Nach Amerika! Bd. 1

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Die Zeiten sind vorüber; die Geister, die damals dem Menschengeschlecht gehorcht, gehorchen ihm nicht mehr, oder wir haben auch vielleicht das rechte Wort vergessen, sie zu rufen – aber ein anderes dafür gefunden, das, kaum minderstark, mit e i n e m Schlage das Kind aus den Armen der Eltern, den Gatten von der Gattin, das Herz aus allen seinen Verhältnissen und Banden, ja aus der eigenen Heimat Boden reißt, in dem es bis dahin mit seinen stärksten, innigsten Fasern treulich festgehalten.

«Nach Amerika!» Leicht und keck ruft es der Tollkopf trotz der ersten schweren, traurigen Stunde entgegen, die seine Kraft prüfen, seinen Mut stählen sollte. – «Nach Amerika!» flüstert der Verzweifelte, der hier am Rand des Verdeerbens dem Abgrund langsam, aber sicher entgegengerissen wurde. – «Nach Amerika!» sagt still und entschlossen der Arme, der mit männlicher Kraft und doch immer und immer wieder vergebens gegen die Macht der Verhältnisse angekämpft, der um sein ,tägliches Brot’ mit blutigem Schweiß gebeten – und es nicht erhalten, der keine Hilfe für sich und die Seinen hier im Vaterland sieht, und doch nicht betteln w i l l, nicht stehlen k a n n. – «Nach Amerika!» lacht der Verbrecher nach glücklich verübtem Raub, frohlockend der fernen Küste entgegenjubelnd, die ihm Sicherheit bringt vor dem Arm des beleidigten Rechts. – «Nach Amerika!» jubelt der Idealist, der wirklichen Welt zürnend, weil sie eben wirklich ist, und über dem Ozean drüben ein Bild erhoffend, das dem in seinem eigenen tollen Hirn erzeugten gleicht. – «Nach Amerika!» und mit dem einen Wort liegt hinter ihnen abgeschlossen ihr ganzes früheres Leben, Wirken, Schaffen – liegen die Bande, die Blut oder Freundschaft hier geknüpft, liegen die Hoffnungen, die sie nur hier gehegt, die Sorgen, die sie gedrückt. – «N a c h A m e r i k a !»

So gärt und keimt der Same um uns her – hier noch als leiser, kaum verstandener Wunsch im Herzen ruhend, dort ausgebrochen zu voller Kraft und Wirklichkeit, mit der reifen Frucht seiner gepackten Kisten und Kasten. Der Bauer draußen hinter seinem Pflug, den der nahe Grenzrain noch nie so schwer geärgert, und der im Geist, während er an dem Stein wieder und wieder wenden muß, schon weit über dem Meer drüben die langen geraden Furchen zieht, – der Handwerker in seiner Werkstatt, dem sich Meister nach Meister mit Neuerungen und großen, marktschreierischen Firmen in die Nachbarschaft setzt, um die wenigen Kunden, die ihm bis dahin noch geblieben, in s e i n e Tür zu locken, – der Künstler in seinem Atelier oder seiner Studierstube, der über einer freieren Entwicklung brütet und von einem Lande schwärmt, wo Nahrungssorgen ihm nicht Geist und Hände binden, – der Kaufmann hinter seinem Pult, der Nachts, allein und heimlich, die Bilanz in seinen Büchern zieht und, das sorgenschwere Haupt in die Hand gestützt, von einem neuen, anderen Leben, von lustig bewimpelten Schiffen, von reichgefüllten Warenhäusern träumt, in Tausenden von ihnen drängt’s und treibt’s und quält’s, und wenn sie auch noch vielleicht jahrelang nach außen die alte frühere Ruhe wahren, in ihren Herzen glüht und glimmt der Funke fort – ein stiller, aber ein gefährlicher Brand. Jeder Bericht über das ferne Land wird gelesen und überdacht, neue Arznei, neues Gift bringend für den Kranken. Vorsichtig und ängstlich, und weit herum um ihr Ziel, daß man die Absicht nicht erraten soll, fragen sie versteckt nach dem und jenem Ding – nach Leuten, die vordem ,hinübergezogen’ und denen es gut gegangen – nach Land- und Fruchtpreis, Klima, Boden, Volk – für andere natürlich, nicht für sich etwa – sie lachen bei dem Gedanken. Ein Vetter von ihnen will hinüber, ein entfernter Verwandter oder naher Freund, sie wünschen, daß es dem wohl geht, und häufen mehr und mehr Zunder für sich selber auf.

