Schwarzwalddavos

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Из серии: Lindemanns #214
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„Jeder hat seine Kammer“, erklärte Ludwig und zeigte auf die Schilder an der Tür. Staunend las ich meinen Namen! Ich öffnete die Tür und betrat mein Zimmer. Noch nie hatte ich so etwas gehabt, auch im Brandeck teilte ich eins mit Martin, dem Hausdiener! Zur Einrichtung gehörten ein Bett, ein Schrank, ein Tisch und ein Stuhl. Ich öffnete den Schrank und darin hing eine Uniform, wie sie die Kutscher trugen. Vorsichtig strich ich mit der Hand über den feinen Stoff. Ob ich sie anziehen sollte? Ich schaute mich weiter um und sah den Waschtisch mit einer großen Schüssel, einem Krug in der Mitte und einem Stück Seife daneben. Der Krug war bis zum Rand mit Wasser gefüllt. Selbst an einen Kamm hatte man gedacht und sogar an einen Spiegel. Ich schaute hinein und sah einen jungen Mann mit ziemlich wirren Haaren und einem leicht verschmutzten Gesicht, aber meine Augen strahlten wie nie zuvor. „Dann werde ich mich mal waschen“, sagte ich zu mir, zog mein Hemd aus und goss das klare Wasser in die Schüssel. Es war ein Erlebnis, sich nicht am Brunnen waschen zu müssen, sondern hier in der Kammer reinigen zu können. Dann kämmte ich meine Haare und schaute noch einmal in den Spiegel. Jetzt gefiel mir das Spiegelbild schon viel besser. Das Waschwasser goss ich aus dem Fenster. Ich schaute den Hang hinauf in die Wälder und lauschte dem Klang der Nordrach.

Kurz nach Sonnenuntergang läutete eine Glocke und wir wussten, dass wir uns zum Abendessen versammeln sollten. So ging ich mit Ludwig die Treppe hoch zum Gasthaus Anker. Ludwig kannte sich gut aus und ich folgte ihm aufgeregt. Wie mochte das Haus nun innen aussehen?

„Hier ist das Büro des Verwalters“, sagte er und zeigte auf das erste Zimmer, als wir den langen Flur betraten. Ein Schild war an der Tür mit der Aufschrift „Karl Lehmann – Verwalter“. Dahinter lagen die Praxisräume von Dr. Walther und Frau Dr. Hope Adams. Nach links ging es in den großen Speisesaal, das alte Gastzimmer mit der schönen Aussicht. Im Stockwerk darüber waren die Zimmer für die Gäste. „Ganz oben sind die Privatgemächer der Familie, die müssen wir uns nicht ansehen“, erklärte Ludwig, als wir an einer Treppe vorbeikamen. „Das Personal wohnt in den Häusern der Umgebung und kommt abends zum Essen hierher.“

Ich nickte und war froh, nun ungefähr Bescheid zu wissen.

Den großen Speisesaal kannte ich noch, den hatte ich mit meinem Vater besichtigt, als wir das alte Gasthaus begutachteten. Jetzt war auch er ganz neu geworden. Schöne Tapeten schmückten die Wände, ein langer Tisch war aufgebaut, an dem viele Stühle standen. Am Kopf der Tafel hatten Dr. Walther, Hope und die Kinder bereits Platz genommen. Weiter unten stand Scarlett hinter ihrem Stuhl und dann folgten die Bediensteten, die ich bereits kannte. Mit mir und Ludwig kam auch Lehmann herein, ging an den Kopf der Tafel und stellte sich hinter den Stuhl neben Hope. Ich ging an einen freien Platz ganz am Ende der Tafel und blieb hinter dem Stuhl stehen.

Dr. Walther stand auf und begrüßte uns. „Meine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen“, sagte er und wir sahen uns erstaunt an, denn so hatte noch niemand sein Personal angeredet, „wir stehen gemeinsam vor ganz großen Aufgaben. Wir wollen hier in der Kolonie Nordrach eine Klinik aufbauen, wie es sie noch nie gegeben hat. Sie soll ein Wohnort für Kranke und Gesunde sein, ja, eine Heimat vielleicht für längere Zeit werden und – wenn möglich – ein kleines Paradies für alle, die hier wohnen und im Schwarzwald Heilung suchen. Es wird viel Arbeit geben, aber auch gute Verpflegung und geregelte Arbeitszeiten. Die Uhr wird unseren Tagesablauf bestimmen. Aber davon reden wir morgen früh. Um 8.00 Uhr treffen wir uns hier im Speisesaal zu einer Besprechung. Frühstück gibt es um 7.00 Uhr. Ich erwarte Pünktlichkeit. Damit ihr euch an die Zeiten gewöhnt, wird eine Glocke etwas früher läuten. Zur Zeit wohnen wir hier oben im Haus, aber sobald es geht, werden meine Familie und ich in das Doktorhaus umziehen. Das ist das große Haus, in dem früher die Verwaltung der Fabrik war. Der Umbau ist noch nicht ganz fertig. An dem Haus ist eine große Uhr geplant, an dem jeder ablesen kann, wie spät es ist. Ich weiß, dass das alles eine große Umstellung für euch ist, aber ich bin sicher, wir werden das schaffen. Nun aber wünsche ich guten Appetit!“ Er setzte sich, aber die meisten von uns blieben stehen.

