Wirtschaftsgeographie

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2.1.2Die methodologische Revolution: Geographie als Raumwissenschaft

Der Deutsche Geographentag in Kiel versammelte 1969 eine größere Gruppe von Studenten, Assistenten und einigen Hochschullehrern, die eine umfassende Kritik des länderkundlichen Programms vornahmen (Meckelein und Borcherdt 1970, S. 191–232): Es wurde als wissenschaftstheoretisch unfundiert, beschreibend statt erklärend, holistisch und naturalisierend charakterisiert. Ziel sei nicht die Erklärung von Zusammenhängen, sondern die unkritische, ganzheitliche Beschreibung natürlicher Totalregionen (Bartels 1968 a, 1988; Sedlacek 1978). Kurz zuvor hatte Bartels (1968 b) die Grundlage einer neuen wissenschaftlichen Geographie formuliert, in der er die analytische Erklärung der reinen Beschreibung entgegensetzt, das naturalisierende Konzept des Raums als Landschaft durch das Konzept des Raums als geometrisches Gebilde ersetzt und es als Ziel erklärt, Geographie als chorologische Wissenschaft, als Wissenschaft des Raums zu begründen (Bartels 1970 a; Bahrenberg 1972). Regionen wurden von nun an nicht mehr als natürlich vorgegeben, sondern als analytisch bestimmbar zur Bearbeitung spezifischer Problemstellungen angesehen. Nicht mehr Landschaften und Länder wurden beschrieben, sondern es wurden räumliche Verteilungen und Verflechtungen von Phänomenen erfasst und auf der Grundlage von Raumgesetzen zu erklären versucht (Bartels 1968 a; 1970 c; 1988).

Das hierarchische Gefüge geographischer Teildisziplinen unter einer allgemeinen Länder- und Landschaftskunde wurde zugunsten eines Konzepts vernetzter Problembereiche aufgegeben, die wechselseitig Methoden und Theorien aufeinander und voneinander beziehen (Haggett 1991, Kap. 24). Die in diesem Ansatz durchgeführte Verknüpfung ausgewählter Forschungsfelder ist durch den gezielten Austausch mit benachbarten Forschungsfeldern zur Bestimmung und Erklärung spezifischer Probleme gekennzeichnet und somit stets abhängig von der Problemstellung in der Forschung. Denn im Unterschied zur hierarchischen und synthetischen Sicht der Geographie in der Länder- und Landschaftskunde folgt die Beziehung zwischen den Arbeitsbereichen in diesem auf gesetzesartiger Erklärung beruhenden, deduktiv-nomologischen Konzept keiner äußeren, unveränderlichen Logik (→ Box 2-1). Das jeweilige, vom Forscher definierte Problem bildet die Grundlage für die spezifische Verknüpfung der Arbeitsfelder, aus denen Theorien und Methoden entliehen werden.

Box 2-1: Wissensnetz der Geographie an deutschen Hochschulen

Die große Vielfalt möglicher Verknüpfungen von Forschungsfeldern führt zu der Frage, wie sich die Vernetzung der Arbeitsgebiete in der Geographie als wissenschaftlicher Disziplin tatsächlich darstellt. Ziel einer empirischen Studie über die deutsche Geographie war es deshalb zu untersuchen, in welchen Arbeitsgebieten Wissenschaftler an deutschen Hochschulen ihre Forschungsschwerpunkte haben (Glückler und Goeke 2009). In dem Mitgliederverzeichnis des Verbands der Geographen an deutschen Hochschulen (VGDH) nannten im Jahr 2006 über 750 Wissenschaftler (→ Abb. 2.3, Kreise) ihre persönlichen Schwerpunkte aus insgesamt 52 Teilgebieten (Quadrate) der Geographie. Aus diesen Selbstbeschreibungen wurde ein Netzwerk der Geographie gewonnen, das für jede mögliche Kombination zweier Arbeitsgebiete angibt, wie viele Wissenschaftler in diesem Überschneidungsbereich forschen. Eine weitere Abbildung zeigt das beobachtete Netzwerk der Verbindungen zwischen den 52 thematischen Arbeitsbereichen der wissenschaftlichen Geographie (→ Abb. 2.4). Das Netzwerk illustriert einerseits, wie vielfältig die inhaltlichen Bezüge zwischen den vielen Arbeitsbereichen sind. Gleichzeitig deutet es aber auch die Aufteilung der Geographie in sozial- und naturwissenschaftliche Forschungsrichtungen an. Darüber hinaus treten Arbeitsbereiche, wie z. B. die Stadtgeographie, Wirtschaftsgeographie oder Geographische Informationssysteme, als zentrale Schwerpunkte mit überproportional vielen Verbindungen zu anderen Arbeitsgebieten hervor, während andere Schwerpunkte, wie z. B. die Hochgebirgsforschung oder die Bildungsgeographie, eher als spezialisierte Arbeitsgebiete mit weniger Verbindungen auffallen. Mit Hilfe der Netzwerkperspektive gelingt es, eine empirische Repräsentation sowohl der Struktur der Geographie als wissenschaftliche Disziplin als auch ihrer Verknüpfungen zu entwickeln, die nicht auf fachpolitischen Forderungen zur Gestalt der Geographie, sondern auf den Selbstbeschreibungen von Geographen beruht. Wenngleich das vorgestellte Modell im Ansatz an die britische Schule der 1970er-Jahre erinnert (Haggett 1991, S. 750), bleibt es im Unterschied zu normativen Modellen eine situative empirische Repräsentation.


