Marivan unter den Kastanienbäumen

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Ich schrieb an die Tafel: „Eine Reportage muss der Wahrheit entsprechen.“ Mehr Worte hatte ich im Moment nicht übrig. Ich setzte mich auf meinen Stuhl und war sehr, ja sehr erleichtert, als ich die Klingel hörte. Endlich konnte ich dieser Situation entfliehen!

Gleich nach der Schule lief ich zum Kaffeehaus. Unterwegs fand ich keine aufgeklebten Plakate mehr. Ach, das war auch egal! Ich war sowieso nicht mehr stolz und meine Begeisterung war verblasst. Es war für mich eine große Niederlage, ein Feigling zu sein. Im Kaffeehaus erwartete mich die nächste Enttäuschung. Niemand war da, dem ich meine Gedanken hätte mitteilen können. Jewad fehlte mir in diesem Moment. Nur die Alten saßen da und spielten ihre Brettspiele. Ein Tag voller Erwartungen entpuppte sich als ein Tag des Versagens.

Traurig und müde ging ich nach Hause. Ich wurde diesen Gedanke, ein Feigling zu sein, einfach nicht los. Ich fragte mich: Wieso ist man bei einer guten Tat von der Meinung anderer anhängig? Weshalb ist dieses Verlangen des Lobes da? Wie ist der Mensch und was erwartet er von seiner Umwelt? Zählt man nichts, wenn man alles für sich behalten muss? Dann wird es doch niemand bemerken! Ich beschloss, mich in Geduld zu üben und alles für mich zu behalten. Ich hatte keine andere Wahl. Schweigen, so glaubte ich, war eine hohe Kunst, die ein Mensch zu beherrschen in der Lage war.

Abends beobachtete ich meine Eltern. Mein Vater versuchte, den BBC-Sender einzustellen. Dieses Mal war der Sender klar und kein Parasitensender störte die Übertragung.

„Na, das klappt ja heute besser mit deiner Suche nach der richtigen Frequenz!“, bemerkte meine Mutter.

„Stimmt“, bestätigte mein Vater: „Die Welt hat sich verändert. Der Schah und die Savak können nicht mehr alles boykottieren.“

„Ach“, mischte sich meine Mutter ein, „du und dein Radio, ihr wisst weniger als ich. Ich brauche kein Radio, keine Zeitung, keine Batterie, keinen Strom.“

Mein Vater runzelte die Stirn. „Was meinst du?“

„Nichts, nur dass Dade Fathe Weltnachrichten hat. Es gibt Neuigkeiten in der Stadt und der Umgebung. Nicht nur oberflächliche Nachrichten aus dem Radio, sondern reale Nachrichten über das, was in der Region und in unserem Land passiert.“

Mein Vater lachte. „Hast du wieder mit Dade Fathe gequatscht? Was hat sie denn heute wieder für einen Unsinn über den Zaun erzählt?“

Meine Mutter war verärgert darüber, dass ihr Mann mal wieder das Oberhaupt der Familie herauskehrte. Er musste immer recht haben. Ihre Antwort kam laut und ungehalten: „Erzähl du mir, was du gehört hast, dann erzähle ich dir, was ich gehört habe.“

Mein Vater umarmte unsere Mutter, um sie gnädig zu stimmen. „Ach, mein lieber Schatz, nun erzähl schon, was dir Dade Fathe erzählt hat!“

Gespannt saß ich auf dem Teppich, hob mein Buch vor mein Gesicht und tat so, als würde mich die Diskussion meiner Eltern überhaupt nicht interessieren. Bestimmt hatte das, was gleich kommen würde, etwas mit unseren Flugblättern zu tun. Was sollte es sonst für Neuigkeiten in unserer Stadt geben?

Meine Mutter sagte zu meinem Vater, bevor sie vertraulich ihre Hand auf die seine legte: „Ja gut, ich erzähle dir, was ich heute gehört habe: Dade Fathe hat gehört, dass Kak Foad, der junge Ingenieur, der Leiter des Stromwerkes in unserer Stadt war, im Gefängnis in einer lebensbedrohlichen Lage ist. Als Aktivist gegen das Regime ist er seit einigen Jahren im Gefängnis und befindet sich gerade im Hungerstreik. Er kämpft zusammen mit anderen politisch Gefangenen um bessere Haftbedingungen. Aber jetzt ist sein Leben durch den Hungerstreik bedroht.“