Jemand sagte: „Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.“ Wir schlugen das Kreuz, dann schoben auch wir die Stühle zurecht und setzten uns.

Dr. Walther sagte: „Ich verstehe euch und euren Glauben. Meine Frau und ich gehören nicht zur Kirche, deshalb beten wir auch nicht bei Tisch. Ich akzeptiere aber euren Wunsch nach einem Tischgebet und jeder kann beten, wie er es will. Aber ich möchte keine Heiligenfiguren oder Bilder in der Klink sehen. Ist das verständlich?“

Natürlich wussten wir alle, dass Dr. Walther und Hope Atheisten waren, und so nickten wir zustimmend, aber dann griffen wir zu. Brot, Butter, Käse, Wurst, Obst, alles stand reichlich auf dem Tisch und wir durften so viel essen, wie wir mochten. Dr. Walther hatte von einem kleinen Paradies gesprochen. So empfanden wir bereits unsere erste gemeinsame Mahlzeit. Was auch auf uns zukommen würde, wir würden alles für ihn tun!

Tags darauf läutete die Glocke und rief zur Besprechung in den großen Speisesaal. Diesmal waren die Stühle in Reihen aufgestellt wie in einer Kirche und wir stellten uns hinter die Stühle. Dr. Walther, Hope und Lehmann standen zusammen und sprachen laut miteinander. „Wir brauchen mehr Personal“, meinte Lehmann. „Ich brauche einen Gärtner, einen Heizer, einen Zimmermann, einen Schreiner und viele Gehilfen. Die können je nach Bedarf von den Höfen hinzukommen, aber die Handwerker, die brauchen wir vor Ort. Heizer und Gärtner werden wir sicher jeden Tag beschäftigen.“

„Wenn die Patienten kommen, dann brauche ich vor allem Pflegerinnen“, sagte Hope. „Wir brauchen ausgebildetes Personal, das den Umgang mit Kranken gewöhnt ist.“

„Einige Bewerbungen liegen mir vor“, erwiderte Dr. Walther. „Alles der Reihe nach. Es wird gar nicht anders gehen, als dass wir bereits Patienten aufnehmen, ehe alles fertig ist. Wir brauchen dringend Einnahmen, sonst wachsen uns die Kosten über den Kopf. Einige Gäste haben sich bereits angemeldet. Sie sind auf der Fahrt hierher und Frieder wird sie vom Bahnhof holen. Sie werden zunächst im Anker wohnen. Deine Werbung in England war überaus erfolgreich, liebe Hope. Nun müssen wir die Erfolge wiederholen.“

„Wir beginnen zu früh“, meinte Lehmann. „Warum muss alles so schnell gehen?“

„Weil wir keine Zeit haben, lieber Karl“, antwortete Dr. Walther. „Wir sind nun Unternehmer und Arbeitgeber. Unser Personal wartet jeden Monat auf seinen Lohn.“

„Warum habe ich mich nur darauf eingelassen?“, fragte Lehmann ärgerlich. „Weil wir den Aufbau der Klinik gemeinsam schaffen wollen“, antwortete ihm Hope und ergänzte, als ihr Mann sie erstaunt ansah, „zu dritt!“

Dr. Walther bat uns, Platz zu nehmen. Seine Frau und Lehmann setzten sich und wir folgten ihrem Beispiel.