So ringt und drängt und wühlt das um uns her, keiner ist unter uns, dem nicht ein lieber Freund, ein naher Verwandter den salto mortale getan und alles hinter sich gelassen, was ihm einst lieb und teuer war – aus dem, aus jenem Grund – und täglich, stündlich noch hören wir von anderen, von denen w i r im Leben nie geglaubt, daß s i e je an Amerika gedacht, wie sie mit Weib und Kind und Hab und Gut hinüberziehen. Und d o r t ? – Noch liegt ein dichter Schleier über ihrem Schicksal dort, doch Gottes Sonne scheint ja überall. – Dir aber, lieber Leser, greif’ ich aus dem Leben noch hier und da ein paar Freunde heraus, die wir auf dem weiten Weg begleiten wollen.

* * *

Oben in der Brandstraße – nicht weit vom Brandtor entfernt und dem Gasthaus zum Löwen schräg gegenüber – wohnte Professor Lohenstein mit seiner Familie in der ersten Etage eines zwar sehr alten, aber auch sehr wohnlich eingerichteten Hauses, das ihm eigen gehörte.

Der Professor war ein Mann, gerade an der anderen Seite der ,besseren Jahre’, etwa einundfünfzig Jahre alt, aber rüstig und gesund, nur erst mit einzelnen grauen Haaren zwischen den rabenschwarzen Locken, die ihm über die bleiche, aber hohe und geistvolle Stirn fielen, wie mit fast jugendlichem, elastischem Gang und Wesen. Ein tüchtiger Kopf dabei, hatte er Jura und Cameralia28 studiert und einen großen Schatz von Kenntnissen angehäuft, auch in manchem, mit schweren mühsamen Nachtwachen erkauften Werk der Welt, der undankbaren Welt das Resultat seiner Studien und Forschungen gebracht und dargelegt. Unzufrieden aber mit dem Erfolg und der kalten Aufnahme, die es gefunden, wandte er sich später wieder von den bis dahin bevorzugten juristischen Wissenschaften ganz ab und allein seinem Lieblingsstudium, den Cameralien zu, in denen er besonders der Gewerbskunde seine Tätigkeit widmete, auch mit einem Buchhändler in Heilingen eine Gewerbezeitung gründete und herausgab.

Hierin hatte er Unglück, der Buchhändler machte bankrott und er übernahm die Zeitung, mit ziemlich großen Verlusten schon, allein.

So vortrefflich aber Professor Lohenstein in der Theorie seiner Wissenschaft bewandert sein mochte, so wenig sattelfest war er es in der Praxis, und seine Zeitung wollte und wollte keinen Boden gewinnen. Mit fabelhaftem Fleiß suchte er dem zu begegnen, umsonst – umsonst auch, daß er Kapital nach Kapital in das zuletzt nur noch zur Ehrensache gewordene Unternehmen steckte. Sein Haus bekam Hypothek auf Hypothek, und mit einer höchst ungünstigen politischen Periode, in der ihm eine große Anzahl Abonnenten absprang, trafen ihn auch so bedeutende pekuniäre Verluste, daß er sich endlich genötigt sah, sein Blatt vollständig aufzugeben. Es war das schwerste Opfer, das er bis dahin gebracht.

Professor Lohenstein hatte eine ziemlich starke Familie; eine Frau, zwei erwachsene Töchter von siebzehn und zwanzig Jahren, einen Sohn von achtzehn und zwei kleinere Kinder, einen Knaben von acht und ein Mädchen von sieben Jahren. Wenn auch nicht in Reichtum, doch in einem gewissen Wohlstand erzogen, war aber der Familie bis jetzt das schwere Wort N a h r u n g s- s o r g e n fremd geblieben; der Professor hatte immer, was man so nennt, ein Haus gemacht und sich in einem Umgangskreis bewegt, der ihnen schon an und für sich eine gewisse Verpflichtung auferlegte, manches mitzumachen, was seinen sonst mehr einfachen Neigungen eben nicht Bedürfnis schien. Das alles sollte, ja m u ß t e sich jetzt ändern, denn wenn er auch aus den Trümmern seines Vermögens nach allen erlittenen Verlusten einen kleinen Teil zu retten vermochte, genügte der nicht, das bisherige Leben fortzuführen. Die Wahl blieb ihm jetzt allein, von Neuem eine Laufbahn mit geringeren Mitteln anzufangen und sich und den Seinen schwere und ungewohnte Entbehrungen an einem Orte aufzuerlegen, wo ihn alles und jedes an frühere und bessere Zeiten erinnerte, oder – es war eine schwere Stunde, in der ihm d a s Bild zum erstenmal vor die Seele stieg – in einem anderen Erdteil, ungekannt, aber auch nicht bemitleidet oder verspottet, ein vollkommen neues L e b e n zu beginnen.