Mein Vater lachte. „Aha, und das sollen deine Neuigkeiten sein? Das weiß inzwischen die ganze Stadt! Ich habe doch bereits heute Morgen an der dunklen Wand bei Dade Fathe ein Plakat gelesen.“

„Aber mein lieber Schatz“, wandte meine Mutter ein, „du weißt doch, dass Dade Fathe nicht lesen kann. Sie ist Analphabetin.“

Mein Vater kommentierte den Einwurf mit einer wegwerfenden Handbewegung und sagte: „Bestimmt hat ihr jemand das Plakat vorgelesen. Und dann ist sie durch die Stadt gerannt, um die Neuigkeiten zu verbreiten. Du weißt doch, sie ist wie eine verbale Zeitung. Nichts bleibt ihr verborgen und nichts bleibt bei ihr. Die ist halt so. Wer diese Flugblätter verteilt hat, wusste genau, wie sich die Nachricht über dieses Plappermaul in der Stadt verbreiten würde. Das war bestimmt jemand aus unserer Stadt. Aber wer ist so klug, auf diese Weise den Inhalt des Flugblattes zu verbreiten?“

„Das ist die eine Seite der Medaille“, ergriff meine Mutter wieder das Wort, „aber was soll denn nun die arme Mutter von Foad tun? Wenn eines unserer Kinder in einer ähnlichen Situation wäre, würde ich vor Angst zittern.“

Mein Vater lenkte ein. „Ja, das ist ein schweres Los für eine Mutter. Denk einfach nicht so viel daran. Glaub mir, das Schah-Regime ist bald Vergangenheit.“

Ich ließ das Buch in meinen Schoß sinken und mischte mich behutsam in die Diskussion meiner Eltern ein. „So, Papa, und was hast du gehört?“

Ich sah Erstaunen in seinem Blick. „Junge, du bist noch zu jung für die Weltnachrichten, du brauchst noch nicht die bösen Nachrichten dieser Welt zu hören. Geh lieber in dein Bett, damit du morgen in der Schule etwas lernst. Es hat noch niemandem etwas gebracht, sich politisch zu interessieren und zu engagieren.“

Nun wurde auch meine Mutter ungeduldig. „Sag jetzt endlich, was du in den Nachrichten gehört hast!“ Sie war sehr energisch und mein Vater kannte diesen Ton.

Er antwortete: „Der Schah hat gestern den Premierminister entlassen. Seit Tagen gibt es in Teheran und in anderen Großstädten Demonstrationen und die Menschen rufen laut: „Nieder mit diesem Regime!“ Das Schah-Regime und die Savak haben mit Militär reagiert, aber ohne Erfolg. Die Menschen lassen sich nicht mehr einschüchtern. Scheinbar will der Schah ein neues Ministerium bilden.“ Mein Vater hielt inne, hob seine Hand und deutete uns an, dem Radiobericht zu lauschen. Ein Bericht aus Sanandaj.

Der Nachrichtensprecher von BBC berichtete, dass die seit fast drei Wochen im Gefängnis von Sanandaj im Hungerstreik befindlichen politischen Gefangenen lebensbedrohlich gefährdet seien. Sanandaj lag im westlichen Iran, eine große Stadt, aber auch eine Provinzstadt, in der vielen Kurden lebten, die zu einer Minderheit der Volksgruppen im Iran zählten. Wie in vielen Großstädten des Iran gab es auch hier ein großes Gefängnis, in dem nicht nur Straftäter wie Diebe oder Mörder inhaftiert wurden, sondern auch Regimegegner, wie zum Beispiel Schriftsteller, in Bezug auf die Kurdenfrage politisch engagierte Bürger, Oppositionsparteimitglieder und Aktivisten von Untergrundorganisationen, die für ihre Rechte kämpften. Es wurden Stimmen eingeblendet, die die gerechte Behandlung der zwölf inhaftierten politischen Gefangenen forderten. Der BBC-Moderator war mit einigen Reportern im ganzen Land per Telefon verbunden. Diese berichteten von den sich im Hungerstreik befindlichen Gefangenen. Was wussten sie über die Gefangenen in Sanandaj oder wie sie als Kurden die Stadt Sene nannten? Ein Reporter berichtete: „Wir fanden heraus, dass Freunde und Familienangehörige der in Sene inhaftierten Gefangenen aus Solidarität nach Teheran fuhren und vor dem Gerichtshof friedlich demonstrierten, damit die Gefangenen unter menschenwürdigen Bedingungen im Gefängnis leben können. Sie sind keine Schwerverbrecher, haben lediglich eine andere Meinung und wollen für alle Menschen im Land Gerechtigkeit herbeiführen, auch wenn sie im Sinne des Regimes Kurden sind. Wir wissen, dass während der Demonstration in Sene Schlagstöcke eingesetzt wurden und Schüsse fielen und dass Demonstranten verhaftet worden sind.“ Der Reporter berichtete weiter: „An der Busstrecke von Sene nach Marivan wurden Menschen ohne Grund von der Polizei und der Savak eingefangen, verletzt und inhaftiert. Die Gruppe war in Teheran, um all diese Menschen mit ihrer ganzen Kraft zu verteidigen und um die derzeitigen Missstände zu beseitigen. Sie demonstrierten friedlich und schrieben ihre Forderungen auf.“

