Schwarzwalddavos

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Из серии: Lindemanns #214
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Wir fuhren an den alten Floßanlagen entlang und ich erklärte, dass hier nur noch Holz getriftet würde, um den Holzhunger der Zeller Fabriken zu stillen.

„Wie weit ist es noch?“, fragte Mirjam, als die Straße anstieg und die Pferde sich mächtig anstrengen mussten.

„Zwischen dem Dorf und der Kolonie liegen sechs Kilometer“, antwortete ich.

„Aber innerlich viel mehr“, meinte Mirjam.

„Wie meinen Sie das?“, fragte ich, denn seit ihre Hand auf meinem Knie gelegen hatte, brachte ich das kameradschaftliche Du nicht mehr über die Lippen. Sie hörte es wohl und fragte: „Wie heißt du eigentlich?“

„Frieder Spitzmüller“, antwortete ich. „Ist Ihnen nicht aufgefallen, wie uns die Leute in Nordrach angesehen haben? Sie hatten Angst. Ich habe gehört, wie jemand sagte: Wen will er denn noch alles herbringen?“

„Ich kenne das“, sagte Mirjam. „Wir werden Freunde brauchen.“

„Ich verstehe“, sagte ich und mein Herz klopfte, als sie mich so ansah. Sie lachte laut.

„Das ist gut“, sagte sie dann, „genauso habe ich es gemeint! Was für ein hübscher Teich mit Schwänen!“ Sie zeigte zu unserem Teich hinüber.

„Nur diejenigen Schwäne bleiben, die zu schwach sind, um auf dem kleinen Teich zu starten“, erklärte ich, denn gerade versuchte ein Schwan Höhe zu gewinnen und musste aufgeben.

„So ist das mit dem Paradies, Frieder“, sagte Mirjam. „Ich denke, dort wohnt der Doktor!“

Ich fuhr vor das Doktorhaus und zog die Bremse an. Mirjam sprang vom Wagen. „Ich melde uns eben an“, sagte sie, als sei sie schon immer hier gewesen.

„Die Patienten müssen sich im Gästehaus Anker anmelden“, erklärte ich. „Dort ist die Verwaltung.“

Der große Mann half seinem Freund vom Wagen und ich kümmerte mich darum, das Gepäck abzuladen. Dr. Hope selber kam in Begleitung von Mirjam aus dem Doktorhaus. Ich sah es mit Bedauern, denn nun trennten sich unsere Wege. Hope begrüßte die Schwestern wie alte Bekannte. Vom Gasthaus Anker kam ein Diener, holte das Gepäck der beiden Männer und führte sie ins Haus. Ich ging zu Max und Moritz, die schnaufend dastanden. „Ihr habt eure Sache gut gemacht. Es gibt eine Extraportion Futter!“, lobte ich sie. Der Wagen war abgeladen, ich griff in die Zügel und führte die beiden Pferde zum Stall. Für heute hatten sie genug geleistet.

Am Abend sahen wir uns alle beim gemeinsamen Essen wieder. Die Pflegerinnen saßen mit den Gästen zusammen am Doktortisch. Die beiden Engländer gehörten schon ganz und gar dazu.

Einige Tage später lud Hope zu einem Tanzabend ein. „Heute Abend kommen Musiker“, erklärte Hope so laut, dass wir es alle hörten. „Für unsere Kurgäste veranstalten wir einen Tanz. Natürlich sind alle eingeladen.“ Die Mädchen an unserem Tisch kicherten. „Ich möchte gern mal sehen, wie du tanzt“, neckte mich eine von ihnen. „Der Frieder wird sicher nicht tanzen“, sagte ich und erntete erst recht einen Lacherfolg.

Eigentlich hatte ich gar nicht vor hinzugehen, aber als die Musik erklang, war ich doch neugierig, deshalb wusch ich mich sorgfältig, denn Dr. Walther legte auf Sauberkeit größten Wert, zog ein frisches Hemd an und wagte es, in den Essraum zu gehen. Für die Musiker hatte man ein kleines Podium errichtet. Dort saßen drei Geiger und ein Klarinettenspieler. Für unsere Patienten waren Tische vorbereitet und Säfte standen in Flaschen bereit. Natürlich hatte man auch Zigarren hingelegt, denn die Herrschaften wussten eine gute Zigarre zu schätzen. Hope kam mir entgegen, als ich eintrat, und sagte: „Frieder, gut dass Sie kommen. Bitte versorgen Sie heute Abend unsere Gäste zusammen mit den Helferinnen!“

„Selbstverständlich, Frau Doktor“, erwiderte ich und deutete eine Verbeugung an.

