Schwarzwalddavos

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Из серии: Lindemanns #214
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„Er will nicht so, wie er soll, Otto“, beklagte sie sich. „Unser Karl hat viele Ideen, aber die Schulbank ist nichts für ihn. Trotzdem muss er lernen und sein Abitur schaffen. Er muss erst noch diesen Hunger nach Wissen bekommen.“

„Der dich Ärztin werden ließ“, sagte Dr. Walther. „Ich weiß, wie schwierig das in Leipzig war. Wir hatten uns ja schon in London kennengelernt, aber du wolltest unbedingt studieren. Dabei braucht eine Frau kein Studium, um Frau zu sein.“

„Du bist manchmal wie alle anderen Männer auch“, meinte Hope vorwurfsvoll. „Wir Frauen können viel mehr, als man uns zutraut, wenn man uns nur lässt.“

„Ich weiß“, sagte Dr. Walther. „Da ist ja unser junger Freund aus Nordrach. Was bringst du diesmal für eine Botschaft?“ Er wandte sich an mich. Ich erhob mich, stellte die leere Schüssel ab, die ich immer noch in den Händen gehalten hatte, und ging zu den dreien.

„Der Stabhalter der Kolonie Nordrach bietet Ihnen das alte Gasthaus Anker zum Kauf an“, sagte ich. „Es steht zum Verkauf, denn die Flößer sind fort. Mein Vater und ich waren schon dort und haben uns alles angesehen. Natürlich muss viel erneuert werden, aber es ist weniger zu tun, als in der alten Fabrik.“

Dr. Walther sah mich nachdenklich an. „Der Vorschlag ist gut. Was meint ihr?“, wandte er sich an seine Frau und Lehmann.

„Es ist ein Brief vom Oberamtmann Rasina gekommen“, sagte Hope.

„Ich weiß“, antwortete Dr. Walther und strich sich durch den roten Bart. „Ich traf ihn selber. Er verwehrt uns, hier Gäste für längere Zeit aufzunehmen. Er möchte sich mit Lungenkranken keine Laus in den Pelz setzen, meint er.“ Dr. Walther war ganz entrüstet.

„Eine Laus in den Pelz“, ereiferte sich Lehmann. „Wie kann man so etwas sagen?“

„Er fürchtet, dass dann keine reichen Jagdgesellschaften mehr in seinen Wald kommen werden, wenn es hier eine TB-Klinik gibt“, meinte Dr. Walther. „So ganz Unrecht hat er damit nicht.“

„Aber es geht doch darum, die Seuche in den Griff zu bekommen“, sagte Lehmann. „Es geht doch um die Volksgesundheit!“

„Stimmt Karl“, sagte Dr. Walther, „das könnte auch unser lieber Bismarck gesagt haben.“

Lehmann wurde dunkelrot im Gesicht. „Wie kannst du so etwas sagen?“

„Man kümmert sich auch in Berlin um die Bekämpfung der Tuberkulose. Robert Koch und Gotthold Pannwitz, das sind große Ärzte, die sich sehr dafür einsetzen, die Krankheit zu besiegen. Ja, es geht um eine schlimme Seuche. Der Hunger und die schlechten Lebensbedingungen begünstigen die Ausbreitung. Das ist leider überall so. Hunger gibt es auch hier, oder Frieder?“ Er sah mich an und ich nickte.

„Hunger und Liebe erhalten das Getriebe“, wiederholte Lehmann und die drei lachten. „Der Hunger nach Wissen und nach Gerechtigkeit“, fuhr er fort. „Man hat mich in Offenburg verhaften wollen.“

„Vielleicht sollten wir unseren jungen Freund fragen, ob er uns beim Verteilen der Roten Feldpost hilft?“, meinte Dr. Walther zu mir gewandt. Ich nickte begeistert. „Dann kann unser Karl mehr für sein Abitur tun“, fuhr er fort.

Hope erhob sich und sagte: „Danke, Otto, dass du meine Bemühungen so unterstützt. Du hast mich immer verstanden.“ Sie schmiegte sich an ihren Mann. „Sag dem Vogt, dass ich komme und mit ihm über den Anker verhandeln werde, und richte deinem Vater aus, dass wir dich hier brauchen. Und nun lauf heim und berichte!“

Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. „Danke für die Suppe“, sagte ich.

„Danke auch für das Angebot und dass Sie den Anker kaufen wollen.“

Ich wandte mich um und lief, so schnell ich konnte, heim. Diese Botschaft war einfach zu schön, um sie für mich zu behalten.