Aber die Frauen? Würden sie den Mühseligkeiten einer so langen Reise, einer Ansiedelung drüben in einem noch wilden Lande gewachsen sein? – Daß er selber die Beschwerden eines solchen Lebens leicht ertragen würde, daran zweifelte er keinen Augenblick; er hatte so viel über Amerika gelesen, sich mit den dortigen Verhältnissen aus allen erschienenen Schriften so vertraut gemacht, daß er alles kannte, was ihn dort erwartete, und einem derartigen Wirken eher mit Freude und Lust, als Bangen entgegenging. Aber durfte er seine Frau all’ den sie erwartenden Unbequemlichkeiten und Strapazen aussetzen? Durfte er seine Töchter aus ihrem geselligen, glücklichen Leben reißen und ihnen mit einem Schlage alle jene Vergnügungen entziehen, die ihnen hier schon mehr als Erholung, die ihnen fast Bedürfnis geworden?

Einen langen und schweren Kampf kämpfte er mit sich selber monatelang, und er wurde alt in der Zeit, die Augen lagen tief in ihren Höhlen, und seine Züge bekamen etwas Mattes und Abgespanntes, das sie sonst, in seiner schwersten Arbeitszeit noch nie gehabt. Wenn auch die Kinder sich leicht mit einem vorgeschützten Unwohlsein beruhigen ließen, dem scharfen Blick der Gattin entging die Sorge nicht, die an seinem Herzen heimlich, aber desto gewaltiger nagte, und ihren dringenden, ängstlichen Bitten konnte er zuletzt nicht länger widerstehen. Was sie doch zuletzt hätte erfahren m ü s s e n, vertraute er ihr an, und wenn es die arme Frau auch wie ein Schlag aus heiterem Himmel traf, nahm sie das Ganze doch viel ruhiger auf, als er erwartet, gefürchtet, und damit eine schwere Last von s e i n e m Herzen – auf das ihre.

Aber leichter trägt sich die geteilte, und bereden konnten sie jetzt zusammen, was zu tun, welchen Weg zu gehen, die Möglichkeit zu besprechen, die sich hier ihrem Leben bot, die Möglichkeit erwägen, die ihnen dort eine andere, freiere Zukunft öffnete. Und die Kinder? Wohin Mutter und Vater gingen, folgte die ja gern; nur die Szene wechselte für sie, anderen, vielleicht selbst bunteren Bildern Raum zu geben, und Kummer und Sorge kannten die ja nicht.

 

An demselben Abend waren die beiden ältesten Töchter zu einem kleinen Fest, dem Geburtstag einer Freundin, eingeladen, und hatten schon den ganzen Tag mit rastlosen Fingern an dem bunten, blitzenden Ballstaat genäht. Der Vater begleitete sie dorthin, nur die Mutter blieb daheim, Kopfschmerz und die Sorge um das jüngste Kind vorschützend, das mit einem leichten Unwohlsein in seinem Bettchen lag. Aber gegen zehn Uhr schlummerte es sanft und ruhig auf dem weichen Lager ein, und daneben, das sorgenschwere Haupt in die Hand gestützt, saß die Mutter und weinte – weinte, als ob sie mit dieser Tränenflut all’ den Gram und Kummer fortwaschen wollte, der jetzt, ein dunkler Wolkensaum, am Horizont ihres Glücks erschien, und wild und drohend höher und höher stieg.

Lachend und plaudernd kehrten die Töchter mit dem Vater spät in der Nacht zurück; den leichten, sorglosen Herzen lag die Welt noch wie ein weiter Garten offen da, und was etwa an wuchernden Giftpflanzen dazwischen stand, mischte noch sein saftgrünes Laub, dem jungen Auge nicht erkennbar, mit Blumen- und Blütenpracht.

