AUF MESSERS SCHNEIDE (The End 6)

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Из серии: The End #6
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Als es an der Tür klopfte, schreckte er aus seiner Quasi-Trance auf. »Hector, geht es Ihnen gut?«, fragte Annaliese.

»Hector? Pablo? Wer bist du?«, wisperte er bei sich, während er in den Spiegel schaute. Er spielte bereits seit Monaten Hector und mochte ihn. Anscheinend fanden ihn auch alle anderen sympathisch, doch irgendetwas fehlte Hector. Pablo entsprach dem Gegenteil; ihn mochte niemand, ja streng genommen wurde er gehasst, doch alle Welt fürchtete ihn in gleichem Maße, wie sie ihn hoch achtete. Für wen entscheidest du dich?, fragte er sich.

Annaliese klopfte noch einmal.

»Komme«, rief er.

Sein letzter Blick in den Spiegel fiel in eine Ecke des Raums, woraufhin er zusammenzuckte. »Was tust du hier?«

An der Tür pochte es erneut. »Wo bleiben Sie?«, wollte Annaliese wissen.

»Wie kannst du hier sein?«, sprach Pablo laut in die Ecke gerichtet. »Ich habe dich begraben.«

Sie klopfte lauter.

»Gehen Sie weg«, verlangte er. Als er sich der Tür zukehrte und öffnete, stand Annaliese noch da.

»Sie machen mir Sorgen«, sagte sie.

»Geschnitten«, schob er vor und hob die bandagierte Hand hoch.

Sie drückte die Tür weiter auf und schaute ins Bad. »Ich hätte schwören können, dass Sie mit jemandem geredet haben.«

»Selbstgespräche«, erwiderte Pablo.

»Jetzt aber los, die anderen warten alle«, drängte sie.

»Anna«, druckste er.

»Ja?«

Es war äußerst verlockend. Gern hätte er sie gebeten, Pablo genannt zu werden, doch als er seinen Mund aufmachte, brachte er keinen Ton heraus.

»Fahren Sie fort«, forderte Annaliese und legte eine Hand auf einen seiner Arme.

Die sanfte Berührung hob sein Bedürfnis auf. Spielt es wirklich eine Rolle?, dachte er. Ihr gefiel der Name Hector, und unter einem anderen kannte sie ihn ja im Grunde auch gar nicht. Pablo war ihr weder geläufig, noch wollte er, dass sie ihn kennenlernte. Er wünschte sich in vielerlei Hinsicht, diese Seite von ihm bleibe ihr verborgen, weil er befürchtete, sie abzustoßen.

»Kommen Sie, lassen wir es uns gut gehen.« Annaliese stieß ihn unbeirrt vorwärts.

Er verdrängte seine Bedenken vorerst und kehrte mit ihr ins Esszimmer zurück.

26. Dezember 2015

»Glaube, dass das Leben lebenswert ist, und dein Glaube wird helfen, diese Tatsache zu erschaffen.« – William James

Westlich von Joseph, Oregon, Republik Kaskadien

Lexi bückte sich, hob mehrere kleine Holzstöcke auf und legte sie auf den kleinen Stoß, den sie auf ihrem rechten Arm gestapelt hatte.

Da huschte ein graues Eichhörnchen aus einem Lorbeerstrauch hervor und wuselte an ihr vorbei. Ihr blauschwarzer Pitbull Beau war dem Nager dicht auf den Fersen.

Lexi lachte.

Das Eichhörnchen sprang gegen eine Kiefer und flitzte hinauf. Als Beau den Baum erreichte, stützte er sich mit den Vorderpfoten an den Stamm und bellte seine Beute an, die nun auf einem langen Ast angehalten hatte. Sie schnatterte zurück.

Die Verfolgungsjagd war zwar vorbei, doch der Hund wollte das Eichhörnchen nicht entwischen lassen, ohne ihm deutlich zu machen, was er empfand. Dies tat er, indem er noch ein paarmal bellte.

Lexi lachte weiter und ging zu ihm. »Beau, mein Junge, das war heute nicht dein Tag. Aber keine Sorge, du kriegst es bald, oder eines seiner Artgenossen.« Nachdem sie seinen Kopf getätschelt hatte, verließ sie ihn wieder.