„Aber Frieder“, schalt mich Hope, „Sie sind doch ein Genosse und nicht ein Diener.“ Sie lachte bei diesen Worten. „Ich bin gespannt, wie sich unsere Gäste verhalten werden“, fuhr Hope so ganz in Gedanken fort. „Es ist schwer, den Tod in sich zu spüren und doch mit aller Kraft leben zu wollen. Das Leben hat eine ungeheure Eigendynamik. Dagegen kann man sich nicht wehren. Es will leben. Nicht ich will leben, sondern es will leben. Aber Frieder, mit was für Gedanken belaste ich Sie da?“ Sie ging rasch fort, aber ich verstand sie. Ich wusste doch um ihre Zuneigung zu Lehmann, um ihren Kampf für das eigene Leben, für die Ausübung ihres Berufes, ihre Rolle als Frau und Mutter und dem unstillbaren Verlangen nach Liebe. Zu oft hatte ich einen Blick zwischen ihr und Lehmann aufgefangen und sie manchmal verwirrt aus dem Büro kommen sehen. Ich war doch selber heute ein wenig durcheinander und nur, weil neben mir eine Frau gesessen hatte, die mehr in mir sah als nur den Kutscher.

Der Saal füllte sich. Es waren etwa dreißig Kurgäste gekommen. Sie gingen außerordentlich höflich miteinander um. Die Herren richteten den Damen die Stühle und nahmen erst dann Platz. Ich ging umher, bot Wasser und Saft an, füllte die Gläser, half auch die eine oder andere Zigarre anzuzünden. Die Musik spielte leise und trotz allem lag eine spürbare Spannung in der Luft.

Plötzlich stand eine Frau auf und rief den Musikern zu: „Spielt, ich will tanzen!“ Die Männer ließen sich das nicht zweimal sagen und begannen eine schnelle Weise. Sie tanzte, dass ihr Rock flog und man ihre schlanken Beine bis zu den Knien sehen konnte. Ihre Begeisterung riss die anwesenden Männer mit. Sie standen auf und klatschten. Einige Frauen schüttelten entrüstet den Kopf, aber sie ließ sich nicht abhalten und tanzte, bis ein fürchterlicher Hustenanfall sie fast von den Beinen riss. Es war schrecklich zu sehen, wie sich ihr schöner Körper unter dem Husten krümmte und wand. Mirjam war sofort zur Stelle und führte sie zur Seite. Ich sah, wie Dr. Hope sich um die beiden kümmerte. Die Musik verstummte, aber da trat Dr. Walther ein. „Spielt weiter!“, rief er den Musikern zu, „wir wissen doch, dass wir hier nicht alle gesund sind!“ Damit brach der Bann und die Männer begannen wieder zu spielen. Bald fanden sich einige Paare und tanzten. Es kam eine heitere Stimmung auf, gelöst sprach man miteinander und drehte sich im Reigen. An einem Tisch fanden sich einige Herren zum Kartenspiel zusammen. Die Summen, die genannt wurden, waren erheblich. Aber selbstverständlich hielt man mit. Man trank, man rauchte, man tanzte und hustete. Ich ging hin und her und schenkte Getränke ein. Bei den Damen und Herren waren die Wangen gerötet oder die Köpfe sehr heiß geworden. „Es geht um mein Leben“, rief plötzlich einer der Herren am Spieltisch. „Soeben habe ich alles verloren. Ich werde abreisen müssen!“ Er stand verzweifelt auf und verließ den Saal. Einige Männer lachten albern und die Damen kicherten in ihre Taschentücher. Die Musik spielte weiter und der Tanz wurde wieder heftiger. Ich sah Dr. Hope und Dr. Walther nachdenklich zusammenstehen und miteinander reden. Sie spürten viel mehr als wir, wie schwierig der Tanzabend für einige der Anwesenden war. Das Leben will leben, hatte Dr. Hope gesagt. Das sah man dem Herrn an, der immer wieder hustend seine Damen im Tanz hin- und herschwang oder der Dame, die ihren Tanzpartner eng umschlungen hielt wie bei einem Liebespaar. Sie hatten sich doch eben erst kennengelernt, aber sie hielten sich, als wollten sie die Welt vergessen. Küsse wurden getauscht und das eine oder andere Paar verließ rasch den Saal.

Ich war ganz froh, als die Musik endlich verstummte und der Spuk zu Ende war. Das Aufräumen überließ ich den anderen und ging in meine Kammer über dem Stall. Das Leben will leben! Das ging mir nicht aus dem Kopf.