„Schön, dass ihr alle pünktlich seid“, begann Dr. Walther seine Rede. „Ich sehe, dass ihr verstanden habt, wie wichtig die Pünktlichkeit ist. Sie ist Voraussetzung für eine gute Zusammenarbeit. Ich weiß, dass das für euch ungewohnt ist, aber daran müsst ihr euch gewöhnen. Achtet auf die Uhr! Die zweite Stütze ist die Hygiene, die Sauberkeit. Ich stelle erfreut fest, dass sich alle gewaschen und auch die Haare gekämmt haben. Das ist in bäuerlicher Umgebung nicht selbstverständlich, aber ganz wichtig, denn wir haben hier eine Klinik und keinen Bauernhof. Alle Zimmer müssen jeden Tag nass aufgewischt werden. Das gehört zum Dienst der Zimmermädchen.“ Einige Mädchen nickten. „Sauberkeit ist oberstes Gebot in allen Bereichen. Auch die Kutsche muss nach jeder Fahrt zum Bahnhof gründlich gereinigt werden. Wasser gibt es genug!“ Ludwig und ich nickten bestätigend. Das würden wir ganz sicher beachten.

„Auch in der Küche! Das Geschirr wird mit Schmierseife abgewaschen und nicht nur mit Wasser wie auf den Höfen. Nur heißes Wasser mit Schmierseife reinigt das Geschirr wirklich. Darin duldet meine Frau keine Ausnahme.“

Die Köchin stand auf und sagte: „Ich auch nicht, Herr Doktor!“ Natürlich lachte alles, aber Dr. Walther wurde sehr schnell wieder ernst.

„Die Patienten sind sehr krank“, erklärte er. „Ihr wisst von der weißen Pest oder dem weißen Tod, der so viele Menschen holt?“ Ich glaube, es gab keinen, dem bei dieser Frage nicht seltsam zu Mute wurde, denn natürlich wussten wir, wovon er sprach. Viele Kühe hatten Perlsucht, wie man das bei uns nannte, wenn am Hals Knoten auftraten. Auch viele Männer und Frauen, und besonders Kinder und ältere Leute husteten. „Auszehrung“ nannte man auch den unausweichlichen Krankheitsverlauf. Wie viele Kinder starben schon als Säugling daran!

„Wir holen die Kranken in unser Sanatorium, um ihre Krankheit zu heilen. Sie brauchen Ruhe, gutes Essen, frische Luft und Bewegung, aber sie dürfen niemanden anstecken. Deshalb achtet darauf, dass euch keiner anhustet, dass ihr immer wieder die Hände wascht, dass alle Wäsche der Kranken sorgfältig gekocht und gewaschen wird. Ich weiß, das fordert viel von euch. Wir werden Bilder aufhängen, die alles erklären, was man beachten muss. Wenn ihr Fragen habt, wendet euch an Dr. Hope, unseren Verwalter Lehmann oder an mich. Ich erwarte, dass jeder seine Arbeit sorgfältig erledigt und alle Vorschriften einhält. Dazu gehört auch, dass man sich von den Patienten fern hält. Sie sind ,Herrschaften‘ für euch und sollen auch so behandelt werden. Habe ich mich verständlich ausgedrückt oder hat noch jemand eine Frage? Dann geht an die Arbeit. Frieder und Ludwig, ihr richtet gleich die schwarze Kutsche für die Fahrt nach Biberach. Unsere ersten Patienten kommen gegen Mittag mit dem Zug an.“

 

Mir schlug das Herz bis zum Hals. Der Tod zog bei uns ein und wir wollten ihn besiegen!

Die schwarze Kutsche eignete sich sehr gut, um Gäste von Biberach abzuholen. Es war ein schwarzer Kastenwagen nach dem Offenburger Modell. Hinten gab es genügend Platz für viel Gepäck und im Kasten Sitzplätze für sechs Personen. Man konnte den Wagen zweispännig fahren und Max und Moritz, unsere beiden Schwarzwälder Pferde, waren genau die richtigen dafür. Ludwig half mir, die Kutsche zu richten und anzuspannen. Dann ging es los. An der alten Kapelle hatte Dr. Walther einen Schwanenteich bauen lassen. Noch war alles nur spärlich bewachsen, aber zwei Schwäne zogen bereits ihre Bahn auf dem Wasser. Ich fuhr den Fahrweg zum Dorf Nordrach, vorbei an Sägewerken, in denen eifrig gearbeitet wurde, und den alten Floßanlagen, die nicht mehr in Betrieb waren. Als ich eine Engstelle mit hohen Felsen hinter mir hatte, die einst der große Damm verband, ging es einfacher nach Nordrach hinunter. Als ich die Mittagsglocke von St. Uldaricus hörte, hatte ich die schwierigste Strecke geschafft. Die Straße war von hier ab ausgebaut und meine Pferde konnten zügiger laufen. Man wich mir aus, als ich nach Nordrach hereinkam. Der eine oder andere schaute scheu herüber und bekreuzigte sich. Wussten die Leute, wen ich holen wollte? Hatten sie Angst? Ich ließ mich nicht aufhalten und niemand trat mir in den Weg. So schaute ich nach vorn und fuhr am Gasthaus Stube vorbei, dem großen Fachwerkhaus, das direkt neben dem Rathaus an der Straße stand. Willmann, der Wirt, trat in die Tür und schaute nach, wer da unterwegs war. Er erkannte mich wohl, grüßte aber nicht und sah mich und meine Kutsche nur nachdenklich an. Ja, Willmann, dachte ich so für mich, die Kolonie lässt grüßen, sie erwacht aus dem Dornröschenschlaf. Es ist zwar alles ganz anders, als ich mir das vorgestellt habe, aber ab jetzt hole ich verwunschene Prinzen und Prinzessinnen in unser Märchenschloss. Vielleicht können wir sie von dem Fluch befreien, der sie gefangen hält. Dann lachte ich über meine kindlichen Gedanken und spürte doch, dass sie gar nicht so falsch waren. Ein seltsamer Fluch war über diese Menschen hereingebrochen, eine Schwindsucht, die Menschen dahinsiechen ließ und überall Leid, Tränen und Kummer verursachte. „Wir holen die Kranken und wir wollen ihre Krankheit besiegen“, hatte Dr. Walther gesagt. Nun war ich dabei, solche Menschen aus ihrer gewohnten Umgebung in unsere Abgeschiedenheit zu holen.

