Marivan unter den Kastanienbäumen

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Jewad lächelte mir zu. „Ja Hussein, ich glaube dir. Eine Reise ist immer gut und man kann viel Neues sehen und neue Erfahrungen sammeln. Aber du weißt doch, dass wir eine arme Familie sind und meine Eltern mir diese Reise nicht erlauben konnten. Ich freue mich, wenn ich während der Sommerferien arbeiten und etwas Geld für Schulsachen sparen kann. Einen Teil gebe ich meinen Eltern für den Haushalt. Du weißt doch, mein Vater verdient sehr wenig, und mein Bruder und ich müssen mithelfen, damit unsere Familie nicht um Hilfe bitten oder gar wie Bettler die Hand aufhalten muss. Es ist ein Geschenk, wenn meine Mutter einmal lächelt, weil ihr Gesicht sonst nur von Sorgenfalten gezeichnet ist. Ich liebe meine Mutter, weil sie für uns Kinder immer das Beste versucht, sodass wir alle zwei Tage eine warme Mahlzeit haben. Auch verstehe ich, dass mein Vater manchmal auf dem Basar trinkt, es sind seine Sorgen, und ich schäme mich dafür. Aber was kann ich schon tun?!



„Jewad, ich würde auch gern etwas Geld verdienen, aber ich weiß gar nicht, wie und wo ich in den Ferien arbeiten könnte.“ Der Gedanke erschien mir gar nicht so schlecht. Ich sagte: „Auch ich möchte meinen Eltern eine Freude machen und vielleicht heimlich etwas sparen.“



Jewad kam etwas in den Sinn: „Ich kenne zwei Jungs aus unserer Schule, die arbeiten in einer Autowerkstatt. Die haben von dem Meister viel gelernt und wissen, wie man Autos repariert. Sie lernen, schauen zu und später wollen sie eine eigene Autowerkstatt aufmachen – also später, wenn die Schule beendet ist.“



Ich hatte Bedenken. „Jewad, ohne Studium können die doch nicht selbständig werden!“



Jewad war anderer Meinung und erwiderte: „Die können, weil ihnen nichts anderes übrig bleibt, als praktisch zu denken. Meine Freunde können nicht lange auf Kosten ihrer Eltern leben, weil die nämlich arm sind.“



„Aber auch ich möchte mein eigenes Geld eher verdienen.“ Der Gedanke nahm immer mehr Formen an. „Und weißt du, Jewad, wenn ich einmal eine Freundin habe, möchte ich ihr imponieren und ihr jeden Freitag ein Geschenk kaufen, damit sie mich mag. Danach würde ich sie zum Zarivar-See auf einen Spaziergang einladen und sie küssen. Dann würde ich ihr eine Seerose aus dem See holen und wir würden verliebt, Hand in Hand, um den See wandern. Es wäre mein Traum, einem Mädchen aus Marivan zu gefallen.“



Jewad hatte mir die ganze Zeit zugehört, ohne mich zu unterbrechen. Nach einer Weile sagte er: „Hussein, ich finde, dein Vater hat recht. Du hast einen sehr guten Vater.“



„Wie meinst du das?“, fragte ich.



„Das weißt du ganz genau, mein lieber Freund. Wir Kurden haben keine Möglichkeit, wichtige Beamte dieses Landes zu werden oder gar in ein Ministerium zu gehen. Wir werden doch offensichtlich gehasst, wenn schon unsere Kleidung wie im Camp nicht erlaubt ist. Wir haben in unserem Land niemals eine Chance weiterzukommen.“