Als ich am Morgen die Kutsche richtete, kam ein Mann aus dem Verwalterbüro. Er hustete schwer. Dr. Walther lief ihm nach. „Sie können die Kur nicht abbrechen!“, sagte er. „Es geht bei Ihnen um Leben und Tod!“ „Und ums liebe Geld“, antwortete der Patient bitter, „ums Geld, Herr Dr. Walther. Ich habe alles verloren, warum nicht auch mein Leben?“ Dr. Walther antwortete nicht und ging ins Haus zurück. Ich brachte den Mann zum Bahnhof. Wortlos stieg er aus und ging zum Bahnsteig. Ich sah ihm nach. Dann kamen neue Gäste, die bei uns Heilung suchten, und stiegen in meine Kutsche ein.

Die Einweihung des „Sanatoriums Dr. Walther“ sollte im Frühjahr 1891 stattfinden. Im Winter ruhte der Betrieb noch, um im zeitigen Frühjahr wieder aufgenommen zu werden. Im Büro hieß das, Einladungen zu versenden, neue Bewerbungen durchzusehen, die Anmeldungen von Patienten entgegenzunehmen und Waren aller Art einzukaufen. Für mich und Ludwig bedeutete das, die Kutschen zu richten, nach unseren Pferden zu sehen und Dr. Walther, Dr. Hope oder Lehmann bei Besorgungen zu kutschieren. „Frieder, spann an!“ Diesen Befehl hörte ich sehr gern und dann ging es mit Pferd und Wagen kreuz und quer durch den Schwarzwald. Das war meine Welt, alles andere ging mich zum Glück nichts an.

Eines Tages kam Dr. Walther auf einem Rappen zum Stall geritten. Er hatte sich ein Pferd gekauft, das nun auch im Stall stand. Es hieß Jack und war ein temperamentvolles Tier. Als Besitzer eines Sanatoriums konnte er schlecht weiterhin zu Fuß gehen, auch wenn er das Wandern nicht ganz aufgeben wollte, aber zu offiziellen Anlässen musste er auf einem Pferd erscheinen. Mit dem wilden Hengst hatten wir viele Schwierigkeiten im Stall. Wirklich gehorchen wollte er nur Dr. Walther, aber das sah der große Mann mit dem roten Bart noch gern. Er war der Leiter des Sanatoriums, auf sein Wort musste man hören!

Ich war froh, als dann alle wieder da waren, die schon im letzten Jahr mit uns zusammen gearbeitet hatten. Es war schön, endlich wieder mit der schwarzen Kutsche am Bahnhof zu stehen und Gäste abzuholen. Längst hatte ich mich an die hustenden Patienten gewöhnt und auch daran, die Kutsche nach jeder Fahrt sorgfältig zu reinigen. Vieles von dem, was Dr. Walther uns gelehrt hatte, war mir in Fleisch und Blut übergegangen. Wir alle hatten einige Zeit gebraucht um zu lernen, was ein Sanatorium erfordert, aber nun kannten wir uns aus und es war höchste Zeit, die Lungenheilstätte offiziell zu eröffnen.

 

Sicherlich hatte Dr. Walther die Genehmigung zur Führung einer solchen Einrichtung, seit er angefangen hatte, Patienten aufzunehmen, aber so ganz offiziell anfangen, das war doch etwas Besonderes. Natürlich waren auch unsere Freunde vom Brandeck eingeladen. Seit der Aufhebung der Sozialistengesetze im September 1890 war alles einfacher geworden. Es gab keine Überwachung mehr und ein Sozialdemokrat konnte wieder einen Betrieb gründen. Unser Alltag hatte sich kaum verändert, aber das Brandeck schon, wie ich mitbekam. Es war als Versteck nicht mehr nötig, doch die Mannschaft der Anfangszeit traf sich auch weiterhin in der Villa Strehlen. Ich würde unseren Onkel Geck wiedertreffen, und seine Brüder Eugen und Oskar und Anton Fendrich! So ganz nebenbei bekam ich mit, wer noch alles kommen würde. Man hatte auch die Arztkollegen aus den benachbarten Dörfern und Städten eingeladen, sogar an die Universität Straßburg war eine Einladung gesandt worden. Die Briefe hatte ich selber zur Poststation nach Biberach in die Sonne gebracht. Natürlich waren auch die Bürgermeister der umliegenden Ortschaften eingeladen und unser Stabhalter Finkenzeller von der Kolonie. Er hatte stets Dr. Walther den Rücken frei gehalten und die Bemühungen um das Sanatorium unterstützt. Es hatte sich ja auch viel Gutes ergeben. Das hörte ich voller Freude, wenn ich meine Eltern besuchte und hin und wieder Cousinen und Cousins dabei antraf. Die Höfe in der Kolonie waren nun viel besser gestellt. Dort konnte man sich mehr Kühe leisten, denn das Sanatorium kaufte die Milch, die abgekocht und dann vor allem abends vor dem Schlafengehen noch serviert wurde. So hin und wieder bekamen auch wir vom Personal ein Glas Milch angeboten und ich nahm es stets gern.