Ich ließ Max und Moritz die Leinen locker. Sie trabten zügig durch Allmend und Lindach und in Neuhausen roch man bereits die Zeller Fabrik. Wir fuhren am Waldrand entlang immer in der Nähe der rauschenden Nordrach, bis sich der Fluss in den Harmersbach ergoss und nun Erlenbach hieß. Jetzt ging es vorbei an der großen Papierfabrik und ich achtete auf die Transporte, die für die Papierfabrik kamen, oder auf die schweren Wagen mit Fässern für die Keramikfabrik. Bald sah man schon das Bahnhofsgebäude von Biberach. Gerade war ein Güterzug angekommen. Die Lokomotive schnaufte schwer, denn sie zog eine schier endlose Reihe von Wagen mit Erz und Kohle für Hausach. Holz und Fässer wurden abgeladen. Überall waren Leute an der Arbeit, wurden Listen geschrieben und Befehle erteilt. Hier war viel Leben und ich wartete auf Menschen, die daran nicht mehr teilnehmen konnten.

„Wir gehören nicht dazu“, sagte ich zu Max und er wackelte mit den Ohren, als hätte er mich verstanden.

Ich fand einen Stellplatz direkt am Bahnhof, blieb auf dem Bock sitzen, zog die Bremse an und wartete. Der Güterzug war abgefertigt und der Bahnhofsvorstand mit der roten Mütze gab das Signal zur Abfahrt. Ein Pfiff ertönte und er hob die grüne Kelle. Mit viel Getöse und Dampf setzte sich der Zug langsam in Bewegung und fuhr das Tal hinauf. Die schweren Fuhrwerke fuhren ab und für kurze Zeit war der Bahnhofsplatz leer. Aber nicht lange, denn nun kamen Kutschen mit Fahrgästen, die mit einem Zug weiterfahren wollten. Zwei Züge wurden erwartet, wie ich aus dem Stimmengewirr heraushörte; ein Zug talaufwärts nach Hausach und einer talabwärts in Richtung Straßburg. Ich schaute zu, wie Koffer und Taschen ausgeladen wurden, wie Männer und Frauen durcheinanderliefen, wie Mütter nach ihren Kindern riefen. Der eine oder andere schaute fragend zu meiner schwarzen Kutsche hinüber, denn nur noch selten begegnete man einem solchen Kastenwagen. Dann hörte ich Lokomotiven pfeifen und Bewegung kam in die Menge. Die Menschen begaben sich zum Bahnsteig. Die beiden Züge trafen gleichzeitig ein und nun gab es erst recht ein Gedränge. Ich schaute zu, wie Reisende aus dem Zug stiegen und sich umsahen, während andere zum Zug eilten und in die Wagen einstiegen. Viele suchten eine bestimmte Kutsche, andere begaben sich zu Fuß auf den Weg. Ich saß da und beobachtete das bunte Treiben. Als sich die Menge verlaufen hatte, sah ich eine Gruppe gut gekleideter Männer und Frauen auf dem Bahnsteig stehen. Sie wirkten verwirrt, als seien sie in einer Welt gelandet, die sie nicht verstanden. Das mussten meine Fahrgäste sein! Ich sprang vom Bock und ging auf sie zu.