„Aber wir sind stolze Menschen.“



„Ja, Hussein, das weiß ich auch, aber trotzdem hat dein Vater recht. Du musst lernen zuzuhören und solltest erst dann sprechen. Du hast noch gar nicht begriffen, warum dein Vater recht hat. Er ist ein kluger Mensch und weiß, dass Lernen nicht nur für dich gut ist, sondern auch für unsere Stadt und unser Volk. Nur mit Wissen kann man den Menschen helfen, also den Armen. Nimm doch als Beispiel meinen Vater. Vor lauter Kummer betrinkt er sich dreimal die Woche und wird mit der Schubkarre nach Hause gebracht. So möchte ich in meinem Leben nicht enden.“ Jewad seufzte und sprach weiter: „Mein armer Vater hat nicht studiert und weiß es nicht besser. Er sorgt sich um seine Familie und wie er sie ernähren soll. Dabei sinkt er immer tiefer. Hussein, du weißt es. Ich will nicht so werden wie er, aber er ist mein Vater! Er war doch nie in einer Schule und hat nur einziges Ziel vor Augen: das Überleben. Sonst nichts. Ich wollte dir damit sagen: Nur das Lernen bringt den Menschen weiter. Stell dir vor, du hättest Medizin studiert, dann könntest du Wunder vollbringen, den armen Menschen helfen, gesund zu werden, du könntest Krankheiten bekämpfen, gerade bei den armen Menschen in unserem Volk.“ Als ich nichts auf seine Worte erwiderte, fragte mich Jewad: „Hussein, hast du schon mal von unserem großen Dichter Qaneh gehört und was er in seinen berühmten Gedichten schrieb? Das hörte sich so ungefähr an: Kurden, Kurdistan, steht alle auf, senkt nicht mehr euren Kopf aus Unwissenheit, wir leben im zwanzigsten Jahrhundert. Andere Nationen bereisen die Sterne, fliegen mit Menschen auf den Mond, schicken Satelliten in den Himmel, ergründen andere Planeten. Deshalb müssen wir auch lernen und unser Wissen ständig erweitern. Nur mit Wissen kommen wir weiter oder wir sind verlorene Schafe.“



„Ja, Jewad, natürlich weiß ich von Mamosta Qaneh. Und ich verstehe, was du meinst. Mein Vater liest manchmal zu Hause aus seinen Büchern. Oft habe ich ihm gelauscht. Ohne Studium kann keiner von uns Politiker werden und für unsere Gerechtigkeit kämpfen. Ohne Wissen kann man nie kämpfen. Das weiß ich auch. Die Machthaber wollen uns in Dummheit hüllen. Nur mit Wissen können wir deren Kampagnen entgegenwirken und kämpfen. Die Machthaber denken ausschließlich an ihr eigenes Wohl und ihren Reichtum und behandeln uns, das Volk, wie eine dumme Viehherde. Aber wir sind es nicht. Ich weiß noch nicht viel über unsere Welt, weil ich noch sehr jung bin. Jedoch bin ich überzeugt, dass es überall auf der Welt gleich funktioniert. Die Menschen arbeiten oft Tag und Nacht, um zu überleben. Sie haben gar keine Zeit nachzudenken. Woher kommt das, warum ist das so? Gott weiß das? Meine Mutter sagt immer wieder, Gott hat das gegeben und das ist das Schicksal für uns Menschen. Aber ich glaube nicht daran, denn jeder hat die Möglichkeit, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.“ Jetzt musste raus, was ich schon so lange mit mir herumtrug: „Jewad, bei uns im Land wird gefoltert! Ich habe von einem Beispiel gehört und weiß nicht, wie viele Fälle es in unserem Land noch gibt.“ Das Beispiel von Hajeje ging mir wieder durch den Kopf. Man hatte ihm Finger- und Fußnägel ausgerissen, nur weil er sich nicht in persischer Sprache hatte wehren können. Hajeje würde immer in meinen Gedanken bleiben, ebenso wie die Ungerechtigkeit in unserem Land. Die Würde des Menschen wurde bis auf das Blut verletzt.



