte den Verzicht auf körperliche Untersuchung. Damit gehe ein wichtiges Stück Vertrauen und »pathisches Wissen« verloren. Diese Ärzte sprechen von einer »judgement-based care«, einer auf erfahrenen Beurteilungen beruhenden Versorgung, die alle menschlichen Sinne einschließlich der Gefühle einbeziehe und den Erfahrungen und Zukunftsvorstellungen der Patienten gebührend Aufmerksamkeit schenke. Dies könne helfen zu vermeiden, dass Ärzte vorschnell die erlebte Wirklichkeit eines spürbaren Körpers gegen die digitale Verrechnung von Körperstrukturen eintauschten (Martina Kelly u.a.).

Therapeutische Berührungen

»Die Haut ist das Organ der Grenze: Hier hört der Organismus des Individuums auf, und hier beginnt die angrenzende An- und Umwelt. So ist die Haut, da sie eine Grenzfunktion erfüllt, das Innenwelt und Außenwelt verbindende Organ. Hier geht eines in das andere über, tauscht sich eines mit dem anderen aus, wirkt eines auf das andere ein« (Hugo Kückelhaus).

Jede Berührung ist eine hautnahe Begegnung. Sie ermöglicht Kontaktaufnahme und die Überwindung von Abstand. Sie bewirkt Austausch und gegenseitige Einwirkung von zwei fremden Welten. Wie viel Durchlässigkeit an den Grenzflächen von Berührungen möglich ist, erlaubt und zugelassen oder abgewehrt wird, dies kann je nach Kontext, Situation und Person sehr unterschiedlich sein.

Die Vorsilbe »be-« ist verbunden mit »beide«. Ein Kontakt bezieht sich als »kon«- (»mit«) und »tangere« (»berühren, verbinden«) auf ein entstandenes Miteinander von zwei zuvor getrennten Einheiten. Durch tastendes Berühren (»haptisch«), erkunden, umfassen, erspüren, begreifen wir Oberflächen, Formen, Festigkeiten, Temperatur oder Gewicht eines zuvor fremden Gegenübers.

Die gezielte Arbeit mit Körperkontakt ist in der Medizin, Physiotherapie, Massage oder Psychotherapie hilfreich, kann manchmal aber auch schädlich sein. Berührungen können behutsam sein und quasi zuhörend, aber auch zupacken und gezielt eingreifen. Sie können emotional bewegen, Erregungen dämpfen, Anspannungen lösen oder heilsame Geborgenheit vermitteln.

Therapeutische Berührungen fördern bisweilen in Verbindung mit ermutigender, sprachlicher Unterstützung körperliches Gewahr werden. Bei neurotisch gestörten oder traumatisierten Menschen helfen sie, unbewusste, ursprünglich nur als Alarmzeichen gedeutete Körperempfindungen gelassener und distanzierter zu bewerten, wieder abklingen zu lassen und zu integrieren.

Oft bewirken therapeutische Berührungen zu Beginn Abwehr oder Furcht. Charlotte Selver hat vorgeschlagen, dass am Beginn von pädagogischen oder therapeutischen Berührungen stehen sollte: »Sind Sie damit einverstanden, wenn ich Sie jetzt berühre?« Der Dichter Novalis schrieb: »Man berührt den Himmel, wenn man einen Menschen berührt.« Auch wenn dies eine romantische Formulierung ist, so trifft sie doch den Kern des Respekts für das Gegenüber. Ähnlich betonte der Philosoph Martin Buber die Berücksichtigung der Gleichzeitigkeit einer zwischenmenschlichen »Ich-Du«-Beziehung mit einer professionellen, sachlichen »Ich-Es«-Behandlung.

Wenn man einen fremden Menschen berührt, dann wird man gleichzeitig auch von diesem berührt. Geschulte Hände, »manipulieren« nicht nur die körperlichen Strukturen, sondern sie vermitteln auch Stimmungen und Gefühle. Meisterinnen der therapeutischen Berührung erkunden ihre Klienten mit »wachen und leeren Händen«. Sie lassen sich vom »jeweils Besonderen« ihres Gegenübers berühren.