„Dr. Walther“, sagte ich zur Begrüßung und erntete großes Erstaunen.

„You are Doktor Walther?“ Obwohl ich kein Englisch verstand, begriff ich, was sie meinten.

„Nein”, antwortete ich, „aber ich bringe Sie zu Dr. Walther.“

Sie blieben misstrauisch, als sie die Kutsche sahen. Eine der Damen hustete schwer und hielt sich ein Spitzentaschentuch vor den Mund, einer der Herren wandte sich ab, nahm eine blaue Flasche aus der Rocktasche, räusperte sich und spuckte hinein. „Wir haben uns darauf eingelassen“, sagte er dann in einwandfreiem Deutsch. „Steigen wir ein. Es ist der Schwarzwald und nicht der Himalaya!“ Ich verstand nicht, was er meinte, aber augenscheinlich waren die Damen und Herren von unseren Bergen begeistert. Ich öffnete die Tür. Man bedankte sich und die Herren halfen den Damen beim Einsteigen. Sehr geräumig war die Kutsche nicht, aber alle fanden Platz und ich konnte die Türen schließen. Wieder schüttelte ein Hustenanfall eine der Damen. Sie sah sehr blass aus und hatte tiefe Ringe unter den Augen. Man sah meinen Fahrgästen an, wie krank sie waren. Ich war froh, dass die Kutsche geschlossen war, denn es mussten ja nicht alle sehen, wen ich da in die Kolonie brachte. Die Gepäckträger halfen mir, die zahlreichen Koffer und Hutschachteln aufzuladen. Wie gut, dass unsere Kutsche über genügend Stauraum verfügte!

Max und Moritz schienen nur darauf gewartet zu haben, endlich wieder lostraben zu können. Ich konnte ihnen die Leinen lassen und wir fuhren zügig nach Nordrach. Am Dorfbrunnen musste ich anhalten, denn beide Pferde sollten getränkt werden, bevor der Anstieg zur Kolonie begann. Meine Fahrgäste ließen die Fenster hinunter und schauten sich um. Ich nahm die bereit stehenden Eimer, holte Wasser und gab den Tieren zu trinken.

„Nice, jolly, typical german ...“ Ich hörte Brocken einer fremden Sprache, aber ganz augenscheinlich gefiel meinen Fahrgästen das Dorf. „Sind wir noch nicht da, Kutscher?“, rief der Mann, der Deutsch konnte.

„Nein“, antwortete ich. „Nun geht es noch sechs Kilometer in die Berge.“ „Four miles in the mountains“, wiederholte ein Mann in Englisch. Hin und wieder hörte ich das Wort Himalaya und konnte mir gar nichts darunter vorstellen. Es war wohl ein lustiges Wort, denn alle lachten und einige mussten sofort wieder husten. Mir war gar nicht wohl, als ich auf den Bock stieg und die Pferde antrieb. Max und Moritz hatten es nicht einfach auf dem Weg, der uns nun in die Kolonie führte. Der Anstieg war streckenweise steil und die schwere Kutsche schaukelte hin und her. Ich war froh, als ich den Schwanenteich und bald darauf den Anker sah. Dr. Walther stand draußen, um seine Gäste zu begrüßen, neben ihm Hope in einem bodenlangen, aber sehr gerade geschnittenen Kleid, die Haare sorgfältig frisiert. Unser Verwalter wirkte immer noch wie einst als Lederstrumpf. So ganz hatte er sich an einen Anzug noch nicht gewöhnt. Der Hausdiener trat an die Kutsche und öffnete, nachdem ich die Bremse angezogen hatte. Schnell sprang ich vom Bock, um zur Stelle zu sein, wenn die Koffer abgeladen wurden. Hope und Dr. Walther begrüßten die Gäste in ihrer Muttersprache und auch Lehmann konnte selbstverständlich Englisch.

Für die Frauen gab es erst einmal ein großes Problem, als Dr. Hope darauf bestand, dass sie das Korsett ablegen mussten. Ungewollt bekamen wir die endlosen Diskussionen mit, die unsere Frau Doktor führen musste, bevor die steifen Dinger in die Ecke gelegt wurden. Von dem Ehemann war die Rede, der seine Frau nur wegen ihrer schmalen Taille liebte, von dem Ansehen in der Gesellschaft, vom Frausein überhaupt. Noch einmal gab es lange Diskussionen, wenn die Schneidermeister aus Nordrach kamen und den Patientinnen Schnitte für Reformkleider vorschlugen. Da konnten die Stoffe noch so interessant sein, die Reformkleider sahen eben ganz anders aus.