Aber der Moment näherte sich auch, wo mit der vorgerückten Jahreszeit all’ die nötigen und mannigfaltigen Vorbereitungen zu einer so langen Reise, zu einer gänzlichen Umgestaltung all’ ihrer Verhältnisse getroffen werden m u ß t e n, auch schien die Zeit eine passende für den Sohn, der, von der Schule gerade abgegangen, eben sein Abiturientenexamen glücklich bestanden hatte. Der Vater wünschte allerdings, daß er hier erst studieren und ihnen dann später, wenn er etwas Tüchtiges gelernt, folgten sollte, dachte ihm aber doch die freie Wahl zu lassen und seinem Herzen keinen Zwang aufzuerlegen.

Am nächsten Morgen nach der durchschwärmten Nacht waren die beiden jungen Damen spät aufgestanden, und nur der Sohn zur gewöhnlichen Zeit ausgegangen, um seine ,englische Stunde’ zu halten. Als aber Marie – die zweite Tochter – bald nach Anna zum Kaffee herüberkam, saß der Vater ungewohnter-weise nicht in seiner Studierstube an der Arbeit, sondern im Sofa, aus der langen Pfeife den Dampf in weißen Kräuselwolken von sich blasend, und die Mutter am Nähtisch, Kleider für das Jüngste ausbessernd, das in seinem herübergeschafften Bettchen wieder mit klaren Augen seine Puppe schaukelte.

«Schon ausgeschlafen, Väterchen?» sagte Marie, als sie, etwas beschämt, als letzte am Kaffeetisch Platz genommen. «Ich habe wohl heut recht lange geschlafen? Aber – was ist Dir denn? – Und der Mutter auch!» rief sie, vom Stuhl wieder aufspringend, als sie das ungewohnte ernste Wesen der Eltern gewahrte. «Bist Du böse auf mich, Mütterchen?»

«Nein, mein Kind», sagte diese und zwang ein Lächeln auf die Lippen, «aber der Vater hat Euch etwas recht Ernstes heute zu sagen, von dem wir noch nicht wissen, ob es Euch betrüben wird oder nicht.»

«Der Vater!» rief Marie erschreckt, und auch Anna, die älteste Tochter, sah ängstlich zu ihm auf.

Professor Lohenstein aber, so in die Enge und zum Äußersten getrieben, hustete, paffte den Dampf ein paarmal scharf vor sich hin, um die Pfeife ordentlich in Glut zu bringen, und sagte:

«Ja, Kinder, Ihr wißt – wir – wir haben doch in den letzten Tagen viel über Nordamerika gesprochen, und auch manches gelesen…. »

«Ja, die herrlichen Romane von Cooper!» rief Marie rasch.29

«Und die schrecklichen Berichte im Tageblatt», lächelte Anna.

«Der Doktor Hayde ist ein Esel», sagte der Professor, den rauch wieder ein paarmal rasch ausstoßend. «Wenn der hätte in Amerika ordentlich arbeiten wollen, brauchte er sich jetzt nicht von einer Winkeladvokatur und vom Schimpfen auf freisinnige Leute zu ernähren. Über dessen Berichte wollen wir uns keine Sorgen machen, aber… » Er schwieg wieder einen Augenblick und sah, wie furchtsam, nach der Frau hinüber. Die jedoch arbeitete umso emsiger weiter, und selber mit dem Bedürfnis, dem, was ihn schon so lange gedrückt, endlich einmal Worte zu geben, fuhr er rasch fort: «Ich habe eine Frage an Euch zu tun, Kinder: Hättet Ihr – hättet Ihr wohl selber Lust, hinüber nach – nach Amerika zu gehen?»

«Nach Amerika!» rief Anna rasch und auch wohl erschreckt. Marie aber sprang auf, schlug in die Hände und rief jubelnd:

«Nach Amerika! Oh, das wäre ja prächtig – das wäre herrlich! – Nicht war, da sind a u c h Bälle, Väterchen?»

Die Mutter seufzte tief auf, und der Vater zog wieder etwas verlegen an der Bernsteinspitze.

«Hm – ich weiß nicht», sagte er, langsam mit dem Kopf schüttelnd, «wo wir im Anfang hinwollen, werden wohl keine sein. Hängst Du so an Bällen, Marie?»

«Ich tanze gern», lächelte das junge fröhliche Mädchen etwas verlegen und schüchtern.

«Nun, tanzen wirst Du dort hoffentlich auch können, mein Kind», sagte der Vater freundlich, «wenn auch nicht gerade gleich auf solchen Bällen, wie wir sie hier gewohnt sind – das Leben ist dort einfacher.»

«Oh, und bis zum nächsten Fasching sind wir gewiß auch wieder zurück!» rief Marie.