Abb. 2.3 748 Wissenschaftler arbeiten in 52 Arbeitsbereichen der Geographie (nach Glückler und Goeke 2009, S. 268)


Abb. 2.4 Netzwerk der thematischen Arbeitsgebiete in der wissenschaftlichen Geographie 2006 (nach Glückler und Goeke 2009, S. 269)

Die Wirtschaftsgeographie verfolgt im raumwissenschaftlichen Paradigma das Ziel, Raumgesetze für ökonomische Strukturen und Prozesse zu formulieren, d. h. Erklärungen von Standortstrukturen, Handelsbewegungen und räumlichen Konzentrationen von Unternehmen auf der Grundlage räumlicher Parameter zu entwickeln. Das Ergebnis dieser paradigmatischen Zielsetzung in der Wirtschaftsgeographie wird im Folgenden als Raumwirtschaftslehre bezeichnet (Schätzl 1981, Kap. 1; 1998, Kap. 1). Insgesamt stellt die raumwissenschaftliche Geographie eine methodologische Revolution dar, in der differenzierte analytische Verfahren, etwa der Regionalisierung (→ Kap. 4.1.4) und deduktiven Erklärung von Zusammenhängen, entwickelt werden (Werlen 1997, Kap. 2).

2.1.3Die (sozial-)theoretische Revolution: Geographie als Akteurswissenschaft

In den 1980er-Jahren etablierte sich ein stärker sozialtheoretisch orientiertes Bewusstsein, das zuvor zwar in Ansätzen vorhanden (z. B. Hartke 1956), nicht aber dominant war und welches das raumwissenschaftliche Programm einer umfassenden Kritik unterzog. In der wissenschaftstheoretischen Revolution der Raumwissenschaft erkannten viele Kritiker vor allem eine methodisch-instrumentelle Revolution der Verfahren, nicht aber der zentralen Konzepte von Raum und dem Verhältnis von Raum und Gegenstand. Wenngleich Raum nicht mehr als natürliche Landschaft angesehen wurde, so doch als Erklärungsfaktor für soziale und wirtschaftliche Phänomene. Räumliche Distanz operiert in diesem Ansatz als Ordnungskraft menschlicher Entscheidungen und determiniert im Rahmen universeller Raumgesetze das Handeln. Diesem Verständnis folgend kann jedes soziale und materielle Phänomen zum Gegenstand raumwissenschaftlicher Forschungen werden, wenn die Distanz als Erklärungsgröße für Verteilungen und Austauschbeziehungen herangezogen wird.