Aber nach sechs Wochen konnte ich die Gäste wieder zum Bahnhof fahren. Die Herren husteten nicht mehr und waren sehr selbstbewusst. Selbstverständlich halfen sie den Damen aus der Kutsche. Die Frauen trugen gut geschneiderte Kleider, aber sie waren nicht mehr geschnürt. Auch sie husteten nicht mehr. Ich stand neben der Kutsche, als die Gepäckträger die vielen Koffer zum Bahnsteig trugen. Die Herrschaften verabschiedeten sich von mir persönlich mit einem Trinkgeld und guten Wünschen.

„Wir werden Ihren Dr. Walther weiterempfehlen“, sagte einer der Herren. „Es war schön in Nordrach“, sagte eine der Frauen, „very nice!“

Als die ersten Gästehäuser fertig waren, hatten wir dreißig Patienten bei uns. Das sprengte den bisherigen Rahmen und Hope schlug uns Angestellten vor, an einem gesonderten Tisch zu essen. „Der Lungenarzt speist mit seinen Patienten“ erklärte sie uns, „das ist ganz wichtig, damit wir die Kranken zu gesunden Essensgewohnheiten erziehen. Ihr habt das Problem doch nicht, oder?“

Nein, solche Probleme kannten wir nicht. Wir aßen, was wir bekamen, und freuten uns darüber, satt zu werden, um genügend Kraft für die vielen Aufgaben zu haben. Durch die neue Tischordnung konnten wir uns beim Essen freier unterhalten und manchmal auch albern.

„Das Bettlaken drücke, es sei nicht stramm genug gezogen, beschwerte sich eine Dame bei mir“, klagte ein Zimmermädchen. „Sie hätte es doch selber glattziehen können. Aber nein, sie muss mich rufen und sich beschweren!“

„Mein Spucknapf ist nicht sauber!“, sagte ein Mädchen mit weinerlicher Stimme. „Wie soll ich da hineinspucken?“ Wir alle lachten und bekamen einen strafenden Blick von Dr. Walther.

„Mein Liegestuhl ist nicht nach der Sonne ausgerichtet. Ich brauche mehr Sonne. Richten Sie also den Liegestuhl!“, erzählte ein anderer. „Ich hätte am liebsten gesagt: Mein Herr, Sie haben doch selber zwei Hände, machen Sie es doch, wie Sie es möchten. Aber man muss ja höflich bleiben. Es sind zahlende Gäste!“

Wir wussten sehr wohl, dass unsere Gäste viel bezahlen mussten. Auch darüber gab es immer wieder Diskussionen zwischen Dr. Hope und Lehmann. „Wir sind Sozialdemokraten“, beschwerte er sich oft genug. „Wir nehmen die Leute aus!“

„Aber wir sind auch Unternehmer“, antwortete Hope. „Wir müssen unserem Personal einen gerechten Lohn zahlen!“

300 Goldmark kostete eine Woche bei uns! Das fiel dem einen oder anderen nicht leicht, besonders wenn die Kur verlängert werden musste. „Ich habe gesehen, wie eine Dame all ihren Schmuck ablegte, um damit die Zusatzwochen zu bezahlen“, erzählte ein Zimmermädchen. „Später hat sie in ihrem Zimmer gesessen und geweint. Sie wollte keinen treffen, denn niemand sollte bemerken, dass sie ihren Schmuck nicht mehr trug. Dr. Hope und Lehmann haben sich wieder gestritten, aber ich glaube, da steckt mehr dahinter.“ Ihre Stimme wurde ganz geheimnisvoll. „Aber ich sage nichts“, fuhr sie fort, denn sie hatte schon viel zu viel verraten.

Dr. Walther richtete manchmal nach dem Essen ein paar Worte an uns. Dabei ging es meist um die Einhaltung der Hygiene und um den Arbeitsablauf. „Liebe Gäste, liebe Genossinnen und Genossen“, begann er stets, aber diesmal gab es etwas Neues: „Jeden Tag nehmen wir neue Gäste auf, aber heute kommen außerdem fünf Pflegerinnen aus England zu uns. Damit ist das Fachpersonal vollständig und wir können die Klinik offiziell eröffnen. Zur Eröffnungsfeier wird unser Stabhalter Finkenzeller kommen, auch unsere Freunde vom Brandeck sind geladen.“ Ein heftiges Klopfen auf die Tische zeigte, wie sehr man sich freute. „Frieder, Sie holen die Frauen vom Bahnhof ab. Nehmen Sie den Kremser, der ist freundlicher. Von allen meinen Mitarbeitern erwarte ich, dass sie sich bei ihren Arbeiten besondere Mühe geben und von unseren Gästen, dass Sie an diesem Tag besonders pünktlich zu allen Verordnungen erscheinen. Die Kurgäste begeben sich nun bitte zur Ruhe. Später wird eine kleine Wanderung unter meiner Leitung angeboten. Wanderschuhe können an der Rezeption bestellt werden. Aus Nordrach kommen Schuster, die verschiedene Modelle anbieten. Machen Sie bitte Gebrauch davon. Ich wünsche einen guten Tag.“

 

Damit war mir mein Tagwerk vorgegeben und ich stand mit Ludwig auf, um den Kremser zu richten.