„Oh, Hussein, sehr gut, was du sagst. Diese Reise hat dir offenbar gutgetan. Schön, dass du so denkst. Pass auf, ich mache dir zwei Vorschläge. Ich sorge erstens dafür, dass du während der Ferien eine Arbeit findest, damit du nicht nur etwas Geld verdienst, sondern auch andere Menschen kennenlernst, die sich wie du Gedanken machen und sich sorgen. Sie wissen schon mehr als wir, da sie etwas älter sind. Du solltest mit eigenen Augen sehen, wie hart der Kampf um das Überleben der armen Menschen ist, besonders das der Arbeiter, die tagtäglich für ihren Lebensunterhalt kämpfen und keinen gerechten Lohn erhalten. Zweitens schlage ich dir vor, meine Freunde kennenzulernen. Wir treffen uns dreimal pro Woche, manchmal auch öfter, im Abe Balkis, dem kleinen Kaffeehaus, und spielen Backgammon. Das Spiel ist jedoch nicht das Wichtigste. Wir diskutieren viel. Das Spiel dient dazu, die Neugierigen abzulenken, damit sie sich nicht fragen, warum wir so oft zusammensitzen. Komm doch morgen am Nachmittag dorthin, dann kannst du meine Freunde kennenlernen und selbst von ihnen lernen.“



Das imponierte mir. Voller Freude gab ich Jewad meine Hand und sagte: „Danke Jewad, du bist mein bester Freund. Gern werde ich morgen kommen. Es ist auch egal, welche Arbeit du für mich findest, ich werde sie annehmen.“



Wir verabschiedeten uns und Jewad flüsterte mir noch ins Ohr: „Aber Hussein, behalte das alles für dich, erzähle es niemandem! Unsere Gespräche behalten wir für uns.“



Ich war begeistert. Mit großer Freude schlenderte ich nach Hause. Mein Kopf war voller Gedanken. Ich freute mich, morgen die Freunde von Jewad kennenzulernen. Es waren die besten Menschen in unserer Stadt und mir kam Kak Kawe in den Sinn. Er war anders als die meisten Menschen in unserer Stadt. Immer, wenn ich ihn von Weitem sah, dachte ich, er sei mein Vorbild. Sollte ich einmal heiraten, dann würde ich es so machen wie er. Kak Kawe hatte immer ein Lächeln im Gesicht, für jeden ein gutes Wort, er sah in seiner kurdischen Kleidung stets gepflegt und sauber aus. Manchmal sah ich ihn mit seiner Frau am See spazieren gehen. Es war bei uns nicht normal, dass ein Mann mit seiner Frau Hand in Hand öffentlich spazieren ging. Eigentlich war es verboten.



Kak Kawe war Akademiker. Er hatte in der Oberschule unterrichtet. Wegen seiner politischen Meinung war er vom Ministerium und den Savaks suspendiert und daraufhin arbeitslos geworden. Er durfte nicht mehr unterrichten und hatte wegen seiner politischen Meinung sogar im Gefängnis gesessen. Das Einzige, was ihm und seiner Familie geblieben war, waren eine Unterkunft und ein Auto ähnlich einem Pickup. Er verlieh den Wagen an Bauern, damit sie ihre Ernte von den Feldern zum Markt bringen konnten. Wenn die Bauern kein Geld für das Benzin hatten, gaben sie ihm Kartoffeln und Gemüse. So kam auch bei ihm und seiner Familie warmes Essen auf den Tisch. Er war ein guter Mensch, den die Bauern schätzten. Auch meine Eltern sprachen öfter mit Hochachtung von ihm. Aber er war den Savak-Leuten ein Dorn im Auge.



Kurz bevor ich zu Hause ankam, überlegte ich, welchen Grund ich für morgen vorbringen würde, um in das Kaffeehaus zu gehen. Wenn ich nicht pünktlich nach Hause kam, brauchte ich eine Erklärung für meine Eltern. Ich beschloss zu sagen, dass wir uns für ein Fußballspiel verabredet hatten und ich etwas später nach Hause käme. Das dürfte erst einmal genügen. Später konnte ich immer noch sagen, dass wir uns trafen, um Backgammon zu spielen.