Vater gestattete mir, zum Brandeck zurückzukehren, und ich fühlte mich rasch wie zu Hause. Zwar musste Dr. Walther seine Pläne begraben, in Hinterohlsbach eine Klinik für Lungenkranke zu errichten, aber nun taten sich ganz andere Möglichkeiten auf. Dr. Walther, Hope, Lehmann und Adolf Geck sprachen alles durch und dann riefen sie uns alle zusammen und Dr. Walther erklärte uns, wie er seine Pläne umsetzen wollte.

Wir standen in der großen Stube, denn es gab nicht genügend Stühle für alle und hörten seinem Bericht zu.

„Genossinnen und Genossen“, begann er, „alles klappt nur, wenn ihr einverstanden seid. Ohne Eure Zustimmung und tätige Mithilfe können wir die Klinik nicht aufbauen.“

Er machte eine Pause, strich sich durch seinen roten Bart und schaute uns an. Wir nickten bestätigend.

„Unsere liebe Hope“, fuhr er fort, „hat Kontakte nach England, die uns helfen können. Hope erklärst du bitte, was du vorhast?“

Hope trat vor. Sie war kleiner als Dr. Walther und stand ganz bescheiden vor uns. „Meine Lieben“, begann sie. „Ihr habt uns viel geholfen und vor allem mir. Ich merke, dass es mir von Tag zu Tag besser geht. In England gibt es viele Menschen, die lungenkrank sind. Ein Dr. Brehmer ist in den Himalaja gegangen. Dort ist er gesund geworden und hat ein Buch darüber geschrieben, welche positiven Auswirkungen das Höhenklima auf die Heilung der TB hat. Viele Engländer und Engländerinnen sind deshalb nach Indien gefahren, um dort Heilung zu suchen. Mein Mann hat nachgewiesen, dass der Schwarzwald ein ähnliches Heilklima hat wie der Himalaja und er ist viel leichter zu erreichen. Im British Medical Journal habe ich einen Artikel dazu geschrieben, der viel Beachtung fand. Ich habe drei kranke englische Freundinnen eingeladen, hier bei uns eine Kur zu machen. Werden sie gesund, dann werden auch andere zu uns kommen. Wir möchten deshalb hier im Haus einige Zimmer einrichten und alles für unsere Gäste vorbereiten. Seid ihr einverstanden?“

Dr. Walther stellte Burschen aus Ohlsbach als Arbeiter ein. Drei Zimmer wurden renoviert und schön hergerichtet. Der Umbau kostete sicherlich viel Geld und forderte von uns allen großen Einsatz, aber dann waren wir fertig. Hope kümmerte sich rührend um ihre beiden Kinder, Heinz und Mara. Die beiden waren rechte Pferdenarren wie ich auch und so lernten wir uns gut kennen.

Mittlerweile war es fast winterlich geworden, als Lehmann und ich noch einmal den Wagen anspannen konnten und nach Offenburg fuhren, um einzukaufen und vor allem wieder einmal die Zeitungen Vorwärts und der Sozialdemokrat zu verteilen, die aus Zürich bis Offenburg gekommen waren. Dort wurden sie bei Genossen in Kellern gelagert, aber eine Zeitung muss an den Leser! Das war unsere geheime Aufgabe und ich war mächtig stolz, dass ich bei der Verteilung der Roten Feldpost, wie wir sie nannten, helfen durfte.

So oft es ging, hatte ich schon beim Umbau kutschieren dürfen, und so überließ mir Lehmann die Leinen, als wir mit dem Leiterwagen das weite Tal hinunterfuhren.

In Ohlsbach wurden wir angehalten. Ein Polizist trat uns in den Weg. „Woher und wohin?“, fragte er Lehmann. Lederstrumpf war ausgesprochen höflich. „Wir kommen vom Brandeck und wollen nach Offenburg. Gebt uns bitte den Weg frei!“

Da kam aus einem Haus ein beleibter Herr mit Glatze und der Polizist trat höflich zur Seite.

„Oberamtmann Rasina“, stellte er den Mann vor.

„Wir kennen uns“, sagte Lehmann und kniff die Augen zusammen. „Was ist es diesmal, Herr Oberamtmann?“, fragte er durch die Zähne. Er war sichtlich bemüht, höflich zu sein.