Empirisch und theoretisch lassen sich ökonomische Prozesse und Strukturen hingegen nicht als entfernungsdeterminiert nachweisen. Soziale Tatbestände werden dadurch auf den Raum reduziert und gleichsam theoriefrei behandelt. Stattdessen sind Distanzen das Ergebnis von inhaltlichen Zusammenhängen jeweiliger ökonomischer und sozialer Problembereiche, nicht aber deren Ursache. Aus dieser Inversion der Kausalrichtung lässt sich die Kritik an der Raumwissenschaft zusammenfassen (Glückler 2002): Physisch-geometrische Distanzen sind Randbedingungen und Ergebnisse von sozialen und ökonomischen Prozessen, nicht aber deren Aus­gangs­punkte. Über die soziale oder ökonomische Bedeutung des Physischen lässt sich allein aus dem Physischen heraus nichts aussagen (Hard 1973, II. Teil; Werlen 1987; Hard 1993; 1995 c; 1997, Kap. 2; 2000, Kap. 9). Die Ursachen räumlicher Verteilungen liegen in den Theorien der Gegenstandsbereiche, sodass über geographische Phänomene geographie-extern nach Lösungen zu suchen ist (Bahrenberg 1987). Während Regionalisierungs-, Begrenzungs- und Definitionsverfahren methodologisch modernisiert worden sind, bleibt das Paradigma einem vormodernen Verständnis von Raum sowie Raum-Gesellschafts-Beziehungen verhaftet. Werlen (1997, S. 61) beurteilt das raumwissenschaftliche Programm daher als Revolution einer halbierten Modernisierung.

Das Programm der sozialtheoretisch revidierten Geographie eröffnet demgegenüber eine neue Perspektive. Durch die Umkehr der Verursachungsrichtung bestimmen nunmehr das Soziale und Ökonomische die räumliche Struktur und nicht umgekehrt. Dadurch rücken Individuen oder Organisationen als Akteure in den Mittelpunkt und ihr Handeln wird als Ursache für Strukturen anerkannt (Werlen 1988; Sedlacek und Werlen 1998). Diese Einsicht öffnet den Rahmen für eine Neupositionierung der sozialwissenschaftlichen Geographie hin zum Handeln des Menschen (Weichhart 1986; Werlen 1987; 1995 a).

Neben der Kritik des Raumverständnisses vollzieht sich ferner eine Kritik der wissenschaftstheoretischen Auffassung. Da das Handeln menschlicher Akteure nicht gesetzesartig beschrieben werden kann, wird auch das Ziel deterministischer Theoriebildung aufgegeben. Stattdessen gilt das Prinzip der Kontingenz, durch das der Abhängigkeit von Kontexten stärkeres Gewicht beigemessen wird (Glückler 1999, Kap. 6; Sayer 2000, Kap. 1). In der Wirtschaftsgeographie äußert sich dieser Wandel von Theorie und Methodologie in einer Fokussierung der Analyse auf Unternehmen und deren Entscheidungsträger und nicht auf Regionen und Raumeinheiten als Akteure. Unternehmensziele und Beziehungen zwischen Unternehmen rücken dabei in den Mittelpunkt der Betrachtung und die Forschung bedient sich ökonomischer und sozialer Theorien, um den Gegenstandsbereich des ökonomischen Handelns und ökonomischer Beziehungen aus räumlicher Perspektive zu untersuchen.

 

2.1.4Die Evolution der Paradigmen im Zeichen der Moderne

Der im Folgenden dargestellte Modernisierungsdiskurs ermöglicht es, unterschiedliche Sicht­weisen des Zusammenhangs von Raum und Gesellschaft historisch nachzuvollziehen. In An­lehnung an den britischen Sozialtheoretiker Giddens (1997) lässt sich zwischen einer traditionellen bzw. vormodernen und einer modernen Epoche der gesellschaftlichen Entwicklung unterscheiden (Werlen 2000, Kap. 3). Dabei sind drei wechselseitig voneinander abhängige Prozesse ausschlaggebend für die Veränderung des Verhältnisses von Raum, Zeit und Gesellschaft:

(1) Trennung von Raum und Zeit. Durch die Moderne hat eine Trennung von Raum und Zeit stattgefunden. Im Unterschied zur traditionellen Gesellschaft ist es in der modernen Gesellschaft nicht mehr notwendig, Güter zum Zeitpunkt ihrer Entstehung und am Ort ihrer Erzeugung zu konsumieren. Man kann sie tauschen, über längere Zeiträume aufbewahren oder an andere Orte transferieren. Personen sind damit zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse nicht auf diejenigen Güter angewiesen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt an den Orten hergestellt werden, an denen sie sich gerade aufhalten, sondern sie können Produkte von anderen Orten und Produkte, die zu früheren Zeitpunkten hergestellt worden sind, konsumieren. Wichtige Bedingung hierfür sind neu entwickelte Technologien, wie z. B. der Kühlschrank zur Frischhaltung von Agrar­produkten oder der Bau neuer Straßen- und Schienensysteme zum Transport von Gütern.