Das Kaffeehaus





Am nächsten Tag nach der Schule lief ich voller Erwartung zu dem kleinen Kaffeehaus und schaute zunächst durch das Fenster. Ich sah Jewad mit den anderen Tee trinken. Er blickte in diesem Moment zum Fenster, als hätte er mich schon lange erwartet, und winkte mit der Hand. „Komm rein!“

 



Ich betrat das Kaffeehaus und begrüßte alle am Tisch, an dem Jewad saß. Jewad stellte mich vor und ich gab allen mit einem Lächeln die Hand zur Begrüßung. Ich setzte mich auf einen Stuhl und wartete, was passieren würde, hörte zu, worüber sie diskutierten und trank wenige Schlucke von meinem Tee. Jewad ergriff das Wort und fragte in die Runde: „Habt ihr schon von Kak Shwane und von der Weißen Revolution gehört?“ Kak Shwane war ein junger und sehr netter Mann und stammte von den reichsten Familien unserer Stadt. Er genoss einen guten Ruf. Dieser junge Mann, der an unserem Tisch saß, hatte sich im Armenviertel unserer Stadt eine kleine Einzimmerwohnung gemietet, als er noch nicht verheiratet gewesen war. Obwohl sein Vater viele Häuser besaß und das schönste Haus in der Stadt bewohnte, war er von zu Hause ausgezogen. Er wollte nicht in dem Reichtum leben, den sein Vater umgab.



Kak Shwane antwortete Jewad so leise, dass man es nur an unserem Tisch verstand. „Hört mir zu, die Weiße Revolution des Schahs ist westlich geprägt und hat ganz Iran verändert. Diese Reform hat Vor- und Nachteile. Der Vorteil ergibt sich vor allen Dingen für die Bauern. Bis zur Weißen Revolution haben die Bauern das ganze Jahr über auf dem Feld gearbeitet und mussten nach der Ernte den größten Teil an die Aghs abgeben, also an die Landbesitzer oder Dorfbesitzer. Diese Aghs haben im Leben noch nie richtig gearbeitet, wissen nicht, was Feldarbeit bedeutet, und das seit Jahrhunderten. Keinen Finger haben sie je sich krumm gemacht. Stattdessen beuteten sie die armen Bauern aus und behandelten sie wie Sklaven. Außerdem nahmen sie von den Bauern eine Zwangssteuer, folterten sie, wenn sie ein Wort sagten oder vergewaltigten die jungen Mädchen der Bauernfamilien, um alles, was sie erreichen wollten, mit ihrer Gier nach Geld und Reichtum durchzusetzen. Es ist eine lange historische Geschichte, die unser Volk unterdrückt hat. Auf jeden Fall ist es so, dass die Weiße Revolution endlich greift, es ist ein gutes Zeichen für ein neues Leben unserer armen Bauern in Kurdistan. Geplant ist, dass jeder Bauer auf seinen eigenen Namen ein Stück Land erhält. Durch dieses kleine Stück Freiheit können die Bauern besser leben.“



In anderen Ländern Europas hatte sich diese Art Revolution in blutige Revolutionen gewandelt. Dort schaffte man den Feudalismus ab, sie schafften die Ahgs ab, wie auch immer diese in Europa hießen, und die Landwirte – die Bauern – übernahmen das System der Aghs in kleinerem Stil. So waren meine Gedanken, wenn ich Kak Shwanes Ausführungen richtig gefolgt war. Aber ich sagte nichts, schwieg weiter und hörte zu. Ich verstand, dass man den Feudalismus abschaffte, sich aber die Bauern durch mehr Rechte genauso benahmen, sich eben nur im kleineren Rahmen bereicherten und die Menschen wiederum durch Niedriglöhne ausbeuteten.



Kak Shwane sagte: „Der Feudalismus wurde in Europa durch den Kapitalismus ersetzt, in dem Arbeitgeber die Arbeitskraft der Arbeitnehmer ausbeuten.“



Schweigsam und mit großen Augen und Ohren hörte ich weiter zu.



„Bei uns im Land ist die Weiße Revolution im Begriff, das Gleiche zu tun, wie es in Europa geschehen ist. Die Folge kann eine blutige Revolution sein. Die Landbesitzer ersetzen im kleineren Stil die alten Ahgs und jetzt beginnt der Kampf zwischen den Inhabern und den Arbeitern.“



Ich dachte: Aha, man hat den Feudalismus in kleinere Flächen unterteilt.