„Wo habt ihr die Zeitungen versteckt?“, fragte Rasina grimmig. „Ich weiß, dass ihr da oben diese Zeitungen druckt und dann überall verteilt. Ich werde die Druckerpresse finden und dann gnade euch Gott. Gendarm, durchsuche er den Wagen!“ Da war nun wirklich nichts zu untersuchen, denn wir hatten einen offenen Leiterwagen ohne Ladung. Ich musste herzlich lachen und bekam einen sehr bösen Blick von Rasina. „Nichts“, stellte der Polizist nach kurzer Untersuchung fest. „Der Wagen ist sauber!“

Ranisa trat näher und sagte: „Ihr habt mächtig umgebaut, aber ich lasse nicht zu, dass in Hinterohlsbach Lungenkranke behandelt werden.“

„Das ist unser Privatgelände“, erklärte Lehmann. „Wir haben die notwendigen Genehmigungen.“

„Will der Geck jetzt Gastwirt werden?“, fragte Rasina. „Wird Dr. Walther nach Nordrach gehen? Man hört so dies und das. Ich wäre froh, wenn er Ohlsbach verließe.“

„Ihr wärt froh, wenn wir alle gingen“, bestätigte Lehmann.

„Nicht ganz“, antwortete Rasina. „Ihr bringt Geld und Arbeit ins Tal. Das ist mir auch von Genossen recht.“ Damit gab er uns den Weg frei.

„Schleimer!“, schimpfte Lehmann. „Wenn er Geld riecht, ist ihm alles recht, aber nur dann, ein ekelhafter Mensch!“

Ich konnte ihm nur Recht geben, aber nun kamen wir auf eine Straße mit vielen Fuhrwerken und ich musste meinen schönen Platz auf dem Bock an Lehmann abtreten. So fuhren wir nach Offenburg hinein und auf den großen Markt. Lehmann besorgte alles und ich trug die schweren Kisten und Kästen zum Wagen und lud auf. Wir arbeiteten hart, denn der große Haushalt auf dem Brandeck brauchte sehr viel. Gerade hatten wir unseren Wagen mit Kisten voller Obst und Gemüse beladen, da ertönte Militärmusik. Die Menschen ließen alles stehen und liegen und liefen begeistert zur großen Straße am Markt.

„Das musst du gesehen haben, Frieder“, sagte Lehmann. „Lass den Wagen stehen, zieh die Bremse an, gib den Pferden den Hafersack, das wird sie beruhigen, und dann komm.“

Ich versorgte Pferd und Wagen und folgte ihm. Die Militärkapelle war mittlerweile näher gekommen. Voran schritt ein Mann in blauer Uniform mit Pickelhaube und warf einen langen silbernen Stock immer wieder in die Höhe.

„Der Tambourmajor“, erklärte Lehmann. „Er gibt den Ton und den Marschtritt an. Achte mal auf den Gleichschritt. Die hellen Töne kommen vom Schellenbaum dort drüben.“

Ich war fasziniert von der Disziplin, mit der die Musiker marschierten, und von den Trommeln und Trompeten. „Es ist verrückt“, meinte Lehmann, „aber die Trommeln und die Musik reißen beinahe jeden mit. Schau dir die Mädchen an, wie sie den Uniformen nachlaufen!“ Hinter der Musik marschierten junge Soldaten, das Gewehr über der Schulter, die Augen streng geradeaus gerichtet.

 

„Menschen hören auf zu denken, wenn sie marschieren“, stellte Lehmann fest.

„Ein Hoch auf Deutschland!“, rief jemand und ein hundertfaches Hurra antworte ihm. „Deutschland, Deutschland über alles“, begann ein Mann neben mir und mit Inbrunst stimmten alle ein.

„Komm“, schlug Lehmann vor, „wer weiß, was die Menschen in ihrer Begeisterung noch alles tun. Militär ist gefährlich!“

Nachdenklich gingen wir zu unserem Wagen zurück. Lehmann kletterte auf den Bock, ich nahm den Pferden den Hafersack ab und prüfte das Geschirr. Es war leicht durcheinander geraten. Ich richtete alles, damit es die Pferde nicht drückte. Dann sprang ich auf und wir fuhren los.

„Jetzt fahren wir zum Genossen Finkzeller“, meinte Lehmann. „Er ist Schreiner und hat die Betten gerichtet.“ Er grinste und ich dachte mir, dass darin wohl auch die Zeitungen versteckt sein würden.

Der Weg war nicht weit und bald kamen wir an der Werkstatt an. Der Meister selber kam heraus. „Genossen“, sagte er, „es ist alles vorbereitet. Meine Gesellen werden aufladen, kommt auf ein Bier herein.“

Das ließen wir uns nicht zweimal sagen und während unser Wagen immer höher beladen wurde, tranken wir unser Bier.