(2) Entbettung der sozialen Systeme. Zugleich hat die Moderne zu einer Entbettung der sozialen Systeme geführt. Darunter versteht Giddens (1997, Kap. 1) das Herauslösen sozialer Aktivitäten aus ihren lokalen Kontexten. In der modernen Gesellschaft ist es normal, Produkte zu konsumieren, die in anderen Teilen der Welt unter nicht nachvollziehbaren Bedingungen produziert werden. Infolge dieses Herauslösens aus dem unmittelbaren Aktivitätsraum üben Akteure, ohne es zu wissen, durch die in Konsumhandlungen zum Ausdruck kommenden Präferenzen Einfluss auf Produktionsweisen und Gesellschaften aus, die sich in entfernten Teilen der Welt befinden (→ Box 2-2). Vertrauen in symbolische Zeichen wie etwa Geld und Uhrzeit sowie in Expertensysteme sind notwendige Voraussetzung für den Prozess der Entbettung sozialer Systeme. Eine zentrale Voraussetzung zum Tausch ist, dass Geld überall als Gegenwert akzeptiert wird. Vertrauen in Expertensysteme bedeutet, dass man sich darauf verlässt, dass Experten existieren, die Technologien wie etwa Autos und Flugzeuge so beherrschen, dass man diese mit begrenztem Risiko für die eigene Gesundheit und ohne spezifische technische Kenntnisse benutzen kann.

Box 2-2: Produktionsbedingungen in entfernten Kontexten

Für die Entbettung sozialer Systeme lassen sich viele Beispiele anführen, speziell im Zusammenhang mit der Verlagerung industrieller Produktion aus westlichen Industrieländern in Entwicklungs- und Schwellenländer. Schon in den 1980er- und 1990er-Jahren sind zahlreiche Fälle bekannt geworden, die gezeigt haben, wie verlagerte Produktionsarbeit in Asien unter teilweise menschenunwürdigen Bedingungen stattfindet. Durch Medienberichte und die Aktivitäten von non-governmental organizations (NGOs) wie etwa Greenpeace, die Konsumenten mobilisieren und zum Nicht-Konsum bewegen konnten, ist es inzwischen gelungen, solche Phänomene der Entbettung teilweise zu begrenzen und zu reduzieren. Viele weltweit bekannte Markenunternehmen wie Benetton, Nike oder C&A verpflichteten sich inzwischen freiwillig, die Produktionsbedingungen an entfernten Standorten durch Mindeststandards sozial- und gesundheitsverträglich zu gestalten und überwachen diese Bedingungen. Dennoch lassen sich noch viele Beispiele finden, die zeigen, wie kostengünstiger Konsum in Westeuropa und Nordamerika durch nicht nachhaltige und gesundheitsschädliche Produktionskontexte erkauft wird. Ein Beispiel hierfür ist die Produktion von Jeanshosen. Ein Bericht von Bartsch (2011) dokumentiert in eindrucksvoller Weise, wie ein erheblicher Teil der Weltproduktion von Bluejeans in Xintang in Südchina unter fragwürdigen sozialen und ökologischen Bedingungen stattfindet. Die blaue Farbe vom Färben der Hosen hat sich nicht nur in den Armen der chinesischen Produktionsarbeiter permanent festgesetzt, die über allergische Hautreaktionen klagen, sie findet sich ebenso in dem nahe gelegenen Fluss, in den die Abwässer fließen, in den Müllbergen, und sogar die Ratten vor Ort erscheinen blau. Die Arbeitstage der Produktionsarbeiter dauern 12 Stunden bei einem Monatseinkommen von gerade einmal 200 Euro. Nach Bartsch (2011) werden in Xintang jährlich in 4000 Unternehmen von 700 000 Menschen 260 Millionen Bluejeans (davon die Hälfte für den Export) hergestellt, wobei auch Kinderarbeit verbreitet zu sein scheint. Ganz sicher wäre eine Produktion unter derartigen Bedingungen nicht in direkter Nachbarschaft zu den Konsumzentren der Industrieländer möglich.