„Wir in unserem Kurdistan sind noch weit davon entfernt; es gibt hier noch keine großen Fabriken“, sagte Kak Shwane. „Das wird der Nachteil der Revolution sein, aber es wird so kommen durch die Fremdbestimmung anderer Großmächte, die von außen Macht über unser Land ausüben. Nicht umsonst ist unser Schah so oft auf Reisen nach Amerika und Europa.“



Unsere Runde im kleinen Kaffeehaus dauerte mehr als eine Stunde. Mein Kopf war voll von neuen Informationen, die ich erst einmal für mich verarbeiten musste. Wir verabschiedeten uns mit einem Handschlag und ich sagte zu Jewad: „Es ist spät geworden, wir sehen uns morgen wieder.“



Schneller als sonst üblich rannte ich nach Hause und meine Mutter fragte: „Na Junge, habt ihr gewonnen?“



„Ach Mama, das Fußball-Turnier geht die nächste Zeit noch weiter. Es war ein interessantes Spiel, aber man wird sehen.“ Ja, was sollte ich anderes sagen? Ich hatte doch schon zuvor nicht die Wahrheit gesagt. Dabei wollte ich meine Eltern nicht anlügen. Irgendwann würde ich ihnen sagen, dass ich mich mit Jewad und seinen Freunden traf. Um mein schlechtes Gewissen zu beruhigen, holte ich meiner Mutter Holz für den Herd aus dem Nebengebäude, spielte eine Weile mit meinen Geschwistern und machte anschließend meine Hausaufgaben. Ich wartete auf den Abend. Dann würde ich mich ins Bett legen und hätte endlich Zeit, mir Gedanken über unsere Diskussion im Kaffeehaus zu machen. Ich war glücklich darüber, dass mich Jewad und seine Freunde sehr höflich in ihre Runde aufgenommen hatten.



Als die Abenddämmerung hereinbrach, hatten wir ein gutes Essen. Es gab im Dampf gegarten Reis, der vom Safran eine gelbe Farbe hatte. Unten im Topf hatte meine Mutter Kartoffelscheiben in Öl knusprig angebraten. Diese schmeckten besonders lecker. Dazu gab es Hühnchen, das zuvor in Joghurt und Kurkuma eingelegt worden war. Eine kleine Schüssel enthielt eine helle Joghurtsoße mit verschiedenen Kräutern aus unserem Garten. Es war ein Essen, als wäre es ein Freitag, der ja unser Sonntag war. Es war aber ein ganz normaler Samstag, der erste Arbeitstag der Woche.



Wir aßen alle voller Freude und meine Mutter tuschelte etwas in das Ohr meines Vaters. Wir Kinder bekamen nicht mit, um was es ging. Gut gesättigt ging ich zu Bett und ließ den erlebnisreichen Tag noch einmal an mir vorüberziehen. In meinen Gedanken war ich bei Kak Shwane und dem, was er von der Weißen Revolution erzählt hatte. Er war Lehrer an einer anderen Schule. Schade, dass er nicht an unserer Schule unterrichtete. Er konnte alles so gut erklären, dass man es sich begeistert merkte. Aber auch an unserer Schule gab es gute Lehrer wie beispielsweise Herrn Schkoki im Kunstunterricht oder Herrn Soltani in Literatur.



Als ich am nächsten Morgen vor der Schule mein Brot aß und meine Milch trank – mein Vater war bereits auf dem Weg nach Teheran, um auf dem Basar Ware einzukaufen –, verriet mir meine Mutter: „Hussein, du bist unser erster Sohn und sollst wissen, dass ihr vier Geschwister in wenigen Monaten einen Bruder oder eine Schwester dazubekommt.“



Aha“, sagte ich, „Jetzt weiß ich auch, Mama, warum du gestern, an einem Werktag, ein Freitagsessen gekocht hast.“ Dann kommt ja noch mehr Leben in unser Haus, dachte ich. Freudig machte ich mich auf den Weg zur Schule. Wie immer war ich einige Minuten zu spät dran, aber ich beeilte mich und war pünktlich.