Der Moderator schaltete sich ein und fragte alle an der Diskussion beteiligten Reporter: „Wie lauten konkret die Forderungen der Gefangenen und Demonstranten? Aus welchem Grund befinden sich die Gefangenen im Hungerstreik und warum wird überall demonstriert? Wie stellt sich die derzeitige Situation im Gefängnis in Sene dar?“

Ein Reporter antwortete: „Täglich verschlechtert sich die Situation für die Gefangenen und jetzt nach drei Wochen ist sie lebensbedrohlich. Diese Menschen müssen dringend medizinisch betreut werden, sonst sterben sie. Einige von ihnen liegen bereits im Koma.“

„Ja, und es handelt sich um friedliche Forderungen, wenn ich mir ihre Flugblätter ansehe“, sagte der BBC-Moderator zu den Reportern. „Sauberkeit, frische Luft, Radio hören, Zeitungen lesen, keine Schikane durch die Beamten – das muss doch möglich sein! – Mit diesen Worten verabschiedet sich BBC von Ihnen, liebe Zuhörer. Dies war ein Bericht aus Kurdistan im Iran. Wir wünschen Ihnen allen eine gute Nacht. Morgen hören Sie uns um neun Uhr in unseren Morgennachrichten.“

Meine Mutter wollte noch etwas fragen, aber mein Vater winkte ab. „Morgen ist ein neuer Tag. Es ist unfassbar, was mit den Gefangenen geschieht! Lasst uns jetzt schlafen gehen.“

Ich legte mich ins Bett und dachte über diesen ereignisreichen Tag nach. Wenn ich an die Diskussion meiner Eltern dachte, fand ich, dass sie doch eigentlich respektvoll miteinander umgingen, dass sie zusammenhielten. Und trotzdem wollte jeder seine Meinungen vertreten. Manchmal musste man eben seine Ohren auf Durchzug stellen und diplomatisch sein. Wenn jedoch das Gleichgewicht verloren ging, starb etwas. Ich dachte in dieser Nacht, dass unser Staat mit seiner Ungerechtigkeit gegenüber der Bevölkerung weit von Diplomatie und Gleichgewicht entfernt ist.

 

Die erste Demonstration in Marivan

Einige Zeit später war ich mit meinem Schulkameraden auf dem Weg von der Schule nach Hause. Plötzlich sahen wir mehrere Leute, die unter einigen Bäumen standen und amüsiert nach oben zeigten. Wir Jungen waren neugierig. Was macht ihr da?“, fragte ich. „Was passiert hier und warum lacht ihr?“

Ein Mann aus der Gruppe sagte: „Junge, siehst du nicht die Katze auf dem Baum da oben?“

„Ja, jetzt sehe ich sie. Aber was ist daran außergewöhnlich?“

Mein Schulfreund Amin flüsterte mir ins Ohr: „Hussein, warte ab. Bleib geduldig. Wir werden schon erfahren, was die Leute vorhaben. Du weißt doch, dass es für uns alle verboten ist, in Gruppen aufzutreten. Die Katze ist doch noch ein Ablenkungsmanöver, falls ein Savak in der Nähe ist.“

Plötzlich schrien sie alle. Es war erstaunlich, wie laut sie waren. Sie riefen, brüllten aus tiefstem Herzen: „Nieder mit dem Schah!“

Meine Freunde und ich waren begeistert von dem Eifer, obwohl wir zu diesem Zeitpunkt längst nicht alles wussten. Aber uns war bekannt, dass die Savak unschuldige Menschen auf die grausamste Weise folterten.

Immer wieder schrien die Menschen: „Nieder mit dem Schah! Nieder mit dem Schah! Ich hatte anhand des schlimmen Beispiels von Hajeje begriffen, um was es hier ging, nämlich um Gerechtigkeit. Wir Jungen schlossen uns dieser Schreie an und riefen ebenfalls: „Nieder mit dem Schah!“ Die Menschen um uns herum machten ihrem Ärger Luft, schrien und widerholten ihren Ausruf immer wieder. Dabei klatschten und lachten sie voller Siegesmut.