„Genosse Lehmann“, sagte Finkzeller, „man hört, dass ihr ausgebaut habt. Bekommt Hinterohlsbach nun doch eine Klinik?“

„Keine Chance“, antwortete Lehmann. „Aber vielleicht führt der Weg nach Nordrach. Dort steht das Gasthaus Anker zum Verkauf. Dr. Walther plant ein großes Vorhaben. Aber noch ist alles in der Schwebe.“

Finkzeller war mit der Auskunft zufrieden. „Der Doktor meint es gut und vor allem seine Hope. Wer hätte gedacht, dass Frauen Medizin studieren können!“

Seine Frau kam zu uns und hörte den letzten Satz. „Mein Lieber“, sagte sie streng, „wir können eine ganze Menge!“ Man hörte schon an diesem einen Satz, wer im Hause Finkzeller das Sagen hatte.

„Alles bekommen?“, fragte sie Lehmann. „Ich denke schon, gnädige Frau“, antwortete er.

„Genossin“, stellte sie richtig. „Bei den Sozis gelten die Frauen doch etwas.“ Sie lächelte Lehmann an, denn der junge Mann gefiel ihr. „Dann los!“, kommandierte sie. Wir bedankten uns und begaben uns auf den Heimweg.

„Nun bist du an der Reihe“, sagte Lehmann geheimnisvoll. „Steig nach hinten und such die Zeitungen.“

Ich gehorchte und hielt bald einen Stapel Vorwärts in der Hand. „Spring vom Wagen und biete den Leuten deine Zeitung an. Sie kostet nichts, aber wenn dir jemand etwas gibt, dann nimm es an.“

Schnell sprang ich vom Wagen und hielt den Männern, die mir begegneten, eine Zeitung hin. Ich war überrascht, wie viele sie nahmen und rasch in ihren Taschen verschwinden ließen. Der eine oder andere gab mir eine Münze und bedankte sich. Sehr schnell war mein Stapel ausgeteilt und ich holte neue Exemplare. Lehmann fuhr langsam, als sei nichts Besonderes, und ich sprang hin und her und verteilte Zeitungen. „Achtung“, rief Lehmann plötzlich und ich verstand sofort. Er gab den Pferden die Peitsche und fuhr eilig davon. Ich verschwand in einem Hauseingang. Mich unsichtbar machen, das konnte ich mühelos. Zwei Polizisten gingen vorbei und merkten nichts. An der nächsten Straßenecke wartete Lehmann auf mich und ich sprang auf den Wagen, um neue Zeitungen zu holen. „Genug für heute“, flüsterte Lehmann, „sonst haben wir nichts mehr für die Genossen oben!“

In Ohlsbach ließ man uns passieren. Rasina trat aus seinem Haus. „Grüßt mir den Sozigeck!“, rief er uns zu. „Ich werde die Druckerpresse schon finden!“ Damit trat er ins Haus zurück, Lehmann gab den Pferden die Peitsche und wir kamen bald am Brandeck an.

Der Sommer verging mit viel Arbeit. Im Oktober zog Lehmann wieder zu seinem Vater nach Offenburg, um in der Gerberei zu helfen und die Schule zu besuchen, aber mit der Versicherung, im Frühjahr mit dem Abitur in der Tasche zurückzukommen. Dr. Walther ließ ihn gerne gehen. Hope verabschiedete sich in einem langen Gespräch von ihm. Sie hätte ihn gern dabehalten und nicht nur, weil sie mit ihm ihren Lieblingsschüler verlor. Heinz fürchtete, dass sich nun die Mutter mehr auf ihn konzentrieren würde, aber da war auch die kleine Mara, die sehr an ihrer Mutter hing.

Viel eher als im Tal deckte Schnee unser Haus zu und die Pferde konnten den steilen Weg nach Ohlsbach nicht mehr meistern. Wir waren damit zufrieden. Nun wurde mehr gelernt! Hope unterrichtete Heinz. Hin und wieder kam auch Helene, das Kindermädchen, mit der kleinen Mara, die sich eifrig bemühte zu krabbeln. Dr. Walther studierte medizinische Fachliteratur. „Ich bin praktischer Arzt“, sagte er, „und muss nun zum Facharzt für Lungenkrankheiten werden, nur dann kann ich den Menschen helfen.“ Er hatte sich eine große Anzahl von Büchern besorgt, in denen er eifrig las. Oft hörte ich ihn klagen, dass die modernen Methoden doch wohl nicht das Richtige seien. „Gutes Essen und frische Luft sind zwar notwendig“, meinte er, „aber man kann doch die Patienten nicht nur liegen lassen.“