In der Schule gab unser Lehrer, Herr Schkoki, uns die Aufgabe, zu Hause etwas zu basteln, um es am nächsten Tag mit zur Schule zu bringen. Pflichtbewusst ging ich nicht ins Kaffeehaus, sondern direkt nach Hause. Nach dem Mittagessen suchte ich im Schuppen nach einem Pappkarton, den ich dann zerlegte. Ich schnitt einzelne Teile aus der Pappe und bastelte ein Haus mit einem großen Hof vor dem Hauseingang. Das Dach geriet etwas schief und so konzentrierte ich mich besonders auf den Hof. Zunächst baute ich die Treppe, die von der Haustür zum Hof führte. Für den Innenhof baute ich aus der Pappe einen kleinen Teich, schnitt ein rundes weißes Stück Papier aus, das in den Teich hineinpasste und malte darauf in blauer Farbe das Wasser und kleine orangefarbene Fische, die an den Goldfisch erinnerten, der an Nouruz im Glas schwamm. Den Hof stattete ich mit kleinen Pappbäumchen in grüner Farbe aus, dazu kamen einige kleine Büsche mit roten Tupfen, damit es aussah, als wären es Blüten. Das Haus bekam einen cremefarbenen Anstrich und auf die Hauswände malte ich Fenster. In einer Ecke des Hofes legte ich ein Stück Papier aus und malte Hühner und den Truthahn darauf. Als ich fast mit meiner Arbeit fertig war, kam meine Mutter in den Hof und ich begrüßte sie: „Hallo Mama, schau dir mein Haus an.“



„Oh, wie schön du das gemacht hast!“, lobte sie mich. „Du wirst bestimmt einmal ein Bauingenieur oder ein guter Architekt.“ Sie rief meinen Vater aus dem Haus und sagte: „Schau dir an, was unser Sohn gebastelt hat.“



Mein Vater kam heraus und sah sich mit Freude das Haus an, gab mir einen Kuss auf die Wange und stellte fest: „Du wirst dir bestimmt eines Tages ein echtes Haus bauen. Dieses ist sehr schön, das hast du gut gemacht.“



Das Lob meiner Eltern machte mich stolz. Vorsichtig trug ich meine Bastelarbeit ins Haus, denn es wurde draußen kalt. Die Winterzeit hatte bereits begonnen.



Am nächsten Morgen war ich voller innerer Freude. Eilig trank ich eine Tasse Tee und biss mein Brot an, um es auf dem Weg zur Schule aufzuessen. Auf dem Rücken trug ich meinen Schulranzen und in der freien Hand hielt ich voller Stolz mein gebasteltes Haus. Als ich unsere kleine Gasse zur Straße verließ, traf ich Säran, die große Schwester von Majad, die ebenfalls auf dem Weg zur Schule war. Mit ihren großen, schönen Augen schaute sie erst mich an, dann staunte sie über mein Haus. Aber sie warf auch einen Blick auf meine Plastikschuhe. Ich hatte versäumt, darunter Socken anzuziehen. Durch das Eis und die Kälte war die Haut oberhalb der Schuhe aufgerissen und etwas blutig. Ich schämte mich, aber in unserer Familie gab es für uns Kinder im Sommer wie im Winter die gleichen Schuhe, Plastikschuhe, weil meine Eltern es sich nicht leisten konnten, uns Lederschuhe zu kaufen, wie sie die Beamtenkinder trugen. Die trugen im Winter sogar warme Stiefel.



Mein Herz klopfte und mein Körper vibrierte vor lauter Aufregung. Das war heute Morgen alles zu viel – dieses heiße Gefühl in meinem Kopf und in meinem Körper. Wir setzten unseren Weg fort, vorbei an den Cafés und den Menschen, die morgens schon unter der Überdachung saßen und Kaffee tranken. Bildete ich es mir nur ein oder schauten sie tatsächlich auf das, was ich in der Hand trug? Manche riefen: „Hallo Junge, was hast du in deiner Hand? Das sieht ja wunderschön aus.“



„Heute wirst du bestimmt die beste Note in der Schule bekommen.“ Der Lebensmittelhändler, bei dem meine Mutter oft einkaufte, hielt mich an und fragte: „Junge, das hast du wirklich selbst gemacht?“