Als ich zum Stall kam, um Max und Moritz zu holen, schmückten unsere Mädchen den Wagen mit Zweigen und Blumen, als würden wir eine Fahrt zu Pfingsten unternehmen. Mir gefiel das sehr. Ich war nicht wenig stolz, als ich endlich mit dem geschmückten Wagen nach Biberach fahren durfte. Die Mädchen standen dann auch vor dem Doktorhaus und winkten mir zu, als ich vorbeifuhr.

Aus unserer Kolonie war doch wirklich schon etwas geworden. Wir hatten das Gasthaus Anker, in dem die Patienten wohnten, das Doktorhaus, ein weiteres Haus mit Terrassen, das wir Sonnenhaus nannten, und das Maschinenhaus mit der Wäscherei und dem Bügelzimmer und es sollten weitere Häuser gebaut werden. Unser Sanatorium war so etwas wie ein kleines Dorf in den Bergen geworden.

Am Teich schaute ich nach den Schwänen. Es waren einige da und sie sahen wunderhübsch aus mit ihrem weißen Gefieder auf dem dunklen Wasser.

Durch Nordrach fuhr ich betont langsam. Diesmal blieben die Menschen stehen und bestaunten meinen Wagen. In ihren Gesichtern standen viele Fragen, aber ich war natürlich zu verschwiegen um zu erzählen, wen ich abholen sollte. In Biberach gab es den üblichen Stau der großen Fuhrwerke am Bahnhof. Besonders die Zeller Papierfabrik und die Keramik hatten wichtige Lieferungen per Bahn bekommen. Ich hielt ein wenig abseits und sah mich nach meinen Fahrgästen um. Der Zug war schon angekommen, also mussten sie irgendwo sein. Richtig, dort am Bahnhofsgebäude stand eine Gruppe von Frauen in grauen Kleidern und mit weißen Hauben. Das mussten unsere Pflegerinnen sein! Ich zog die Bremse an, sprang vom Bock und ging zu ihnen.

„Möchten Sie zur Klink Dr. Walther?“, fragte ich. „Dort steht mein Wagen, um Sie abzuholen.“

„Ein geschmückter Kremser? So sind wir noch nie empfangen worden“, sagte eine der Frauen und trat vor. „Mein Name ist Mirjam. Bei Ihnen wird es nicht anders sein als in anderen Sanatorien, man redet sich mit dem Vornamen an.“ Sie reichte mir ihre Hand und drückte die meine fest.

„Ich bin nur der Kutscher“, sagte ich. „Niemand muss sich bei mir vorstellen. Es reicht, wenn Sie das gleiche Ziel haben wie ich.“

Mirjam wandte sich zu den anderen Frauen und sagte: „Dann steigt auf. Ich bin gespannt, ob die Luft in den Bergen besser ist als hier.“

„In Davos war es genauso“, sagte eine ältere Frau. „Im Dorf war es schlimm mit dem Rauch und dem Dampf der Bahn, aber auf dem Berghof war wunderbare klare Luft.“

„So ist es auch bei uns“, bestätigte ich und stieg auf den Bock. Ich löste die Bremse und wollte losfahren, da kamen zwei gut gekleidete Herren mit hohen Zylindern zu uns an den Wagen.

„Wir warten auf die schwarze Kutsche. Wissen Sie, wann sie kommt?“, fragte der größere der beiden. Der andere hustete schwer, nahm ein blaues Gefäß und spuckte hinein.

„Sonst benutze ich die schwarze Kutsche, um Patienten abzuholen“, sagte ich. „Heute bin ich ausnahmsweise mit dem Kremser gekommen zum Empfang unserer Pflegerinnen. Steigen Sie ein, ich nehme Sie mit.“ Ich schaute zu, wie die Herren einstiegen und man ihnen höflich Platz machte.