„Du kennst die Schwäche nicht, die dich bei der Tuberkulose überfällt“, sagte Hope in einem Gespräch. „Man ist einfach unfähig, körperliche Arbeit zu leisten! Ich bin froh, dass ich diese fürchterliche Schwäche überwunden habe.“

„Man muss allen Menschen die Natur nahe bringen“, meinte Dr. Walther. „Sie müssen erfahren, wie schön die Welt ist. Die meisten sehen nur Arbeit, wenn sie in den Garten oder über die Felder oder durch den Wald gehen. Die Menschen sind von der Arbeit so eingenommen, dass sie vergessen zu leben.“

„Wir haben auch erst hier gelernt, nicht ständig nur zu arbeiten“, sagte Hope. „In Frankfurt hattest du den ganzen Tag über deine Patienten und mir ging es genauso. Anfangs fiel es mir sehr schwer, ohne meine Patienten zu leben und zur Ruhe kommen zu müssen. Aber die Krankheit hat mich dazu gezwungen und ich habe einen ganz neuen Blick auf das Leben bekommen. Der Schwarzwald ist wirklich herrlich im Winter. Gern würde ich mehr hinausgehen, aber ich wage das noch nicht.“

An schönen Wintertagen ließ der Doktor Max und Moritz vor den Schlitten spannen und dann fuhr die ganze Familie gut in Decken gehüllt durch den Winterwald. Man kannte den Doktor und hatte auch Vertrauen zu ihm gefasst. Deshalb waren wir auch auf den anderen Höfen willkommen. Manchmal kam jemand aus dem Haus gelaufen, wenn wir vorbeifuhren, und rief: „Herr Doktor, unsere Mutter liegt so schwer“ oder „die Kinder haben Fieber!“. Er fuhr nie vorbei und meist stieg auch Hope mit aus. Heinz wurde dann gut verpackt bei mir auf dem Schlitten gelassen, denn die Frau Doktor fürchtete die Ansteckung. Ich war froh, wenn es dann endlich hieß: „Fahr weiter, Frieder, wir sind wieder da!“ Manchmal lief uns jemand nach und wollte sich mit Geld bedanken, aber der Doktor nahm nie etwas an. „Ich bin Arzt geworden um zu helfen“, sagte er dann sehr energisch, „ihr habt selbst zu wenig!“ Hin und wieder aber nahm er schon mal einen Schinken oder eine Wurst entgegen, wenn er sicher war, dass die Leute genug hatten. Oft gab er den so erworbenen Schinken an arme Leute weiter, die sich gar nicht genug dafür bedanken konnten. So war er, unser Doktor, und so war auch seine Frau. Darin waren sie sich einig.

Geck war viel in Offenburg, denn der Alt-Offenburger und die Bücher, die er verlegte, brauchten nun einmal auch die kundige Hand des Meisters. Hope hatte ihm zahlreiche selbst verfasste Artikel mitgegeben. In einem hatte sie sich energisch gegen das enge Korsett ausgesprochen, das die Frauen in der Stadt trugen. Keine Bauersfrau hätte sich so schnüren lassen. Aber Hope betonte, dass das Korsett die Gesundheit der Bürgerfrauen bedrohe. Geck nahm den Artikel mit und versprach, ihn zu veröffentlichen. Auch die ersten Arbeiten am Frauenbuch wollte er in einer Broschüre herausgeben, die sicherlich gut verkauft werden konnte.

Walthers lebten von dem Geld, das der Verkauf ihres Hauses und der Praxis in Frankfurt eingebracht hatten, und sie hofften, dass jemand ihnen Geld leihen würde, um in der Kolonie eine Klinik für Lungenkranke aufbauen zu können. Die Ausflüge in den Wald und die langen Wanderungen, die der Doktor unternahm, hatten ihn auf ganz neue Ideen gebracht, die gefährliche Krankheit zu besiegen. Dr. Walther fasste seine Vorschläge zur Bekämpfung der Tuberkulose zusammen und Geck sollte sie drucken, damit der Doktor für seine Idee werben könne.

Immer wieder hörte ich aus den Gesprächen, dass der Doktor und Hope meinten, dass niemand einem Sozialdemokraten das notwendige Geld vorschießen würde. Das Haus, in dem wir wohnten, wurde vom Verleger Adolf Geck nur verwaltet, denn offiziell gehörte es dem Fabrikanten Singer. Dieser Fabrikant aus Berlin sympathisierte mit den Sozialdemokraten, aber auch er war nicht der Mann, der genügend Geld für den Bau einer Klinik aufbringen konnte. Er unterstützte die Ideen von Dr. Walther und Hope, aber er sah sich nicht in der Lage, ein solches Projekt zu unterstützen.