„Ja, natürlich!“, antwortete ich verlegen.“



Auf dem Schulhof kamen meine Mitschüler angelaufen und fragten: „Was hast du da mitgebracht? Das ist ja wunderschön! Wie hast du das alles gemacht? Es sieht aus wie ein kleines Kunstwerk. Du wirst uns heute alle abhängen und der Beste sein.“



Als die erste Stunde begann, schaute sich Herr Schkoki jede Bastelarbeiten in Ruhe an. Als er mein Werk betrachtete, sagte er: „Oh, das Haus ist ja wirklich sehr schön! Später, wenn du erwachsen bist, wirst du bestimmt ein Bauingenieur für unser zukünftig freies Land werden. Die Schüler klatschten und unser Lehrer verkündete, dass ich heute der Beste sei und die Note 20 verdient hätte.



Mir wurde gleichzeitig heiß und eiskalt. Unter dem Tisch fühlten sich meine Füße in den kalten Plastikschuhen sehr unangenehm an, aber mein Herz war warm vor Freude. Mir war nicht klar, warum mein Körper bebte. War es wegen meines selbst gebauten Hauses oder waren es die schönen Augen von Säran? Dann bildete ich mir plötzlich eine Geschichte zu dem Haus ein, ohne dem Lehrer weiter zuzuhören. Säran war in meinem Haus, rannte die Treppe herunter in den Hof, fiel in meinen Teich und schrie, denn sie konnte nicht schwimmen. Wie ein Held sprang ich in hinterher, um sie vor dem Ertrinken zu retten. Ich rief: „Säran, hab keine Angst, gleich sind wir draußen. Gleich haben wir es geschafft.“ Ich brachte sie in ein Zimmer meines Hauses, wo sie die nasse Kleidung wechseln konnte. Sie zitterte und fror. Ich wollte die Heizung anmachen und bemerkte, dass ich vergessen hatte, eine einzubauen. Die Stimme von Herrn Schkoki riss mich aus meinen Träumen: „Hussein, ich habe dich etwas gefragt. Wieso gibst du keine Antwort?“ Schade, mein Tagtraum hatte ein jähes Ende gefunden.



Nach Schulschluss ging ich nach Hause und sah meine Mutter sehr besorgt. Mein Bruder Nasser war nicht in der Schule gewesen. Er hatte gestern keine Hausaufgaben gemacht und sich am Morgen nicht in die Schule getraut. Er hatte so getan, als würde er sich auf den Weg machen, sich dann aber den ganzen Vormittag draußen im Schnee herumgetrieben. Dabei hatte er sich eine schlimme Erkältung geholt und war fiebrig. Meine Freude über die beste Note war schnell vergessen. Mein Bruder faselte dauernd vor sich hin. „Ich habe Angst! Gestern hatte mein Schulkamerad keine Hausaufgaben gemacht. Der Lehrer hat vier Bleistifte zwischen seine Finger gesteckt und als Strafe die Hand zusammengepresst. Das hat ihm sehr wehgetan.“ Würde man es selbst ausprobieren, wüsste man, dass das einer Art Folter glich, bei der die Fingerknochen brechen konnten. Mein Bruder musste fürchterliche Angst gehabt haben, dass ihm das Gleiche bevorstand. Laut rief er: „Wo ist er jetzt?“ Er war völlig wirr. Ich nahm seine Hand und sah, dass seine Stirn glühte. Er wimmerte: „Der Lehrer … Hausaufgaben … Katzen … Kuchen …“ – alles wild durcheinander.