„Wir haben eine lange und beschwerliche Fahrt hinter uns“, erklärte der große Mann. „Für meinen Freund war es besonders anstrengend, weil er immer wieder stark husten musste. Es ist nicht das erste Sanatorium, das wir aufsuchen.“

„Dann steig ich zu dir auf den Bock“, sagte Mirjam fröhlich und setzte sich neben mich. „Fahr los!“ Sie sah mich mit ihren dunklen Augen an und lachte.

„In Ordnung!“, sagte ich. „Max und Moritz zeigt, was ihr könnt.“ Als hätten sie mich verstanden, setzten sich die beiden in Bewegung. Von Zell her kam eine Rauchwolke.

„Hier im Schwarzwald gibt es auch Fabriken?“, fragte Mirjam erstaunt. „Wir sind in den Schwarzwald gefahren, weil wir die Natur und ihre Heilkraft suchen.“ Von der Papierfabrik und mehr noch von der Keramik zogen schwarze Rauchfahnen das Tal hinunter. Viele Wagen fuhren mit Fässern schwer beladen auf der gleichen Strecke. Die Stadt Zell war ein Industriestandort.

„Die Zeller Keramik hat Beziehungen in alle Länder“, erklärte ich, „besonders nach England.“ Im Kremser hatte man unser Gespräch gehört und der große Herr rief nach vorn. „Wie schön, denn daher kommen wir. England im Schwarzwald, how nice.“

„Jakob Lenz hat die Firma gegründet“, fuhr ich fort.

„Lenz?“, fragte der Mann. „Ich denke, davon habe ich gehört.“

„Wir biegen nun in das Nordrachtal ein und lassen die Stadt Zell rechts liegen“, erklärte ich. „Sehen Sie die großen Höfe? Ab jetzt gibt es nur noch Felder, Wiesen und Kühe auf den Weiden.“ Mein Herz schlug schneller vor Freude, als ich das Tal so vor mir sah. Hier konnten die Männer sicher gesund werden.

„Du liebst dein Tal aber sehr“, stellte Mirjam fest. Übermütig schlug ich mit den Leinen auf die Rücken von Max und Moritz.

„Ich möchte nirgend wo anders leben“, antwortete ich.

„Warst du denn schon einmal in der Fremde?“, fragte Mirjam nachdenklich.

„Nein“, antwortete ich. „Ich komme von den Höhenhöfen am Mooskopf. Das ist der Berg am Ende des Tales. Dort habe ich Dr. Walther kennen gelernt und seitdem bin ich bei ihm und Dr. Hope.“

„Es ist schön, etwas aufzubauen“, sagte Mirjam und es klang so viel mit, was ich nicht verstand.

Ich sah sie an, sie erwiderte meinen Blick und lächelte. „Es tut gut, hier zu sein. Wir werden uns verstehen.“

Sie legte ihre Hand auf mein Knie und ich hielt ganz still, denn noch nie hatte ich eine Frauenhand auf meinem Knie gespürt. Es war auch nur ein Augenblick, dann zog sie ein bisschen verlegen die Hand wieder fort.

Einer der beiden Männer hinten im Wagen hustete heftig. „Mein Freund Holger ist schwer krank“, erklärte der Begleiter, „aber Dr. Walther soll ja rechte Wunder vollbringen.“

„So sagt man“, bestätigte eine der Frauen. „Ich habe mich nach Nordrach beworben, weil ich mit Frau Doktor Hope Adams zusammen arbeiten will.“ Ich lauschte auf das Klappern der Hufe und freute mich, als wir endlich in Nordrach einfuhren.

„Welch hübsches Dorf“, sagte Mirjam, „haben wir unser Ziel erreicht?“

„Nein“, antwortete ich. „Das ist erst das Dorf. Ab jetzt geht es in die Berge!“ Von St. Uldaricus klangen Glocken herüber.

„Geht man hier in die Messe?“, fragte Mirjam. „Wo Gott wohnt, kann Heilung nicht weit sein.“ Sie sagte das so selbstverständlich, als gäbe es da gar keine Fragen.

„Ich nehme selten an der Messe teil“, gestand ich. „Dr. Walther ist Sozialdemokrat. Ich glaube, er hält nicht viel von der Kirche.“

„Sozialdemokratie und Kirche sind aber kein Widerspruch“, sagte Mirjam. „Der Glaube ist oft das Einzige, was auch dann noch trägt, wenn alles andere zerfällt.“ Es schwang Trauer in ihrer Stimme mit.

„Dr. Walther will ein Paradies schaffen“, erzählte ich mit Begeisterung. „Da hat er sich viel vorgenommen“, sagte Mirjam. „Wie schnell war die Schlange im Paradies und alles war vorbei.“

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