Doch plötzlich kamen Polizeiautos herangefahren und die Menschenmenge verteilte sich in alle Himmelsrichtungen. Die Polizisten stiegen aus und schossen in den Himmel, um die Demonstration zu beenden.

Amin nahm mich an der Hand und wir rannten um unser Leben, bis wir zwei Straßen weiter keine Luft mehr bekamen. Er sagte keuchend zu mir: „Hussein, hast du das gesehen? Das war die erste Demonstration in unserer Stadt Marivan.“ Amin wusste von anderen älteren Jugendlichen, dass Demonstrationen in der augenblicklichen Situation nötig waren.

Endlich hatten auch wir demonstriert. Endlich war es auch in unserer Stadt passiert, dass man für Gerechtigkeit kämpfte.

Amin schien erleichtert und sagte: „Es wurde auch Zeit, dass Marivan mitzieht. Alle Großstädte haben Demonstrationen, da haben wir noch gefehlt. Wie gut, dass man hier nun auch Mut beweist.“

Ich stimmte ihm nickend zu, wusste ich doch aus der Ayendegan Zeitung, dass in allen Großstädten wie in Teheran Isfahan und Kermanschah demonstriert wurde. Dort gingen die Menschen auf die Straße und riefen laut: „Der Schah ist ein Diktator. Er muss gehen! Er soll zu seinem Chef in die USA gehen. Niemand hier will ihn. Er ist ein Kaki-Amerikaner. Er macht, was der Amerikaner befiehlt. Er gibt Amerika unser Öl und andere Bodenschätze, und statt Geld für unser Land zu kassieren, nimmt er Waffen von dem Amis.“

Ich hatte schon in der Schule gelernt, dass unser Land ein reiches Land war, wenn man das Öl und die vielen Bodenschätze zugrunde legte. Dennoch hatten wir viele arme Familien, die Hunger litten. In den Dörfern gab es keinen Strom und man hätte eine lange Liste dieser Ungerechtigkeiten führen können. Wir hatten keine Freiheit und die Gefängnisse waren bis unter das Dach voll mit Schriftstellern, Studenten, mit Menschen wie Kak Foad und anderen, die in Hungerstreik getreten waren, mit Menschen wie der gefolterte Einzelhändler Hajeje, der sich in persischer Sprache allein vor der Savak nicht hatte artikulieren können.

Folter und Hinrichtungen waren kein Mittel, dem Volk den Mund zu verbieten! So waren meine Gedanken nach diesem Erlebnis. Ich war stolz, an der ersten Demo in Marivan teilgenommen zu haben und lief ganz schnell nach Hause zu meinen Eltern. Unterwegs überlegte ich: Aha, Amin ist auch dabei. Bislang hatte ich gedacht, es gäbe in unserer Stadt nur eine Untergrundorganisation.

Ich versuchte, mit den anderen Kontakt aufzunehmen. Die waren jedoch nicht im Kaffeehaus zu sehen und trafen sich bestimmt woanders. Aber wo? Jewad, mein bester Freund, war dauernd unterwegs. Ihn konnte ich also nicht zu den aktuellen Ereignissen befragen. Mir wurde klar, warum unser Lehrer, Herr Kursch, öfter mit Amin sprach und auch mit Miriam, dem Mädchen mit den schönen langen Haaren, die immer neben Amin saß. Sie musste Amins Freundin sein und ich war insgeheim neidisch, weil sie so hübsch war und immer ein Lachen auf den Lippen hatte. Ich zwang mich, diesen Gedanken abzuschütteln. Vielleicht arbeiten sie ja nur zusammen und Herr Kursch war ihr Chef, ebenso wie bei uns im Kaffeehaus Kak Kawe der Chef war. Vielleicht gab es noch mehr von diesen Untergrundorganisationen in die Stadt. Ich konnte mir vorstellen, warum sie auf die Flugblätter reagierten. Die wussten bestimmt, welche Organisation dahintersteckte, weil sie es selbst nicht waren. Aber warum war Amin nicht genauso wie Jewad mit seinen Leuten zu Demonstration in Sene? Ob diese beiden Untergrundorganisationen Meinungsverschiedenheiten hatten? Kak Foad dachte offenbar anders als die Gruppe, in der Amin tätig war. Ich fand es jammerschade, dass die hübsche Miriam nicht bei uns mitmachte.