Der Vater schwieg erst eine kleine Weile und sagte dann leise, aber entschlossen:

«Wir wollen g a n z hinüberziehen, mein Kind.»

«Auswandern?» rief die ältere Schwester fast erschreckt – das Wort, dessen Bedeutung sie noch gar nicht vollkommen verstand, traf sie mit einem unbekannten ahnenden Gefühl von Schmerz und Leid. «Und die Mutter?»

«Ihr werdet mich doch nicht wollen allein zurücklassen?» lächelte die Frau, sich gewaltsam über den Schmerz dieser Stunde zwingend.

«Mutter!» sagte Anna, warf die Arme um ihren Nacken und küßte sie.

«Und Eduard?» frug Marie.

«Bleibt, wenn er meinem Rate folgt, noch hier, bis er ausstudiert und etwas Ordentliches gelernt hat», sagte der Vater, «wo nicht, hat er seinen freien Willen und mag uns begleiten. So wie er nach Hause kommt, werde ich mit ihm sprechen.»

«Aber », rief Marie, «wer verwaltet unterdessen unser Haus?»

«Wenn wir einmal fort sind von hier», sagte der Professor ausweichend, «kann uns auch das Haus nichts mehr nützen, und – ich werde es verkaufen.»

« V e r k a u f e n ? – Unser Haus und den Garten?» riefen Marie und Anna fast wie aus einem Munde erschreckt und rasch.

«Unser freundliches Stübchen, wo wir als Kinder gespielt», setzte Marie traurig hinzu.

«Und die Bäume, die Vater alle gepflanzt – die Laube, die wir uns selbst gebaut, und die in diesem Jahr so schön geworden ist», sagte Anna leise, «verlassen wollt’ ich es ja gern, wenn wir alle gehen, aber daß fremde Menschen jetzt darin hausen sollen, die vielleicht gar nicht wissen, wie wir das alles gehegt und gepflegt, und… » Ihr Blick fiel in diesem Augenblick auf der Mutter halb von ihr abgewandte bleiche Züge und erfaßte das Blitzen einer heimlich fallenden Träne. Anna erschrak und wurde totenbleich – hier lag mehr verborgen, als man ihnen gesagt, und heimlicher Gram, heimliche Sorge nagte an der Eltern Herzen, durfte sie die vermehren? Sie schwieg einen Augenblick und sah sinnend vor sich nieder; dann aber Mariens Hand ergreifend, sagte sie mit leichterem, vielleicht gezwungen fröhlicherem Ton:

«Aber wir wollen nicht klagen; Vater und Mutter wissen am besten, was sie zu tun haben und was für uns gut ist, und dort baut uns Vater dann ein anderes Haus, und wir selber pflanzen uns ein neues Gärtchen, schöner als das unsere hier.»

«Aber ich bliebe hier, wenn ich an Vaters Stelle wäre», schmollte Marie, «und was wird Herr Kellmann dazu sagen, wenn er es erfährt? Der ist so immer gegen Amerika und hat sich schon oft mit Vater darüber gezankt.»

«Ach, der macht mir die geringste Sorge», sagte Anna in ihrem Schmerz lächelnd, «wenn man f ü r Amerika spricht, schimpft er aus Leibeskräften und zitiert Gott weiß was für Stellen aus Briefen und Zeitungen, alles Günstige zu widerlegen oder wenigstens stark zu bezweifeln, und kommt jemand, der das Land ordentlich angreift, dann hab’ ich auch schon gesehen, daß er den Handschuh wacker dafür aufnimmt, und man wirklich glauben sollte, er bekäme so und so viel für den Kopf, Leute zu bereden, hinüberzuziehen. Das ist ein wunderlicher Kauz, der die meiste Zeit selber nicht weiß, was er will, und ich glaube, wenn es jemand recht ordentlich bei ihm darauf anlegte, könnte man ihn selber, nur durch Widersprechen, dahin bringen, daß er in eigener Person hinüberginge.»

«Herr Kellmann?» lachte Marie. «Nun, d e n möcht’ ich in Amerika sehen.»

«Und wer weiß, ob Dir das nicht noch passiert», bestätigte der Vater, mit dem Kopfe nickend.