Unser Haus war voll belegt, als Dr. Walther uns den Termin für die Eröffnungsfeier nannte. Dr. Gies und Dr. Müller, zwei Assistenzärzte, hatte Dr. Walther eingestellt.

„Heute gelten besondere Regeln“, erklärte Dr. Walther beim morgendlichen Zusammentreffen im großen Speisesaal. „Unsere lieben Kurgäste“, damit wandte er sich an die Patienten, „sollten bitte in ihren Zimmern bleiben und die Ruhezeiten genau einhalten. Ich möchte nicht, dass Sie mit den geladenen Gästen zusammentreffen, Sie verstehen gewiss warum. Später werden unsere Tagesgäste durch die Klinik geführt und auch an der Sonnenterrasse vorbeikommen. Dann wird man Sie sehen und vielleicht mit Ihnen Kontakt aufnehmen. Haben Sie noch Fragen?“

Niemand meldete sich zu Wort.

Dann wandte er sich an uns: „Auch ihr benehmt euch so wie immer. Einziger Unterschied: Im Waschhaus wird heute später angefeuert und die Wäsche erst dann gewaschen und desinfiziert. Das möchte ich gerne unseren Gästen vorführen. Sonst wird normal gearbeitet. Ihr könnt gern alle Fragen der Gäste beantworten. Wer es einrichten kann, sollte um 11 Uhr am Schwanenteich sein, um die Reden zu hören, die nun einmal vorgesehen sind.“ Damit wurde die Tafel aufgehoben und wir begaben uns an unsere Arbeit. Ludwig und ich schauten nach Max und Moritz und schütteten frisches Stroh und Heu auf. Heute musste alles besonders gut aussehen. Dr. Walther kam herein und ließ sein Pferd satteln. „Ich will vor meiner Rede noch ausreiten“, sagte er und war schon wieder fort. Ludwig und ich sahen uns verwundert an „Vielleicht hat er noch etwas zu erledigen oder er will noch einmal seine Wanderwege abreiten. Was wissen wir, was die hohen Herren wollen?“ Wir sattelten Jack, der heute besonders unruhig war und waren gerade fertig, als Dr. Walther zurückkam. Wortlos nahm er den Hengst am Zügel, stieg auf und ritt den Hang hoch. Wir sahen ihm nach.

Einige Zeit später kam Hope in den Stall und fragte nach ihrem Mann. Wir sagten ihr, dass er ausgeritten sei. „Ich habe kein gutes Gefühl“, sagte sie. „Eigentlich sollte er doch schon am Schwanenteich sein.“ „Er wird pünktlich zurückkommen“, wollte ich sie beruhigen, aber sie sagte: „Er tut, was er für richtig hält. So ist unser Doktor.“ Hope lächelte mich an. „Ja, so ist er geworden. Er macht immer, was er will.“ Dann wandte sie sich ab und ging zum Doktorhaus hinüber.

Es war höchste Zeit, als Doktor Walther wiederkam. Er zog Jack am Zügel hinter sich her. Das Pferd tänzelte nervös, Dr. Walther wirkte sehr erschöpft und gab mir die Zügel. „Reibe ihn ab und versorge ihn!“, befahl er. „Heute bekommt er keinen Hafer. Er hat mich abgeworfen. Dabei habe ich mir wahrscheinlich zwei Rippen gebrochen.“ Er war sichtlich froh, als ich das Pferd übernahm und ging mit schweren Schritten zum Doktorhaus hinüber.

„Unsere Hope hat es gespürt“, sagte ich zu Ludwig. „Sie merkt schneller, was mit ihrem Mann los ist, als er sieht, was sie braucht.“

„Vielleicht brauchte er es gerade heute, jemandem zu zeigen, wo es lang geht“, meinte Ludwig und sah zur Tür. „Wissen wir, was in den hohen Herren vorgeht? Frieder, du kennst viele von den Leuten. Du solltest runter zum Treffpunkt gehen, ich erledige hier inzwischen, was noch zu tun ist.“ Ich nahm gern an, denn ich war sehr neugierig zu sehen, wer alles gekommen war.