(3) Reflexivität gesellschaftlicher Beziehungen. Mit der Moderne hat sich eine systematische Reflexivität menschlicher Verhaltensweisen durchgesetzt. Die Aneignung von Wissen erfolgt über Reflexivität. Es findet eine ständige Hinterfragung und Überprüfung aller durchgeführten Aktionen statt, um durch Lernprozesse systematisch neues, verbessertes Wissen zu erzielen. Mit der Moderne wird dieses neue Wissen unmittelbar in zukünftige Aktionen umgesetzt im Unterschied zur traditionellen Gesellschaft.

Aus Sicht der Moderne erscheint es daher korrekt, eine Abhängigkeit von Raum und Gesellschaft in der vormodernen Gesellschaft zu behaupten. Handeln erscheint sehr stark von räumlichen Bedingungen bestimmt und ermöglicht die Formulierung von Raumtheorien. Durch die Trennung von Raum und Zeit wird jedoch deutlich, dass eine theoretische Abhängigkeit zwischen Mensch und Raum nicht besteht. Während dies in der Vormoderne noch zu richtigen Beobachtungen führen kann, lassen sich in der Moderne keine zuverlässigen Aussagen mehr aus dem Raum auf das Gesellschaftliche ableiten (z. B. Hard 1993). Der in der Raumwissenschaft angenommene Zusammenhang zwischen sozioökonomischen Strukturen und räumlichen Eigenschaften beschreibt damit nur eine scheinbare sachliche Verknüpfung. Der Prozess der Modernisierung verdeutlicht, dass soziale Entbettung aus räumlichen Kontexten nur aus dem Sozialen, nicht aber aus dem Räumlichen erklärt werden kann (Werlen 1997, Kap. 2; 1998). Somit kann der historische Übergang von der traditionellen zur modernen Gesellschaft als Verständnisgrundlage für die Frage dienen, warum die Raumwissenschaft einer wachsenden Kritik ausgesetzt war und von einer sozialtheoretisch revidierten Geographie abgelöst worden ist.

Während der Prozess des Wechsels von Paradigmen und ihrer Evolution einen Wandel von Verständnissen und Realitäten in der Wissenschaft allgemein und in vereinfachter Weise abbildet, vollzieht sich dieser Wandel nicht überall gleichartig und kontextfrei. Die hier dargestellte Paradigmengeschichte der allgemeinen und der Wirtschaftsgeographie ist demnach keineswegs ein globaler Prozess, sondern kennzeichnet speziell die deutsche Wissenschaftslandschaft. In anderen nationalen Kontexten in Europa, Nordamerika und Asien, in denen ebenfalls Paradigmenwechsel stattfanden, vollzog sich der Wandel aufgrund verschiedener ökonomischer, gesellschaftlicher und politischer Bedingungen sowie verschiedener wissenschaftlicher Einflüsse und Persönlichkeiten durchaus unterschiedlich und führte zu unterschiedlichen Erfahrungen. Anders als beispielsweise im nordamerikanischen Raum gab es z.B. in Deutschland keine breite marxistische Strömung in der Geographie (Scott 2000; Barnes 2001; 2014). Ein relationales Verständnis eröffnet deshalb die Möglichkeit, spezifische Prozesse im Rahmen grundlegender gesellschaftlicher Änderungen zu untersuchen und im Kontext darzustellen (Bathelt und Glückler 2017).

2.2Wirtschaftsgeographie im Paradigmenwechsel

Ähnlich wie für die gesamte Disziplin der Geographie kann eine paradigmatische Perspektive auch auf die Wirtschaftsgeographie eröffnet werden, um grundlegende programmatische Denkmuster oder mind maps zu unterscheiden. Dabei lassen sich im deutschen Kontext wiederum die Grundfiguren der Länder- und Landschaftskunde, der Raumwissenschaft und einer akteurszentrierten Geographie in den wirtschaftsgeographischen Ansätzen identifizieren.