Mit all diesen neuen und ungeordneten Gedanken stand ich endlich vor unserer Haustür. Es roch nach einer guten Suppe und Groschen. Der Samowar machte Geräusche, die annehmen ließen, dass das Teewasser bereit war. Sein Deckel hob und senkte sich über dem Wasserdampf und ich verglich es insgeheim mit meiner Großmutter, wenn sie schlechte Nachrichten hörte und mit beiden Händen auf ihren Kopf schlug.

Nachdem wir gegessen hatten, fiel ich total erschöpft ins Bett und träumte von einer besseren Welt in unserem Land, und zwar für alle Menschen. Als ich morgens aufwachte, wusste ich, dass es nur ein Traum gewesen war. Dann erwischte ich mich dabei, dass ich wieder ins Reich der Träume glitt und an das hübsche Mädchen zwei Reihen vor mir in meiner Schulklasse dachte. Ich träumte davon, wie sich unsere Blicke in der Pause begegneten, doch die Frage, ob sie mein Lächeln erwiderte, blieb offen, denn in dem Moment weckte mich meine Mutter. Wie jeden Morgen schaute sie ins Zimmer und rief laut und bestimmend: „Kinder, es ist Zeit aufzustehen, das Frühstück ist fertig. Beeilt euch mit Waschen und zieht euch an!“

Ich zog meine schönste Jacke an und schaute in den Spiegel. Ja, ich sah gut darin aus und dachte, ich würde Miriam sicher gefallen. Ein guter Grund, mich gleich auf den Weg zur Schule zu machen, wollte ich doch meine platonische Liebe testen.

Beim Frühstück war ich sehr höflich zu meinen Eltern, damit sie mir nicht ansahen, in welch erwartungsvoller Stimmung ich war. Ich war gespannt darauf, was ich mit meinen Schulkameraden nach dem gestrigen ereignisreichen Tag unter den Bäumen Marivans besprechen würde. Ich dachte, dass es gut sei, dass die Menschen in unserer Stadt nun auch endlich für die Gerechtigkeit demonstrierten.

Ich nahm meine Schulsachen und meine Mutter winkte mir wie jeden Morgen zum Abschied. Und obwohl ich beschwingten Schrittes losmarschierte, kam ich wie fast immer beinahe zu spät. Als ich mich auf dem Schulhof umsah, erkannte ich, dass alles anders war als sonst. Nicht nur die Schüler tummelten sich auf dem Schulhof, nein auch die Lehrerinnen und Lehrer waren da und diskutierten voller Begeisterung untereinander und mit den Schülern über die aktuellen Ereignisse.

Niemand hatte Lust auf regulären Unterricht, viele hatten Zeitungen mitgebracht. In all dem Durcheinander hielt ich nach Amin Ausschau, fand ihn aber nicht im Hof. Ich ging ins Schulgebäude und traf ihn in unserem Klassenzimmer an. Herr Kursch war auch schon dort. Ich hörte die beiden heftig diskutieren. Leider verstand ich nicht, was sie sagten. Und doch fühlte ich mich in meinem Verdacht bestätigt, dass diese Gruppe hier anders war als die, in der ich mitmachte. Amin sah mich und lachte. „Was lachst du, Amin?“, wollte ich wissen.

Er suchte Miriams Blick und beide lächelten sich an.

Als er nicht antwortete, fuhr ich fort: „Amin, ich wollte einfach nur mit dir reden. Was denkst du über die gestrige Demonstration?“

Anstatt mich anzuschauen, fiel sein Blick zuerst wieder zu Miriam, doch dann antwortete er mir: „Ach, das war doch keine richtige Demonstration! Es war eher wie im Kindergarten.“

„Gestern hattest du noch eine andere Meinung“, empörte ich mich. „Du warst froh, dass nun auch endlich etwas in unserer Stadt geschieht.“

„Ach“, wiederholte er: „Das war doch gar nichts. Schau dir die Zeitungen an, die von anderen Städten berichten. In Kermanschah gab es fünf Tote. In Teheran acht und in Isfahan zwölf. Überall gab es Tote.“

Mit bitterem Lächeln sagte ich: „Nur hier in Marivan nicht. Willst du das damit sagen? Bist du etwa der Meinung, dass es erst Tote geben muss?“

Nun mischte sich Miriam in die Diskussion ein: „Nein, Hussein, Amin meint das nicht so. Er ist der Ansicht, dass friedliche Demonstrationen nichts nutzen. Man muss schon Molotowcocktails und kleine Bomben werfen, die Polizei und die Savak angreifen und sie vernichten, wie es in anderen Städten auch passiert.“

Herr Kursch schien unsere Diskussion zu verfolgen. Sein Lächeln verriet mir, dass er auch der Meinung war, dass man nur mit Gewalt etwas verändern könne.