Am Schwanenteich hatten sich viele Menschen versammelt. Ich erkannte die Bürgermeister an Frack und Hut und grüßte unseren Stabhalter Finkenzeller. „Frieder, welch großer Tag!“, sagte er. „Du hast alles von Anfang an miterlebt. Bist du zufrieden?“

„Ja“, konnte ich nur noch kurz bestätigen, denn schon wieder war er von jemand anders angesprochen worden und wandte sich wichtigeren Menschen zu. Ich traf Adolf Geck und begrüßte ihn und auch die anderen vom Brandeck. Für mehr als einen kurzen Gruß reichte es nicht, aber ich freute mich, als ich Heinz und Mara begeistert ihren „Onkel Geck“ begrüßen hörte. Geck trug den breitkrempigen Hut auf seinen langen, braunen Locken. Frau Dr. Hope ging grüßend umher und sprach kurz mit jedem. Zur Feier des Tages trug sie einen langen Rock, eine weiße, hochgeschlossene Bluse und einen kleinen Hut im Haar. Sie sah bezaubernd aus.

Dr. Walther begrüßte die Anwesenden vom Rednerpult aus, das oberhalb des Schwanenteiches aufgestellt worden war. Er sprach von seiner Erleichterung, dass es nun endlich möglich sei, das Sanatorium zu eröffnen. Er dankte Stabhalter Finkenzeller für seine Unterstützung, begrüßte die Genossen vom Brandeck mit Namen und übergab das Wort an unseren Stabhalter. Ich merkte wohl, wie schwer es ihm fiel, sich gerade zu halten. Der Sturz vom Pferd hatte ihn arg mitgenommen. Finkenzeller erzählte von seinen Bedenken gegen das Sanatorium und wie er sich hatte überzeugen lassen. „Wir haben in unserer Kolonie viele Fortschritte machen können. Die Höfe sind größer geworden und den Menschen geht es nun gut. Die Kolonie Nordrach ist ein schönes Dorf geworden. Wir danken unserem Gönner und Arbeitgeber Dr. Walther.“

Natürlich gab es Beifall für seine Worte. Der Bürgermeister von Nordrach bestätigte den wirtschaftlichen Aufschwung der Kolonie und sprach den Wunsch aus, dass auch Nordrach etwas von dem Segen abbekommen könne. Natürlich sprach er von den Jagdgesellschaften, die im Herbst nach Nordrach kamen. „Wir brauchen auch diese“, betonte er. „Nordrach soll bekannt werden in der ganzen Welt, sowohl wegen des Sanatoriums als auch wegen seiner Auerhähne. Das eine darf das andere nicht ausschließen!“

Als niemand mehr das Wort ergriff, trat Hope ans Rednerpult. Sie erklärte kurz die Gebäude und bot eine Führung durch die Klinik an. Alle anwesenden Damen lud sie ein, mit ihr zu kommen und verwies die Herren an Doktor Walther. Damit waren alle einverstanden, denn so gehörte es sich.

Ich beeilte mich, zu meinem Stall zurückzukommen und kam am Maschinenhaus vorbei. Dort war sehr viel los. Wie Dr. Walther es angeordnet hatte, waren die Kessel angeheizt worden und Berge von Wäsche wurden vorbereitet, um in der heißen Lauge gewaschen zu werden.

Es roch nach Feuer und Dampf zischte aus Rohren. „Frieder, heute kannst du weder zugucken noch mithelfen“, scherzte eine Frau mit mir. „Mach, dass du zu deinen Pferden kommst.“

Ludwig hatte die Kutschen auf Hochglanz poliert. „Nun, was gab es?“, fragte er mich. „Viele Worte“, antwortete ich, „aber nichts Neues.“ „Habe ich auch nicht erwartet“, bestätigte er. „Nordrach bleibt Nordrach und unsere Kolonie die Kolonie.“

Wir warteten geduldig auf die Gruppen, die sich alles ansehen wollten. Dr. Hope kam mit den Frauen als Erste. „Wir beschäftigen hier einen Kutscher und einen Fuhrknecht“, erklärte sie. „Frieder holt die Patienten von Biberach oder bringt sie nach der Kur zum Bahnhof. Natürlich stehen die Kutschen auch dem übrigen Betrieb zur Verfügung. Eine Besonderheit ist unser schwarzer Kastenwagen. Wir legen großen Wert darauf, dass unsere Kurgäste unerkannt und geschützt hier ankommen, deshalb haben wir die alte Kutsche renovieren lassen. Selbstverständlich ist auch hier Sauberkeit oberstes Gebot. Überzeugen Sie sich selbst.“

Ich sah so manchen Damenhandschuh verstohlen über Polster und Leisten gleiten, aber ich war ganz sicher, dass alles zur Zufriedenheit ausfallen würde. Jack wieherte, als habe er besondere Aufmerksamkeit verdient. Hope sah kurz zu ihm hin.