Der Hund schaute Lexi hinterher, bevor er sich wieder nach dem Eichhörnchen umsah, ein letztes Mal bellte und es aufgab. Er ließ sich zurück auf die Vorderläufe fallen und rannte ihr nach.

»Schnauze voll?«, fragte sie mit Blick nach unten.

Sie hatte ihn lieb gewonnen und war froh, ihn vor Monaten mitgenommen zu haben. Er hatte sich als nützlicher Gefährte und souveräner Jäger erwiesen, wenn man von seiner Niederlage gerade eben absah. Sicher, er musste auch gefüttert werden, doch der Aufwand lohnte sich.

Sie gingen nebeneinander her zu dem Lager, in dem sie seit fünf Wochen wohnte. Sie malte sich oft aus, ein verlassenes Haus zu suchen, aber jedes Mal, wenn sie kurz davorstand, sich aufzumachen, redete sie es sich rasch wieder aus. Eines war gewiss: Um keinen Kontakt mit anderen Menschen zu haben, wie sie es wollte, musste sie geläufige Verkehrswege meiden und einen weiten Bogen um Städte, ja selbst einzelne Wohnhäuser machen.

Nun ließ sie das Zündholz neben der Feuerstelle fallen, nahm ihr Gewehr, das sie sich an den Rücken gehängt hatte, und setzte sich auf ein Stück Baumstumpf. Da ihre Kopfhaut juckte, zog sie die enge, schwarze Mütze aus und nahm das Gummiband aus ihren Haaren, die sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Sie waren dunkelbraun und reichten ihr bis zum Halsansatz. Jetzt fielen ihr einige Strähnen ins sonnengebräunte Gesicht. Schließlich streifte sie ihre Handschuhe ab und begann, unwirsch zu kratzen. Als sie fertig war, standen die Haare nach allen Seiten ab. Sie hatten sich seit ihrer Zeit bei Rahab ausgewachsen, was ihr gelegen kam; somit waren auch die blonden Spitzen verschwunden. Sie spielte mit dem Gedanken, sie kurz zu schneiden, doch lange Haare hatten ihres Erachtens durchaus etwas für sich. Sie vermittelten ihr gewissermaßen das Gefühl, einigermaßen weiblich zu sein.

Beau ging im Kreis herum, bevor er sich dicht am Feuer niederließ. So tat er das immer.

Lexi hob etwas Reisig auf, legte es aufs Feuerholz und stocherte mit einem Stock darin, sodass die Flammen größer wurden.

Ihr Magen knurrte allmählich schmerzhaft, also kramte sie eine Tüte Trockenrindfleisch aus ihrem Rucksack.

Der Hund spitzte beim Rascheln des Plastiks die Ohren; er hob seinen Kopf und schaute Frauchen sehnsuchtsvoll an.

Lexi zog ein langes Stück Fleisch aus der Tüte und wollte es gerade in ihren Mund stecken, als Beau mitleiderregend winselte.

»Willst du auch was?«, fragte sie.

Seine Ohren zuckten, und er antwortete mit einem neuerlichen Wimmern.

Noch einmal stichelte sie: »Willst du auch was?«

Daraufhin kläffte er einmal.

Lexi wandte ihren Blick ab und sagte: »Ich weiß nicht, ob du heute das erste Stück verdienst, nachdem du so ein erbärmliches Bild gegen das Eichhörnchen abgegeben hast.«

Der Hund neigte seinen Kopf zur Seite und winselte weiter.

Sie liebte seine braunen Augen, den stechenden Blick. Sie hätte sie als fast menschlich beschrieben – so kamen sie ihr vor –, als stecke eine alte Seele in ihm, ein gleichgesinnter Geist im Körper eines Vierbeiners.

»Na gut«, fuhr sie schließlich fort und warf ihm das Fleisch vor. »Aber nur weil ich nicht genug davon kriegen kann, wenn du guckst, als würdest du schmollen.«

Beau schnappte das Stück noch in der Luft und kaute mit Begeisterung darauf herum.

Lexi langte nach einem weiteren Stück in der Tüte, hielt jedoch inne, als sie einen Schrei in der Ferne hörte. Sie fuhr hoch und drehte ihren Kopf ein wenig in die Richtung, aus der sie glaubte, das Geräusch vernommen zu haben.