„Bist du nun zufrieden?“, fragte Amin. „Weißt du jetzt endlich, wie man das macht?“

Ich gab ihm keine Antwort, offenbarte ihm aber mit meiner Mimik mein Unverständnis für die eben vorgetragenen Argumente. Ich schaute ihm und Miriam tief in die Augen und dachte: Miriam, du hübsches Mädchen willst mit Bomben gegen die Polizei kämpfen? Was, wenn dein schöner Körper von Bomben zerrissen wird? So viel Dummheit machte mich sprachlos. Ich ließ die beiden einfach stehen und lief zurück auf den Schulhof. Unterricht würde heute wohl nicht erteilt werden, denn die Diskussionen nahmen kein Ende.

Plötzlich bemerkte ich einen Lehrer, der sein Äußeres total verändert hatte und jetzt einen kleinen Bart trug. Er sprach über die islamistische Partei und hatte eine Zeitung in der Hand. Als ich verstohlen darauf schaute, las ich „Koranschule“. Was war mit dem passiert? Bisher kannten wir ihn nur glatt rasiert und jetzt sah er aus wie ein Imam und sprach auch so.

Ich schaute mich um, und weil es heute offensichtlich keinen Unterricht gab, verließ ich den Schulhof und ging in Richtung Kaffeehaus. Unterwegs hörte ich die Zeitungsverkäufer rufen: „Zeitungen! Zeitungen! Lesen Sie die neuesten Nachrichten! Mehr als hundert Tote bei den Demonstrationen!“

Im Kaffeehaus bemerkte ich, dass viele Menschen Tee tranken und nicht, wie gewohnt, über ihre Brettspiele gebeugt waren. Jetzt diskutieren hier sogar die alten Menschen. Auch hier waren die Demonstration in Marivan und die vielen Toten in den anderen Städten Tagesthema. Nie zuvor hatte ich das Kaffeehaus so voll erlebt. Der Kaffeehausbesitzer war sehr beschäftigt und ich konnte ihn nicht nach Jewad fragen. Also nahm ich einfach Platz und lauschte den Gesprächen. Ein Mann sprach über den neuen Premierminister, ein anderer sagte: „Glaubt mir, der geht auch weg wie Hwaida, die Zeit ist vorbei.“ Eine weitere Stimme verkündete: „Die schiitischen Islamisten sind nicht wie unsere Imame. Die machen weiter, bis der Schah weg ist. Die lassen sich nichts gefallen.“

In dem Moment sah ich Jewad ins Kaffeehaus kommen. Ich stand auf, ging ihm entgegen und nahm ihn in den Arm. „Hallo mein lieber Freund“, begrüßte ich ihn. „Wo warst du ganze Zeit? Was glaubst du, wie ich dich in letzter Zeit vermisst habe! Ich bin so froh, dich wiederzusehen.“

Er lachte. „Ich bin auch sehr froh, dich zu sehen. Ich bin vor eine Stunde wiedergekommen. Ich war dann kurz zuhause und jetzt bin ich, wie du siehst, hier. Setz dich wieder hin, ich hole uns einen Tee. Die sind hier heute sicher zu beschäftigt, um all die Menschen am Tisch zu bedienen.“

„Lass mal, Jewad, ich gehe selbst und bringe dir einen Tee mit. Möchtest du auch etwas essen?“

„Nein.“ Jewad schüttelte den Kopf. „Ein kleiner Tee reicht.“

Ich trat an die Theke, auf der ein riesiger Samowar stand, und bestellte: „Ich hätte gern zwei kleine Tassen Tee. Ich weiß, Sie sind heute sehr beschäftigt. Ich nehme den Tee selbst mit an die Tisch.“

Der Wirt nickte und bedankte sich für meine Aufmerksamkeit.