„Ach, das ist Jack, der Rappe meines Mannes. Nur er kann dieses temperamentvolle englische Reitpferd bändigen. Aber für einen Sanatoriumsbesitzer gehört es sich, ein besonderes Pferd zu haben.“ Man hörte, dass sie darüber nicht gerade begeistert war.

„Wir werden nun an der Sonnenterrasse vorbeikommen“, erklärte Hope. „Unsere Kurgäste müssen jeden Tag an der frischen Luft ruhen. Das ist neben dem guten Essen und den vorgeschriebenen Wanderungen auch ein wichtiger Teil der Behandlung. Wir gehen außen vorbei, Sie wissen warum. Aber natürlich können Sie die Leute ansprechen, wenn Sie das möchten.“ Die eine oder andere Dame räusperte sich, denn man hatte die Warnung der Frau Doktor sehr gut verstanden.

Ich war ganz erleichtert, als sie mit den Damen weiterging. Die strengste Prüfung hatten wir bestanden. Die Herren interessierten sich besonders für die Kutschen und ihre Technik, für Max und Moritz und die Möglichkeit auszureiten.

„Wird es hier einmal einen Reitstall geben?“, fragte jemand.

„Bisher haben wir darüber noch nicht nachgedacht. Ausgedehnte Wanderungen durch unsere Wälder tragen besonders gut zum Heilungsprozess bei“, antwortete Dr. Walther. „Wir haben Patienten hier, die sich selber bewegen sollen. Deshalb haben wir Wanderwege angelegt und gekennzeichnet.“

„Aber der Mann von Welt wandert doch nicht“, antwortete jemand entrüstet.

„Wir haben es hier mit Menschen zu tun, die gesund werden wollen“, erklärte Dr. Walther, „da muss man lernen, manches ganz anders zu machen als bisher.“

„Ist es nicht gefährlich, mit so vielen Kranken zusammenzuleben?“, stellte dann doch ein Mann die Frage, die sicherlich allen durch den Kopf ging.

„Nicht, wenn man die Regeln einhält“, sagte Dr. Walther. „Disziplin und Hygiene bei allen Menschen, die hier leben, sind äußerst wichtig. Wenn man sich an die Vorschriften hält, dann ist die Ansteckungsgefahr gering“

„Das hat Ihr Verwalter, Herr Lehmann, auch gesagt“, bestätigte ein älterer Herr. „Disziplin ist alles!“ So wie er das betonte, hatte er sicherlich eine längere Militärzeit absolviert. Ludwig und ich, wir waren beide froh, als auch diese Gruppe den Stall wieder verließ.

„Das war wohl alles“, sagte ich. „Heute müssen wir niemanden abholen. Am Nachmittag erst ist eine Kutschfahrt vorgesehen. Dazu werden wir den Kremser richten, aber erst einmal haben wir eine Pause verdient.“

„Dann schau ich mich mal um“, schlug Ludwig vor. „Bleibst du hier, falls noch jemand kommen sollte?“

„Gern“, antwortete ich. „Ich wollte bei den Pferden die Hufe nachsehen. Bei Max lahmt der linke Vorderhuf etwas.“

„Hoffentlich braucht er keinen Tierarzt“, sagte Ludwig. „Du weißt doch, wie ärgerlich der Lehmann wird, wenn es Rechnungen gibt.“ Damit ging er fort. Ich trat zu Max an die Box und beobachtete, wie er sich verhielt. Er stand gut und schien keins der Beine zu entlasten. Sicher ist sicher, dachte ich, öffnete seine Box und strich ihm beruhigend über die Nüstern. Ich beugte mich gerade herab, um sein linkes Vorderbein zu heben, da hörte ich zwei Männer näher kommen. Ich ließ Max los und schaute aus der Box. Adolf Geck und Dr. Walther betraten den Stall. Dr. Walther rauchte, obwohl das hier streng verboten war. „Ich wollte einmal ungestört mit dir reden“, sagte Geck. „Mach besser die Zigarre aus, sonst verstößt du gegen deine eigene Vorschrift!“

„Was nicht gut wäre“, sagte Dr. Walther, „schon der Disziplin wegen.“

 

„Bist du auch auf dem Wege, militärisch zu werden, Otto?“, fragte Geck und lachte sein helles Lachen, das ich so gut kannte.