 



Meine Mutter eilte mit einer Schüssel Salzwasser und einem Tuch an sein Bett und wischte seine Füße ab. Dann tupfte sie den Schweiß von seinem Gesicht und legte das kalte Tuch auf seine Stirn, um das Fieber zu senken. Sie flüsterte: „Ach Nasser, warum hast du dich im Schnee versteckt? Und dann auch noch ohne warme Jacke!“



Ich schaute meine Mutter an und sagte: „Nasser hat keine warme Jacke.“



„Ja, ich weiß“, sagte sie, „aber ich habe kein Geld, euch allen warme Jacken zu kaufen. Euer Vater ist so geizig, es reicht gerade einmal für unser Essen. Wenn ich deine Tante sehe und ihre Familie mit unserer vergleiche, wird mir schwindelig. Ihr Mann verdient weniger Geld als euer Vater, aber die leben viel besser. Ich weiß nicht mehr, wie ich das eurem geisteskranken Vater beibringen soll.“



Heimlich ging meine Mutter zur Tante und lieh sich Geld aus, damit sie Nasser zum Arzt bringen konnte. Fast einen Monat lag mein Bruder krank in seinem Bett und meine Mutter weinte und pflegte ihn täglich mit allen verfügbaren Hausmitteln. Das Fieber sank nur langsam. Nasser hatte große Angst, weil er ja nun keine Hausaufgaben machen konnte. Er hatte Angst, dass der Lehrer, wenn er wieder gesund war, auch seine Hände als Strafe mit Bleistiften zusammenpressen würde.



Unser kleinster Bruder, Mansor, trat zu Nasser ans Bett und tröstete ihn. „Mach dir keine Sorgen wegen der Hausaufgaben. Ich helfe dir und mache sie für dich. Aber dafür gibst du mir dein Taschengeld. Nasser nickte und antwortete: „Gut, okay, du bekommst mein Taschengeld.“



Ich dachte an all das Lob und die beste Note 20, die ich für mein gebasteltes Haus bekommen hatte, aber ich schwieg. Ich wollte meinen Bruder damit nicht verletzen. Wenn er wieder gesund war, würde ich ihm nachmittags auch etwas helfen, damit er keine Angst zu haben brauchte, wenn er wieder in die Schule kam.



Jewad kam zu mir nach Hause und ich sprach mit ihm im Hof, damit meine Eltern und Geschwister nichts bemerkten. Er sagte: „Hussein, ich habe für dich eine Ferienarbeit gefunden.“ Es ist keine leichte Arbeit für uns Schüler, wir bekommen auch nur wenig Geld. Aber es ist besser, als wenn wir in den Ferien nutzlos auf der Straße herumlaufen.



Ich stimmte ihm zu und nickte.



„Was denkst du, Hussein? Ist doch besser, oder nicht?“



„Ja, ich bin einverstanden“, antwortete ich.



„Aber ich möchte dir noch etwas zu unserer Arbeit sagen“, fuhr Jewad fort.



„Ich bin ganz Ohr!“, entgegnete ich.



Dann erzählte er: „Bevor ich mit unserem Arbeitgeber gesprochen habe, war ich bei unseren Freunden, die du aus dem Kaffeehaus kennst. Sie sagten, wir müssten uns öfter treffen, um über das Ziel unserer Arbeit zu diskutieren. Unsere Arbeit ist eine ideologische Sache. Wir wollen den Arbeitern, ja der ganzen Bevölkerung helfen, dass sie vor Ausbeutung und Ungerechtigkeit besser geschützt sind. Wir sind für mehr Gerechtigkeit. Wir wollen mit den Menschen über die Ungerechtigkeit sprechen, ihnen zuhören, wo sie ihre Probleme haben. Jeder Einzelne wird uns sein Leid klagen und so werden wir uns ein besseres Bild von der gesamten Situation machen können. Wir wollen ihr Vertrauen für eine gute Sache gewinnen und mit den Menschen für ein gerechteres Leben kämpfen. Die Arbeiter haben nichts zu verlieren. Außer ihrem Leid, das von der Ausnutzung ihrer Arbeitskraft bewirkt wird. Von dem Lohn, den sie bekommen, kann kaum eine Familie ein würdiges Leben führen. Der krasse Unterschied ist bei dem anderen Teil der Bevölkerung zu sehen. Ich meine damit all die Beamten, die Geistlichen, das Ministerium, die nicht mit ihren Händen arbeiten, aber im Wohlstand leben, indem sie den armen Teil der Bevölkerung ausnehmen. Dieser Ungerec

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