«Und darf ich mein neues seidenes Kleid mitnehmen, Mama?» frug das junge lebenslustige Mädchen jetzt die Mutter. «Hier lassen möcht’ ich es doch nicht gern, und drüben im Wald… »

«Liebes Kind, wir werden auch nicht mitten in den Wald gehen», sagte die Mutter, die indessen heimlich die verräterische Träne aus dem Auge geschüttelt, freundlich dabei der zu ihr getretenen Tochter die Stirn streichend und küssend, «denkt es Euch nicht so schlimm. Der Vater wird uns schon einen Platz aussuchen, wo wir wenigstens unter Menschen und der Kultur nicht ganz verschlossen sind – er hielte es ja dort sonst selber nicht aus.»

«Aber warum gehst Du nur, Väterchen?» bat Marie. «Es ist doch hier so wunderhübsch in Heilingen, und was wir da drüben haben, wissen wir noch nicht.»

Der Professor, zu dem Anna ängstlich aufsah, hatte seinen Sitz verlassen und ging, langsam dabei mit dem Kopf nickend, im Zimmer auf und ab. Er fühlte, daß er, auch den Töchtern gegenüber, diesen eine Erklärung seines Handelns schuldig sei, denn er riß sie aus einem liebgewonnenen Leben heraus und führte sie vielen, vielen Entbehrungen – er durfte sich das nicht leugnen – entgegen. Von ihrer späteren Haltung dabei hing auch viel ihrer aller Glück, ihrer aller Zufriedenheit ab, und sie waren alt genug, ihrem Urteil zu vertrauen. Aber es kostet ihm der Entschluß einen schweren Kampf, und wo ihm die Frau auf halbem Weg entgegen gekommen war, fürchtete er hier gerade nicht, Widerstand zu finden, denn dafür hatten sie ihn zu lieb, aber Schmerz und Sorge in den jungen Herzen zu wecken, denen er die ungebetenen Gäste gern noch so lang als möglich fern gehalten hätte. Sie standen jedoch an einem wichtigen, bedeutungsvollen Abschnitt ihres Lebens, und mußten s e h e n, wohin der Weg sie führte.

In kurzen, einfachen Worten, frei vom Herzen weg und zu den Herzen sprechend, weil sie aus dem Herzen kamen, schilderte er ihnen jetzt die veränderte Lage, in die er, durch das gezwungene Aufgeben seiner Zeitschrift sowohl, wie durch manche schwere, ihn betroffene Verluste gekommen. Er verheimlichte ihnen nicht länger, daß er einen Teil – einen großen Teil seines Vermögens eingebüßt, und das ihm selber liebe Haus nicht verkaufen würde, wenn ihn eben nicht – die Verhältnisse dazu z w ä n g e n. Aber noch blieb ihnen genug, nach einem fernen Weltteil überzusiedeln und dort, mit bescheideneren Bedürfnissen, von neuem zu beginnen. Amerika mit seiner ungeheuren Lebenskraft bot ihnen nach allen Seiten hin die Möglichkeit Existenz, und das gut und zweckmäßig angelegte k l e i n e Kapital konnte dort für spätere Zeit gute Zinsen tragen. Hatten sie sich dann etwas verdient, waren die Hoffnungen, mit denen sie hinübergingen, Wahrheit geworden, und sehnte sich ihr Herz noch nach dem Vaterland, wer hinderte sie dann zurückzukehren zu den teuren Plätzen, die ihnen in der Erinnerung ewig lieb bleiben würden?

Dem Professor war es leichter um die Brust geworden, wie er das Eis nur erst gebrochen. Selbst überzeugt von dem, was er sprach, wurde er warm, indem er den Gedanken weiter dachte und seine Phantasie verlor sich zuletzt sogar, Luftschlösser aufbauend, zauberschnell in weiter Ferne. Der Professor ging mit dem Menschen durch, und die leicht geröteten Wangen belebte ein eigenes, inneres Feuer. Und die Mutter saß dabei, still und schweigend, und ängstlich bemüht, in der wieder aufgenommenen Arbeit die eigene Bewegung zu verbergen. Marie und Anna aber, die des Vaters Hände erfaßt und in den ihren hielten, schmiegten ihre Häupter an seine Schultern und flüsterten, die großen, zu ihm aufgeschlagenen Augen voll von Tränen:

«Genug, genug, Väterchen; mal uns das alles nicht so prächtig aus – wohin Du und Mutter gehen, gehen auch wir, und wär’ es mittenhinein in den wildesten Wald. Kein unzufriedenes Wort sollst Du dabei von uns hören, keine Klage, kein böses Gesicht weiter – keine Träne – nur die hier sind uns so ganz von selber über die Backen gelaufen, weil wir die Mutter weinen sahen. Mit Lieb’ und Lust wollen wir das Leben dort beginnen… »

 

«Und Kühe und Hühner schaffen wir uns an!» rief Marie. «Und die Kühe melken wir selber und machen Butter und Käse.»