2.2.1Wirtschaftsgeographie in der Länderkunde

Gemäß dem Ordnungsplan der länder- und landschaftskundlichen Geographie nach Uhlig (1970) nimmt die Wirtschaftsgeographie den Status einer Geofaktorenlehre ein, deren primäre Aufgabe es ist, regional erworbenes Wissen in der synthetischen Gesamtschau komplexer Landschaften und Länder bereitzustellen. Wirtschaftsgeographische Forschung bezieht sich demnach auf die Indexierung von Wirtschaftsaktivitäten in bestimmten, meist als natürlich angenommenen Landschaften oder Ländern und verbleibt empirisch weitgehend deskriptiv. Da die Aufgabe der Wirtschaftsgeographie vorwiegend in der Erfassung der Folgen wirtschaftlicher Tätigkeit für die Raumstruktur gesehen wird (Wagner 1981, S. 183), bleiben die Zusammenhänge und Mechanismen ökonomischer Aktivitäten in diesem Verständnis unterbeleuchtet. Die strenge Arbeitsteilung zwischen Wirtschaftswissenschaften und Wirtschaftsgeographie ist Ausdruck der hierarchischen Integration der Teildisziplin unter dem Primat der länder- und landschaftskundlichen Geographie.

Das vergegenständlichte Konzept des Raums im länderkundlichen Paradigma schlägt sich auch im Forschungsgegenstand der Wirtschaftsgeographie nieder. Zentrales Forschungsobjekt ist – in je unterschiedlichen Stadien des Paradigmas – zuerst die Wirtschaftslandschaft (Lütgens 1921), dann die Wirtschaftsformation (Waibel 1933 a) und schließlich der Wirtschaftsraum (Krauss 1933) mit zahlreichen darauf folgenden Modifikationen (Otremba 1969; Voppel 1970). Die zentrale Gemeinsamkeit dieser Konzepte besteht darin, dass nicht das Handeln ökonomischer Akteure, sondern die lokalisierten Handlungsergebnisse in zusammenhängenden Räumen in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt werden (Wagner 1981, S. 19): „Der Wirtschaftsraum ist [. . .] das zentrale Forschungsobjekt der Wirtschaftsgeographie.“ Es gilt als Leitziel, die räumliche Ordnung der Wirtschaft in Wirtschaftsräumen zu erfassen und abzugrenzen. Dies zeigt sich deutlich im Aufbau älterer Lehrbücher (z. B. Bartling 1926) und findet noch heute Niederschlag in Schulbüchern der Geographie, die allerdings zunehmend problemorientierter aufgebaut sind (z. B. Volkmann 1997; Allkämper et al. 1998).

Wenngleich sich länderkundliche Ansatzpunkte auch in späteren Arbeiten von Wagner (1998) und Voppel (1999) wiederfinden lassen, aber inzwischen von dynamischen und sozialwissenschaftlich beeinflussten Perspektiven überlagert werden, ist eine solche Grundkonzeption mit ihrer idiographisch-deskriptiven Methode und ihrer Vergegenständlichung von Raum als Forschungsgegenstand unvereinbar mit einer relationalen Wirtschaftsgeographie. Dies soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass detailliertes Wissen über regionales Wirtschaftsgeschehen und über lokale ökonomische Rahmenbedingungen ein wertvolles gesellschaftliches Gut ist. Nicht zufällig kommen bei Krisensituationen oder Kriegen immer wieder auch regional spezialisierte Wirtschaftsgeographen in den Medien zu Wort. Ausdruck dessen sind auch die nach wie vor zahlreichen wirtschaftsgeographischen Länderkunden und Reiseführer (z. B. Lutz 1980; Lenz 1988; Hofmeister 1997; Boal und Royle 1999; Hofmeister und Lutz 1999; Lamping 1999; 2000) sowie ökonomisch fokussierte Länderstudien wie etwa von Banken und Auftragsforschungsinstituten. Interessant ist auch, dass die vergleichende Politikwissenschaft dezidiert eine regionale Spezialisierung und Aufgabenteilung anstrebt und breiten regionalen Wissenskontexten von ökonomischen, kulturellen und politischen Prozessen eine hohe Bedeutung einräumt. Entsprechend beschreibt Bahrenberg (1995) die Bedeutung einer nachfrageorientierten und adressatenspezifischen Funktion der Länderkunde als Expertensystem, um territoriales Wissen als gesellschaftliche und politische Dienstleistung in Entscheidungs- und Bildungsprozesse einzubringen. Der Versuch von Wirth (1978) hingegen, ein länderkundliches Forschungsprogramm wissenschaftstheoretisch zu verankern, wird von Bahrenberg (1979) als gescheitert angesehen.

 
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