Dr. Walther legte großen Wert darauf, dass wir die Hauptmahlzeiten alle gemeinsam in der großen Stube einnahmen. Das war sonst nirgends üblich, denn das Gesinde aß normalerweise in der Küche, was vom Herrentisch übrig geblieben war. Aber Doktor Walther sagte: „Wir sind Genossinnen und Genossen. Das bedeutet, wir sind Tischgenossen und wir genießen unser Essen gemeinsam. Wir sind alle gleichwertig. Jeder hat seine Aufgabe und seine Pflichten, aber niemand ist deshalb mehr oder weniger wert als der andere.“ So durften wir am Tisch des Doktors mitessen. Das Einzige, was ich auf dem Brandeck wirklich vermisste, waren die Gottesdienste. Wir fuhren nie nach Ohlsbach zur Kirche hinunter. Dr. Walther sah, dass ich mich vor dem Essen bekreuzigte und manche von den Mägden das auch taten. Er sprach nie darüber, aber ich merkte schon, dass er das nicht gerne sah. So ganz habe ich unseren Doktor darin nicht verstanden, denn in seinem Wesen war er ein wahrer Christenmensch.

Es wurde immer ruhiger auf dem Brandeck. Zu Weihnachten verließen viele von uns die Villa Strehlen, und kehrten nach Hause zurück. Das war üblich. Nach Weihnachten kam das Gesinde wieder, um sich für ein neues Jahr zu verpflichten. Ich hatte auch frei und wanderte durch den verschneiten Wald zu unserem Höhenhof. Mir ging das Herz auf, als ich die Kolonie wiedersah. An der alten Fabrik blieb ich lange stehen. Ob die schwarze Kutsche noch darinnen stand? Ich war Kutscher geworden. Der eine Teil meines Traumes war in Erfüllung gegangen, aber der andere noch nicht. Die Kolonie schlief noch immer und der dicke Schnee sah aus, als habe sie sich die Decke über den Kopf gezogen. Sie schlief tief!

Meine Eltern und mein Bruder freuten sich sehr, als ich kam, denn ich hatte einiges mitgebracht. Dr. Walther hatte sich nicht lumpen lassen und mir Schinken und Würste mitgegeben, damit wir auch auf unserem Hof gut und reichlich essen könnten! „Du weißt, wie wichtig das ist!“, hatte er mich ermahnt.

Natürlich kamen die Geschwister und Freunde. Für einen Abend hatten wir reichlich zu essen und zu trinken. Wir ließen Dr. Walther und Hope hochleben. Zur Christvesper zogen wir gemeinsam zur Kirche St. Uldaricus nach Nordrach hinunter. Man sah uns dort sonst nicht besonders gerne, die Armen von der Kolonie, aber wir gehörten auch zur Gemeinde. Bei der letzten Beichte hatte mich der Priester gefragt, ob ich tatsächlich bei den Atheisten wohnen würde. Ich tat so, als hätte ich ihn nicht verstanden, aber ich wusste schon, was er meinte, und so fragte er mich nur, ob ich auch meine Gebete verrichteten würde und ob ich ein treuer Christ geblieben sei. Er sprach mich frei und gab mir ein paar Vaterunser auf. Ich glaube, es ist ihm schwer gefallen, mich so zu entlassen.

Als wir zum Altar gingen, um am Tisch des Herrn die heilige Kommunion zu empfangen, dachte ich an Dr. Walther und Hope und wie anders wir bei ihnen lebten, wo wir am Doktortisch so selbstverständlich Genossen waren. Für einen Augenblick sehnte ich mich zurück auf das Brandeck.

Nach Weihnachten kehrte ich zurück und war erstaunt, den Doktor nicht anzutreffen. „Er ist nach London gefahren“, informierte mich Hope. „Papa will Geld holen“, ergänzte Heinz. Hope strich ihm durch das Haar und sagte. „Das wird unseren Frieder nicht interessieren. Schön, dass du zurück bist. Wie war es in Nordrach?“

„Vater lässt für den Schinken und die Würste danken“, antwortete ich. „Wir waren zu Weihnachten in der Kirche.“

 

„So wart ihr?“, fragte Hope ganz abwesend. „Hier war es sehr einsam“, fuhr sie fort. „Ich bin froh, wenn wir Gäste haben. Mir fehlt die Arbeit.“

„Und Ihre Arbeiten am Frauenbuch?“, erkundigte ich mich, um sie aufzumuntern. Sie lachte. „Was weißt du vom Frauenbuch?“