„Militärisch nicht, lieber Adolf“, antwortete Dr. Walther, „es kommt schon darauf an, aus welchem Grund man Disziplin fordert. Unser Feind ist die Tuberkulose!“

„Ich weiß, ich weiß, Otto“, sagte Geck. „Habt Ihr nun das erreicht, was Ihr wolltet?“

„Wir haben viel gelernt und aufbauen können. Heute ist ein ganz besonderer Tag.“

„Ein großer Erfolg! Ihr zwei habt sogar die Behörden überzeugen können, euch gewähren zu lassen!“

„Ich bin froh, dass die Sozialistengesetze aufgehoben sind, jetzt kann auch ein Sozialdemokrat Unternehmer sein.“

„Viele von uns sind Unternehmer, Adolf, das hat nie gestört. Es kommt darauf an, dass man gerecht ist zu seinen Arbeitern und sie nicht ausbeutet.“

„Bist du das, Otto? Kannst du die vielen Menschen, die für dich arbeiten, gerecht bezahlen?“

Ich musste schmunzeln, dass ich nun ausgerechnet Zeuge eines solchen Gespräches wurde. Dr. Walther achtete auf genügend Einnahmen, denn nur so konnte er uns auch entlohnen.

„Deshalb müssen wir uns zur Zeit noch an die reichen Patienten halten, Adolf. Das ist das Einzige, was mir nicht gefällt. Ich würde lieber eine Volksklinik aufbauen, die für alle offen steht. Ich bekomme doch mit, wie viele Menschen auch in Offenburg und sogar auf dem Lande Tuberkulose haben. Der Kampf gegen diese Krankheit müsste in ganz breiter Front geführt werden, aber wir können zur Zeit nur die Wohlhabenden behandeln.“

„Immerhin reiche Leute aus aller Herren Länder. So wird deine Idee und deine Methode zur Bekämpfung der Tuberkulose weltweit bekannt. Damit sind wir nahe an der Internationalen!“

„Das hätte auch von Lehmann sein können“, sagte Dr. Walther und beide lachten.

„Wie kommt unser Karl eigentlich zurecht?“, fragte Geck.

„Er ist intelligent und schnell, aber leider kein Verwaltertyp. Seine Ideale stehen ihm im Weg.“

„Für ihn geht die gesellschaftliche Veränderung nicht schnell genug. Sicher, die Sozialistengesetze sind abgeschafft worden und vieles hat sich seitdem zum Positiven verändert. Es wird über Volksgesundheit nachgedacht und über Krankenversicherungen. Aber es geht darum, dass nur ein gesundes Volk auch ein kampfbereites Volk ist. Mir machen die vielen Militärs mit ihren Märschen Sorge.“

„Aber Otto, hier in den Bergen hörst du doch keine Militärmusik, oder?“

„Nein, Adolf, hier klingen Walzerklänge beim Tanztee, aber trotzdem höre ich von den Gästen, wie stolz man auf ein Deutsches Reich ist und wie tief die Gräben zu den anderen Völkern werden. Wir haben viele Engländer hier und die sehen mit Sorge, dass Deutschland auch eine Seemacht werden möchte. Wir sind hier oben nicht aus der Welt, Adolf.“

„Das ist gut, Otto. Wie kommt Hope zurecht? Sie träumt doch sicher immer noch von der Frauenbefreiung.“

„Und wie!“, bestätigte Dr. Walther und ich musste nun doch leise lachen. „Die Mieder hängen schon am zweiten Tag an der Leine und werden dann nie wieder angezogen.“

Dr. Walther hatte wohl ein Geräusch gehört und sagte: „Ich weiß, dass Nordrach für meine Hope nicht die Welt ist. Komm, Adolf, gehen wir nach draußen!“

Ich war erleichtert, denn ein zu persönliches Gespräch wollte ich wirklich nicht belauschen, und kümmerte mich nun um den Huf von Max. Zum Glück musste ich den Strahl nur ein wenig ausschneiden, damit Max wieder voll auftreten konnte.