Auf dem Weg zum Tisch fragte ich mich, welche Neuigkeiten Jewad mitbrachte. Nachdem er einen Schluck von seinen Tee getrunken hatte, hielt ich es nicht mehr aus. „Und, Jewad, was gibt für Neuigkeiten? Wo warst du und wie ist die Sache mit dem Hungerstreik ausgegangen?“

 

Er schaute mich über den Rand seiner Teetasse an und sagte: „Ja, Hussein, wie du bestimmt selbst weißt, ist das ganze Land ist schon auf die Beinen. Alle sind auf den Straßen und rufen: ‚Nieder mit Schah und seinem Regime!‘ Jeder Tag bringt weitere Tote. Der Schah und die Militärs reagieren auf die harte Tour und versuchen, die Demonstranten zu stoppen. Täglich stehen neue Versprechungen von mehr Freiheit in den Zeitungen. Ein Teil der Bevölkerung, unter anderem Studenten, hat keine Angst mehr. Seit Jahren sehen sie das Unrecht und jetzt wollen sie nichts mehr davon wissen. Durch ihre Demonstration haben sie bereits eine Menge von dem erreicht, was vor Jahren nur ein Traum war. Und klar ist: Wenn sie nicht mehr demonstrieren und nach Hause gehen, wird das Schah-Regime alle Versprechungen zurücknehmen. Was die Menschen bis jetzt erreicht haben, gilt dann nicht mehr.“

„Was meinst du damit?“, fragte ich Jewad.

Er trank noch einen Schluck von seinem Tee und antwortete: „Das, was du heute zum Beispiel hier siehst, wäre vor ein paar Monaten nicht möglich gewesen. Wir waren mit unseren Freunden im Kaffeehaus, und du selbst weißt, dass du uns noch Fragen stellen wolltest. Aber wir konnten nicht antworten, weil Savakbeamten da waren. Heute sind sie nicht da. Die haben jetzt Angst vor uns! Sieh dir genau an, was die Zeitungen schreiben. Vor ein paar Monaten war das nicht denkbar. Alles, was du siehst, haben die Demonstrationen bewirkt.“

Meine Gedanken gingen zu Herrn Kursch und seiner Reaktion auf die Flugblätter. Wenn ich Jewad so zuhörte, musste ich zugeben, dass Herr Kursch recht gehabt hatte. Man schrieb jetzt öffentlich über alle Demonstrationen und diese Nachrichten wurden ebenso öffentlich kommentiert. Und was hatte ich getan? Eine einfache Forderung der Hungerstreikenden heimlich verteilt. Und war dafür ein Feigling genannt worden!

„Hussein, Hussein.“

Ich nahm die Stimme von Jewad zunächst nicht wahr.

„Was ist mit dir? Wo bist du in deinen Gedanken?“

„Ach, nichts Wichtiges.“ Oder doch? Mit wem sollte ich denn sonst darüber sprechen? „Weißt du, Jewad, du hast mir doch die Flugblätter gegeben. Ich habe sie, wie du gesagt hattest, heimlich verteilt.“

„Ja, und das hast du sehr gut gemacht! Ich weiß, dass danach die ganze Stadt informiert war. Das war großartig von dir. Aber was willst du überhaupt sagen?“

„Ich will damit sagen, dass die Zeitungen inzwischen öffentlich darüber schreiben. Diese Nachrichten sind viel gefährlicher als die Flugblätter. Und ich frage mich, warum Herr Kursch gesagt hat, die Verteiler der Flugblätter seien Feiglinge. Die Menschen gehen auf die Straßen und schreien: ‚Nieder mit Schah!‘, während wir unsere Aktionen heimlich abwickeln.

Jewad nickte. „Ich habe verstanden, Hussein. Nein, warte, soll das also heißen, dein Lehrer weiß, dass du die Flugblätter verteilt hast?“

„Dass ich es war, weiß er nicht. Aber ich bin sicher, er weiß, von wem die Flugblätter stammten, wer dahintersteckte?“