„Ich weiß, Frau Doktor, dass Sie den Frauen helfen wollen. Ich weiß, wie schwer sie es haben, wenn auf unseren einsamen Schwarzwaldhöfen Kinder zur Welt kommen“, antwortete ich. „Meine Mutter ging auch zur Nachbarin, um bei Geburten zu helfen. Die Frauen stehen sich gegenseitig bei. Aber wie oft ist ein Kind dabei gestorben.“

Hope sah mich nachdenklich an. „Du hast Recht, Frieder. Wir Stadtmenschen meinen immer, es müsse überall so sein wie in der Stadt, wo Geburten im Haus stattfinden und die Männer dabei nichts zu suchen haben. Natürlich weißt du als Bauernbursche über Geburt und Kindbett Bescheid. Ich möchte den Frauen gerne helfen, aber solange ich nicht gesund bin, darf ich nicht als Ärztin praktizieren und später nur in der eigenen Klinik unter der Leitung meines Mannes, dabei würde ich als ausgebildete Ärztin lieber eine eigene Praxis führen. Wir Frauen könnten gleichwertig neben den Männern stehen, aber das ist so schwer durchzusetzen.“

Heinz schmiegte sich an seine Mutter und sagte: „Ich bin froh, dass du eine Frau bist, Mama. Männer sind so furchtbar streng.“

„Aber der Frieder doch nicht“, meinte Hope.

Ich lachte herzlich. „Mama, darf ich mit Frieder in den Stall gehen? Er muss doch nach Max und Moritz sehen, ob wir die beiden ordentlich versorgt haben“, fragte Heinz.

„Natürlich“, antwortete Hope. „Geht nur in den Stall!“ Damit entließ sie mich und ich war froh, wieder in meinem Wirkungskreis zu sein.

Eines Morgens ließ Hope den Schlitten anspannen. Es war sehr kalt, aber die Sonne schien und die Luft hier oben war klar. Die Kinder waren in Felle gehüllt und saßen hinten mit Helene. Hope saß gut verpackt neben mir. Sie hustete fast gar nicht mehr. „Dann mal los“, sagte sie und ich berührte Max mit der Peitsche. Der Schnee war für die Hufe griffig genug und Max freute sich, endlich einmal wieder loslaufen zu können. Mara und Heinz jauchzten vor Vergnügen. So fuhren wir auf den Wegen, welche die Bauersleute mit einem Schneepflug gebahnt hatten. Wenn wir an einem Gehöft vorbeikamen, grüßte man uns höflich. Man kannte uns, denn der Verwalter vom Haus Strehlen kaufte überall auf den Bauernhöfen. Das verband uns mehr, als die Sozialistengesetze uns trennen konnten. Ich freute mich sehr daran und auch Hope schien es zu genießen. Sie sagte nichts und erwiderte die Grüße stets nur mit einem Winken.

An einem der Höfe erkannte uns eine junge Frau und kam eilig angelaufen. Ich zügelte Max und hielt an. Sie trat zu Hope und weinte. Schluchzend erzählte sie: „Mein Mann und ich haben vor kurzem geheiratet, Frau Doktor.“

Hope schälte sich aus ihren Decken. „Ich komme mit Ihnen“, sagte sie. „Hier können wir das nicht besprechen. Frieder fahr auf den Hof. Heinz, ihr bleibt in den Decken, Helene achte auf Mara. Es dauert nicht lange.“

Ich fuhr den Schlitten zu dem nahe gelegenen Haus. Hope sprang herunter und folgte der jungen Frau ins Haus. Wir warteten geduldig, aber nach einiger Zeit wurden die Kinder doch unruhig. „Wie wäre es mit einer Schneeballschlacht?“, schlug ich vor. Heinz war begeistert und, ehe ich vom Bock steigen konnte, trafen mich schon die ersten Bälle. „Vorsicht Heinz!“, rief ich, „der Max spielt nicht mit!“ Er wartete, bis ich vom Bock gesprungen war, aber dann fiel er über mich her und ich hatte alle Mühe, mich zu wehren.

Ich war froh, als Hope endlich wiederkam. Sie sah sehr nachdenklich aus. „Heinz, ab in den Schlitten, wir fahren weiter!“

Ich war froh, dass sie nicht mit mir schimpfte, denn Heinz sah aus wie ein Schneemann. Helene klopfte den Schnee ab und der Bub stieg ein und auch Mara wurde wieder gut eingepackt. „Schnell nach Hause“, sagte Hope, denn Heinz musste rasch aus seinen nassen Sachen.