Als ich den Stall verließ, standen Dr. Walther und Geck vor der Tür. „So, unser Frieder ist auch hier“, begrüßte mich Geck. „Sind deine Träume nun wahr geworden? Wir haben doch alle den jungen Mann nicht vergessen, der so gerne Kutscher werden wollte.“

„Ja, mein Traum hat sich erfüllt“, sagte ich, „und es ist viel mehr wahr geworden, als ich mir je erträumen konnte. Wir sehen uns nachher bei der Kutschfahrt.“ Ich beeilte mich davon zu kommen, bevor man mich fragen konnte, wie lange ich schon im Stall gewesen sei. Zusammen mit Ludwig richtete ich am Nachmittag den Kremser und wir saßen gemeinsam auf dem Bock, als wir unsere Gäste zur alten Glasersiedlung hochfuhren. An der Kirchenruine stand eine Vase mit frischen Blumen. Hope wies uns darauf hin. „Schaut“, sagte sie, „die Leute der Kolonie haben ihre alte Kirche nicht vergessen.“ Ich war ein wenig stolz, als sie das sagte, denn irgendwie hatte ich das Gefühl, dass sie uns und unsere Bedürfnisse verstand.

Meine Aufgabe war es, die Gäste abzuholen und sie nach der Kur zum Bahnhof zu bringen. Eine Kur dauerte in der Regel sechs Wochen. Spätestens danach wurde durch Dr. Walther oder Hope entschieden, ob die Patienten nach Hause gehen konnten oder noch nicht. Viele durften nach dieser Zeit unser Sanatorium verlassen und geheilt nach Hause zurückkehren. Obwohl das eigentlich ein wunderbarer Augenblick war, sah ich immer wieder Tränen beim Abschied und wie oft hörte ich den Satz: „Wenn ich doch nur meine Bekannten schon begrüßt hätte!“ Besonders die Frauen drückten damit ihre Sorge aus, bevor sie in die Kutsche oder am Bahnhof in den Zug einstiegen.

„Wenn ich doch nur schon ...“ Weil ich diesen Satz immer wieder hörte, machte ich mir meine Gedanken darüber. War es nicht wunderbar, gesund nach Hause zurückzukehren? Wie blass, hohlwangig und hustend kamen die Leute zu uns. So manchem musste ich in die schwarze Kutsche helfen. Aber was hatten unsere Patienten nicht alles hinter sich gelassen? Gewöhnlich wurden sie erst zur Kur in den Schwarzwald gesandt, wenn es gar nicht mehr anders ging. Ich hörte das aus den Gesprächen.

„Sie müssen ins Krankenhaus, hat mein Arzt gesagt, sonst gefährden Sie Ihre Familie.“ Dann erst fuhr man zur Kur. Bei uns lernte man, mit der Tuberkulose umzugehen, den „blauen Heinrich“ zu benutzen, um die gefährliche Spucke nicht herunterzuschlucken. Man lernte mit der Krankheit zu leben. Viele nahmen ihren „blauen Heinrich“ mit nach Hause, aber ich beobachtete schon am Bahnhof, wie sich die Leute abwandten, wenn jemand in das Gefäß spuckte und nicht auf die Straße, wie es sonst alle taten. „Ich bin krank“, sagte diese Geste jedem, der das sah, und man vermied es, das Abteil mit einem solchen Menschen zu teilen, auch wenn er rosige Wangen hatte.

Bei uns war der Gebrauch der Spuckflaschen ganz normal, weil alle Patienten das taten und als richtig empfanden, aber draußen? Mir tat es weh, wenn sich unsere Gäste am Bahnhof von mir verabschiedeten und manchmal selbst aus dem Zugfenster noch sagten: „Wenn ich doch nur meine Bekannten schon begrüßt hätte, dann wäre mir wohler, dann wüsste ich, ob ich nun wieder ganz dazugehöre oder ob sie sich immer noch vor einer Ansteckung durch mich fürchten.“

Für die Herren würde sich nicht viel ändern. Natürlich hatten sie zugenommen und ihre Anzüge schlotterten nicht mehr um eine magere Gestalt. Ein stattlicher Herr galt als gesund und tatkräftig und wenn ihm seine dicke Zigarre wieder schmeckte, war das ein Symbol bester Gesundheit.

Bei unseren weiblichen Gästen war das ganz anders und daran war vor allem unsere liebe Frau Doktor schuld. Sie duldete die eng geschnürten Mieder nicht, die eine schlanke Taille machten und die Kleider so hübsch sitzen ließen. Schon am ersten Tag in der Klinik musste das Mieder abgelegt werden und die Patientinnen zogen die weit geschnittenen Reformkleider an. In der Klinik trugen alle Frauen diese Kleider und sahen auch hübsch aus, aber am Abreisetag griff doch so manche der Damen wieder zum Mieder.

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