Eigene Erfahrungen mit Berührungs- und Bewegungsqualitäten sind notwendige Voraussetzungen für eine gute therapeutische Behandlung von Anderen. Über viele Jahre habe ich mich praktischen Übungen von unterschiedlichen Methoden wie der Feldenkrais-Arbeit, Eutonie, Body-Mind Centering, Sensory Awareness, Esalen-Massage, Konzentrativer Bewegungstherapie, Rolfing, Alexandertechnik, Physiotherapien, Osteopathie, Manuelle Medizin, Chiropraxis und anderen Körpertechniken unterzogen, um »am eigenen Leib« deren Wirkungen zu erproben. Berührungsexperimente fördern die Erkundung des Körpers im Raum, in Bodenlage, im Sitzen, Stehen und Gehen, in langsamen und schnellen, in geplanten, freien oder manchmal auch in vorgestellten Bewegungen. Die Kontaktaufnahme mit Händen und Füßen, mit Bällen, Stäben, Steinen, Stoffen oder pflanzlichen Materialien hilft, ein »Gespür für Unterschiede« von Oberflächen, Formen, Größen, Gewicht, Festigkeit oder Temperatur zu verfeinern.

In der Zusammenarbeit mit Manfred Clynes, dem Begründer der Sentics-Methode, konnte ich Berührungsqualitäten als Ausdruck von Gefühlen kennenlernen. Als Psychologe und Konzertpianist hatte er in seinem Buch: Sentics the touch of emotions, die Ausdrucksqualitäten von Gefühlen (distanziertes Gefühl, Ärger, Hass, Trauer, Liebe, Sexualität, Freude und Ehrfurcht) herausgearbeitet. Jahre später hat der Neurobiologe David Kadner untersucht, ob und wie Menschen die Kommunikation von Gefühlen durch Berührung nachvollziehen können. In seinen Forschungen wurden Versuchspersonen von Menschen berührt, welche sie aber nicht sehen konnten. Diese erinnerten sich selbst während der Berührungen an spezifische Gefühle. Die berührten Versuchspersonen konnten die »inneren« Gefühle der anderen allein durch ihre jeweilige Berührungsqualität, ohne sprachliche Informationen, weitgehend richtig erkennen. Solche Untersuchungen geben Hinweise, dass Berührungen eine eigene Sprache und Grammatik besitzen.

Wie fühlen sich Berührungen an? Was lösen sie aus? Wie können sie variiert werden? Welches Tempo, welcher Druck oder wie viel Pausen sind angemessen? Welche Assoziationen und Erinnerungen setzen sie frei?

Manche Berührungstechniken bleiben behutsam an der Oberfläche und lösen mit ruhigen, langen Massagestrichen Spannungen. Andere verharren länger bei einzelnen Körperbereichen, ohne aktive Bewegungen, sondern sie »lauschen« auf Antworten des Körpers ihres Gegenübers auf ihre Berührungen. Manche Berührungstechniken richten sich an spezifische Gewebestrukturen und Organsysteme in der Tiefe des Organismus, an Muskeln, Sehnen, Bindegewebe, Faszien oder Knochenstrukturen.


Ein Podologe bei der Arbeit. Aquarell von Zhou Pei Qun, ca. 1890.

Bonnie Bainbridge-Cohen betonte, wie wichtig es sein kann, wenn man in der Behandlung eines »Problembereichs« (etwa Schmerzen oder Bewegungseinschränkungen) sich diesem »aus dem korrespondierenden Bereich seines eigenen Körpers« annähert. Moshe Feldenkrais führte seine Behandlungsvorschläge in der »Funktionalen Integration« meist »indirekt«, also nicht »am Ort« der »erlebten Probleme« aus. Heinrich Jacobi betonte die bewusste Notwendigkeit des »Erlaubens« und »Gestattens« von Veränderungen, bevor diese längerfristig wirken könnten.

Gerda Alexander arbeitete Unterschiede heraus, zwischen Berührung als »selbstverständlicher, fortlaufender Information über meinen Körper und seine Grenzen« sowie »Kontakt« als bewusst erlebter Verbindung, Fühlungnahme und Begegnung mit der jeweiligen Situation. Man kann beispielsweise im Stehen den Boden mit den Füßen berühren. Aber man kann dabei gleichzeitig bewusster erleben, dass und wie dieser Boden mich jetzt »trägt«, mir Halt gibt und die Möglichkeit, diesen Halt als Widerstand für den nächsten Schritt zu nutzen.

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