„Das macht nichts, Hussein. Er ist ein guter Mensch. Er ist Volks-Fedaeen und ein Vertreter in Marivan. Aber du musst wissen, die denken anders, sie glauben schnell alles. Die sind eine gute linke Partei im Iran. Von uns Kurden wissen sie nicht viel. Das sind Freiheitskämpfer, die ganz anders denken als wir. Ich weiß, sie wollen sich präsentieren. Sie glauben, man könne mit Gewalt und Waffen das Regime stürzen. Ihr Führer hat einen Ausspruch geprägt: ‚Ein kleiner Motor kann zu einem großen Motor werden.‘ Die Übersetzung dieser Theorie der Volks-Fadaeen bedeutet: Man kann mit einer kleinen Gruppe Geistiger, die bereit ist, sich zu opfern, die gesamte Bevölkerung im Land zur Revolution bringen. Aber für uns ist wichtiger, dass die Menschen selbst lernen und sich verteidigen. Mit kleinen Gruppen können wir nur die Ungerechtigkeit bekämpfen, indem wir die Information über die Wahrheit verbreiten. Ohne das Volk können wir nicht viel erreichen.“ Jewad hielt einen Moment inne und sprach dann weiter: „Du musst verstehen, du warst kein Feigling! Im Gegenteil, du warst sehr mutig! Wir müssen uns nicht alle präsentieren. Aber du hast recht, heute können wir alle auf die Straßen gehen und öffentlich sagen, was wir denken. Die Savak und auch die Geheimdienste sind sehr schwach geworden und können nicht mehr einfach so die Menschen festnehmen. Aber was ist mit der Zukunft? Wer kann garantieren, ob es morgen wie heute ist. Man weiß nicht, was morgen oder in wenigen Tagen sein wird oder in der Zukunft. Wenn die alles über uns wissen, wird vielleicht eines Tages wieder ein Machthaber die Führung im Land übernehmen, der uns dann festnehmen lässt. Damit wären nicht nur wir in Gefahr, sondern auch die Familien, die Menschen, die mit uns in Kontakt stehen. Es ist wie eine Kette, die weitergeht, und irgendwann gibt es keine Organisationen mehr, die noch dagegen ankämpfen. Aus diesem Grund müssen wir noch vorsichtiger sein, besonders wenn das Regime gestürzt wird und neue Machthaber den frei gewordenen Platz besetzen. Wir wissen doch gar noch nicht, wer kommt. Wird ein neues Regime demokratisch sein oder wie der Schah und seine Geheimdienste wieder eine Diktatur aufbauen? Wir müssen in diesen Zeiten durch unsere Arbeit den Menschen beibringen, kämpferisch zu sein. Die Machthaber dürfen nicht denken, sie könnten sich mit dem Volk alles erlauben. Wenn ein neues Regime an die Macht kommt und bemerkt, dass die Menschen keine Angst haben, dann verhalten sie sich anders. Außerdem müssen wir den Glauben in unser Volk bringen, dass sich die Menschen selbst regieren können. Sie brauchen niemanden, der ihr Schicksal bestimmt. Wenn sie zusammenhalten, sind sie stark. Andererseits war dieser Hungerstreik eine große Schule für uns alle, besonders für die Stadtbewohner von Sene. Bei der Bevölkerung von Sene ist dieses Tabu gebrochen. Ja, die Angst vor den Machthabern ist gebrochen. Die Regierung hat Macht, und was die sagen, muss gemacht werden. Mit dieser Bewegung haben die Menschen gelernt, was sie erreichen können, wenn sie es selbst in die Hand nehmen. Dann erreichen sie auch ihre Forderungen.

Ich hatte Jewad aufmerksam zugehört, hatte aber noch immer nicht die Information erhalten, die mich interessierte. Daher fragte ich ihn: „Nun sag schon, was ist mit dem Hungerstreik? Nach einem Bericht von BBC-Radio habe ich nichts mehr gehört.“

Jewad antwortete mir: „Der Hungerstreik ist erfolgreich beendet. Die Gefangenen und die Bevölkerung von Sene haben gewonnen und ihren Sieg gefeiert. Alle iranischen Zeitungen und Zeitschriften haben darüber berichtet und sogar ausländische Zeitungen haben Artikel über den Hungerstreik und über Kurdistan-Fragen veröffentlicht. Die UN-Menschenrechtler sind nach Sene gekommen und haben alle Forderungen der politischen Gefangenen bestätigt. Aber ich muss sagen, die neue Situation im Land hat uns auch geholfen. Das Regime wollte keine Eskalationen mehr und auch keine weitere Verbreitung. Heute hörte ich, dass viele politische Gefangene in anderen Städten Irans, wie zum Beispiel Teheran, bereits freigelassen wurden, weil fast auf allen Demonstrationen die Forderung der Freilassung aller politisch Gefangenen kundgetan wurde.“

„Und was ist mit Kak Foad?“, wollte ich wissen. „Wird er auch freikommen?“

„Ja, Kak Foad ist sogar schon frei, aber nicht aus den genannten Gründen. Seine vierjährige Haftstrafe ist abgesessen. Ich glaube, in den nächsten Tagen werden auch die restlichen politischen Gefangenen freigelassen, weil es fast jeden Tag Demonstrationen gibt und der Ruf nach Freiheit für alle politischen Gefangenen nicht lauter sein könnte. Das sind die ersten Schritte der Revolution.“

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