«Wie gut», sagte Anna, «daß wir im vorigen Jahr auf dem Land bei der Tante waren und dort alles zum Spaß gelernt haben; jetzt wird es uns nützen.»

Aber, nicht wahr, Mütterchen, nun weinst Du auch nicht mehr», rief Marie, zur Mutter hinübergleitend, ihren Arm um deren Nacken legend und sie küssend, «drüben wird schon alles hübsch werden. Und ein paar von den großen Holzschuhen nehm’ ich mir, wie sie die Bauern tragen, für draußen bei nassem Wetter; hei, wie wir da herumpatschen wollen und schaffen und arbeiten! Und plätten tun wir auch selbst, dafür nimmst Du kein Mädchen mehr.»

Den frohen, leichten Herzen schwammen schon die gewaltigsten Umrisse ihrer ganzen fernen, so ungewissen Zukunft in den einzelnen bunten Kleinigkeiten zusammen, die ihrem Geist, von dem Reiz der Neuheit mit frischem Duft überhaucht, entstiegen. Nur die Lichtpunkte erspähte der in die ferne arglos hinausschauende Blick, und die goß er sich lustig zusammen zu einem Ganzen. Was noch darüber lag, der düstere Hintergrund, den das erfahrenere Mutterauge wohl erkannt, diente ihnen nur dazu, die einzelnen Lichter stärker hervorzuheben, deutlicher erkennen zu können, und der Himmel spannte sich blau und rein über ihren glücklichen Häuptern.

* * *

Achtes Kapitel

Der Tanz im Roten Drachen.

Drei volle Monate waren nach den in den vorigen Kapiteln beschriebenen Szenen verflossen, und der Diebstahl im Dollinger’schen Hause zu Heilingen, der eine ganze Woche lang fast das alleinige Stadtgespräch gebildet, wurde kaum noch erwähnt. Der vermutete Dieb (gegen den aber allerdings nachträglich keine weiteren Beweise aufgefunden wurden), war zwei Tage nach dem Sturz von der Brücke an seiner Kopfwunde gestorben; er hatte die beiden Tage vollkommen bewußtlos gelegen und kein Wort mehr gesprochen. Das übrige Geld aber – wie die vermißten Pretiosen konnten trotz den genauesten Nachforschungen nirgends aufgefunden werden, und hatte er es wirklich gestohlen, so ließ sich jetzt gar nichts anderes vermuten, als daß er es irgendwo an einer heimlichen Stelle vergraben und außer Sicht gebracht habe.

Aktuar Ledermann hatte ganze Aktenstöße über den Fall geschrieben – man wußte wirklich nicht, wo er nur den Stoff dazu herbekommen; aber mit dem üblichen Kanzleistil wurde die Sache, der jede gründliche Vorlage mangelte, nach Möglichkeit gereckt und ausgedehnt, und dann, als sich nichts weiter darüber ergab, mit starkem Bindfaden umschnürt und etikettiert, um später vielleicht, mit Jahreszahl und Nummer versehen, in irgendein staubiges Gefach geschoben zu werden, dort ein Jahrhundert fortzuträumen – wie der Verstorbene unter dem Rasen, dicht an der Kirchhofsmauer, an die er, ohne Sang und Klang damals, noch vor Tag und still und heimlich hinausgeschafft worden.

Die Geistlichkeit von Heilingen hatte dem Unglücklichen allerdings sogar dies ,ehrliche Begräbnis’ versagen und den Körper der Anatomie überantworten wollen, da er unter dem Verdacht eines schweren Diebstahls und gewissermaßen als Selbstmörder seinen Tod gefunden. Was kümmerte die stolzen Geistlichen die duldende Liebe, die Christus gelehrt, wo i h r e Autorität Gefahr leiden konnte gekränkt zu werden, und sie hatten einmal verordnet, daß solche Sünden ein ,christliches Begräbnis’ versagte werden sollte. Aber die Polizei war milder und verständiger als die ,Diener des Höchsten’ und erklärte den Tod des Armen für keinen Selbstmord, indem er nur ,auf der Flucht’ umgekommen, während wahrscheinlich der ihm beigegebene Wächter die allerdings unschuldige und nicht zur Verantwort zu ziehende direkte Ursache seines Todes gewesen sei.30