Schnell kontrollierte ich die Hufe von Max, ob sich nicht Eis gebildet hatte, aber alles war in Ordnung. Dann sprang ich auf den Bock und wendete den Schlitten.

Hope war zunächst sehr schweigsam. Plötzlich sagte sie: „Damit das ganz klar ist, Frieder. Ich habe nicht praktiziert, ich hatte nur ein Gespräch mit einer Bekannten!“

„Ich verstehe, Frau Doktor“, antwortete ich. Sie nickte mir zu und freute sich daran, dass Max so munter den Schlitten zog. Nachdenklich flüsterte sie zu sich selbst: „Es ist schlimm, dass die jungen Leute so wenig wissen. Weder Mann noch Frau! So verpassen sie das Schönste im Leben!“ Dann wandte sich Hope zu mir und sagte leise: „Es ist gut, dass wir heimfahren, denn heute kommt mein Mann wieder.“ Erfreut sah ich sie an und sie nickte. „Hoffentlich hat er Erfolg gehabt.“

Hope hatte Recht, der Doktor erwartete uns schon. Er kam selber an den Schlitten, hob seine Frau vom Bock und küsste sie zärtlich, aber sie hatte nur eine Frage: „Hast du den Kredit bekommen?“ Er drückte sie so fest, dass sie bat: „Lass mich los!“ Dann sagte er: „Ja, ich habe das Geld!“

Nun jubelten auch die Kinder und wollten in den Arm genommen werden. Martha kam eilig aus dem Haus. „Die Kinder sind ja ganz nass“, schimpfte sie. „Helene, hast du nicht aufgepasst?“

„Der Frieder wollte unbedingt eine Schneeballschlacht machen“, verteidigte sich Helene.

Ich wartete, bis alle im Hause waren, dann fuhr ich zum Stall und schirrte Max aus. Sofort kam Gabriel, der Gendarm, zu mir, als habe er nur auf uns gewartet, und fragte: „Frieder, die Frau Doktor soll jemanden behandelt haben. Weißt du etwas darüber?“

„Nein“, antwortete ich, „sie hat nur ein Gespräch geführt.“

„Hat sie etwas dafür bekommen?“

Ich schüttelte den Kopf. „Der Doktor ist aus England zurück“, flüsterte er. „Man sagt, er habe nun genug Geld, um Nordrach zu kaufen.“ Ich sah Gabriel an, bemerkte Gier in seinen Augen und meinte: „Sicherlich nicht das ganze Dorf.“

„So geht ihr fort?“, fragte er neugierig weiter.

Ich holte tief Luft, um ihm ausführlich zu antworten, aber er sagte nur: „Ich weiß schon, ich sage nichts!“ Damit war er schon wie ein Schatten verschwunden.

Ruhig versorgte ich Max, schaute kurz nach Moritz, der in seiner Box schnaubte und auch gern gelaufen wäre. Mein Herz klopfte vor Freude bis zum Hals. Der Doktor würde etwas kaufen können! Das Gasthaus Anker und vielleicht sogar die alte Fabrik? Die Kolonie hatte ihren Prinzen gefunden, der sie aus dem Schlaf erlösen konnte.

Nach einigen Tagen kam Dr. Walther zu mir in den Stall, als ich den Pferden das Heu gab. „Frieder, spann den Max an. Wir fahren zur Kolonie Nordrach.“

„Darf ich den Moritz nehmen?“, schlug ich vor, „er ist in den letzten Tagen zu wenig gelaufen.“

„Wie du meinst“, antwortete Dr. Walther „In einer Stunde geht es los. Zieh dich warm an, es ist sehr kalt draußen und ich weiß nicht, wie lange du auf dem Bock sitzen musst.“

Ich nickte, denn das kannte ich ja. Natürlich musste ich als Kutscher draußen warten, wenn die Herrschaften geschäftlich verhandelten. Mir war das recht, denn es war gar nicht gut, zu viel zu wissen.

Ich richtete Moritz und spannte ihn vor den Schlitten, dann fuhren wir vor das Haus. Es dauerte nicht lange, bis Dr. Walther kam. Seine Frau folgte ihm bis an den Schlitten. „Du willst wirklich das Gasthaus kaufen und die Säge dazu?“, fragte sie ihn sicher nicht zum ersten Mal.

„Meine liebe Hope“, antwortete Dr. Walther. „Ich will eine Klinik aufbauen, in die Gäste aus aller Welt kommen sollen. Da brauche ich elektrischen Strom und die neueste Technik. Mit guter Luft allein kann ich nicht werben.“

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