Aber fort – fort mit den traurigen Bildern; das menschliche Leben hat der dunkeln Seiten so viele, und sie drängen sich uns doch auf, wohin wir gehen – nur der Augenblick gehört uns, und nicht mutwillig wollen wir den Schmerz suchen. So mag mir der Leser denn noch einmal zum Roten Drachen hinaus folgen – es dauert vielleicht lange, ehe wir den Platz wieder zu sehen bekommen – und dort tönt heute fröhliche Musik aus dem hell erleuchteten Saal des großen Hauses, der mit Girlanden und Blumen und jungen Birkenreisern festlich geschmückt ist, indes ihn eine muntere, laut und lustig durcheinanderwogende Schar belebt.

Kaum eine Viertelstunde – oder eine ,halbe Pfeife Tabak’, wie die Bauern sagten – vom Roten Drachen entfernt, lag Schloß Hohleck an der anderen Seite des nämlichen Hügelrückens, das gegenüberliegende Tal überschauend, und der Besitzer desselben, Graf von Hohleck, feierte heute die Vermählung seines ältesten Sohnes, der dabei das Gut selber übernahm und nun seinen Leuten dem Tag zu Ehren ein Fest ,in der Schenke’ gab. Bier und Branntwein waren dabei zu freier Verfügung gestellt, und ein starkes Musikchor aus der Stadt engagiert worden, den Leuten die ganze Nacht hindurch zum Tanz aufzuspielen – und sie machten Gebrauch davon.

Aber auch aus Heilingen selber hatten sich eine Menge Gäste eingefunden, dem munteren Leben und Treiben der fröhlichen Menschen zuzuschauen, und während der untere Gartensaal einzig und allein den Dienstleuten des Ritterguts eingeräumt war, zum den Stadtleuten jedoch gastlich der Zutritt gestattet wurde, hatten sich die letzteren noch besonders in ein paar kleineren Stuben festgesetzt, wo sie ihren Wein oder ihr Bier tranken, oder auch eine Partie spielten, die Zeit auszufüllen.

Zu den Gästen aus der Stadt gehörten auch mehrere unserer alten Bekannten, unter ihnen Kellmann und Schollfeld, zwei Stammgäste des Roten Drachen. Ledermann war ebenfalls, wenn auch später, herausgekommen, und ihnen hatte sich noch der Auswanderungsagent Weigel – sehr zum Ärger Schollfelds, der ihn nicht ausstehen konnte – zugesellt. Weigel blieb aber nicht ruhig an ihrem Tisch sitzen, sondern ging ab und zu, und hatte sein Glas nur mit bei ihnen stehen, gewissermaßen seinen Platz zu belegen.

Ledermann war übrigens heute sehr still und niedergeschlagen, er hatte sein einziges Kind vor etwa vierzehn Tagen verloren und schien sich das sehr zu Herzen zu nehmen, erklärte auch, nur herausgekommen zu sein, sich ein wenig zu zerstreuen und die Gedanken loszuwerden, die ihn in der Stadt drin peinigten.

Übrigens war ihm in den letzten Tagen höchst unerwarteterweise eine kleine Erbschaft von sechshundert Talern zugefallen, und Schollfeld, der heut Abend außergewöhnlich gut aufgeräumt schien, versuchte jetzt sein Bestes, des Freundes Grillen oder trübe Gedanken ebenfalls zu verscheuchen.

«Hören Sie einmal, Ledermann», begann er, mit dem Deckel seines Kruges klappend und mehr Bier verlangend, «wie ist denn die Geschichte nun mit den sechshundert Talern? – Beiläufig gesagt, schneiden Sie ein Gesicht dabei, als ob Sie Schwefelsäure verschluckt hätten.»

«Er hört nicht einmal», sagte Kellmann, als der Aktuar kein Wort darauf erwiderte und die Anrede in der Tat gar nicht verstanden zu haben schien. «Ledermann, Mensch, wo sind Sie jetzt mit Ihren Gedanken, im Roten Drachen bei Heilingen, im Monde, oder in Amerika?»

«Wo?» sagte der Aktuar, rasch und fast verstört aufschauend, als aber die anderen laut lachten, schüttelte er mit dem Kopf, und seinen Krug nehmend und trinkend, sagte er ruhig und ernst:

«Ach, laßt mich zufrieden, Kinder – ich habe den Kopf voll und bin wahrhaftig heut Abend nicht zum Spaßen aufgelegt.»

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