Dann ein zweiter Schrei, lauter.

Obwohl sie anderen Menschen aus dem Weg ging, hatte sie es sich zur Aufgabe gemacht, Hilfe zu leisten, sofern es ihr möglich war. Sie ließ die Fleischtüte fallen und griff sich ihr Gewehr, ein Sig Model 716 mit einem Tritium-Faseroptik-Visier von Trijicon. Sie hatte es Monate zuvor beim Durchstöbern herrenloser Autos auf der Interstate 45 in Idaho gefunden. Seitdem war es für sie zu einer idealen Waffe geworden. Kaliber .308 entsprach genau der richtigen Größe, doch vor allem das Visier machte etwas her, denn damit ließen sich andere Leute auf Distanz taxieren.

Beau sprang auf und richtete seine Ohren gleichfalls auf den Ursprung der Schreie aus.

Lexi verlor keine weitere Zeit, sondern rannte einen flachen, begrünten Hang hinauf und blieb kurz vor der Kuppe stehen.

Beau schloss hinter ihr auf und erstarrte.

Sie ging das Reststück geduckt und verbarg sich dann hinter einer dicken Kiefer an der Baumgrenze.

Aus dem Tal unterhalb hallten weitere Schreie wider.

Lexi suchte das weitläufige, unebene Areal ab, entdeckte jedoch niemanden. Das goldene Gras wiegte sich im frischen Wind, aber keine Menschenseele war in Sicht.

»Hilfe«, brüllte plötzlich eine Frau.

Lexi drehte sich nach rechts und schaute auf einen niedrigen Hügel hinüber. Dort lief die Frau, so schnell sie konnte; ihr T-Shirt war offensichtlich mit Blut verschmiert.

Sogleich tauchten zwei Männer an der anderen Seite des Gefälles auf.

Kein Zweifel, die Frau floh vor ihnen, und Lexi befand sich genau zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Sie nahm ihr Fernglas herunter, stemmte das Gewehr gegen die Schulter und schaute durchs Visier, indem sie eine Wange an den Lauf drückte und tief Luft holte.

Dann fiel ein Schuss, doch von jemand anderem.

In der Zeit, die sie gebraucht hatte, um anzulegen, hatte einer der Verfolger gezielt.

Lexi sah sich nach der Frau um, doch diese war verschwunden. Höchstwahrscheinlich lag sie verwundet oder tot im hohen Gras.

Die Männer näherten sich ihr; Lexi beabsichtigte, dies zu ändern. Sie nahm den einen aufs Korn, entsicherte ihre Waffe und hatte schon den Finger auf dem Abzug, als eine weitere Stimme erscholl.

»Stephanie!«

Lexi schaute sich um, da entdeckte sie noch einen Mann, der den Hügel heraufkam. Er hastete wie von Sinnen auf die beiden anderen zu. Augenscheinlich war er zwar nicht bewaffnet, aber entschlossen, die Getroffene zu retten.

 

Der Schütze wandte sich ihm zu und hob seine Pistole.

Als Lexi dies sah, gab sie ihren ersten Schuss ab. Die .308er-Patrone löste sich mit einem Knall aus der Kammer und schlug kurz darauf in sein Kreuz.

Der Mann grunzte vor Schmerz, ließ seine Waffe fallen und sackte auf die Knie.

»Stephanie!«, rief der Dritte wieder.

Lexi schalt sich brummelnd, weil sie unsauber gezielt hatte, und tat es jetzt genauer. Dabei drückte sie wieder langsam auf den Abzug, unterbrach sich jedoch, als der Mann den Verwundeten erreichte.

Dieser hob eine Hand, um sich zu verteidigen, doch davon ließ sich der Retter nicht abhalten. Er schlug immer wieder auf ihn ein.

Als er sich wieder beruhigte, waren es, falls Lexi richtig gezählt hatte, vierundzwanzig Schläge gewesen. Davon abgelenkt bemerkte sie den zweiten Mann leider nicht früh genug, und dieser stürzte sich nun auf den Unbewaffneten. Die beiden rauften miteinander, wälzten sich am Boden. Wegen des hohen Grases erkannte Lexi nichts.

Schließlich erhob sich der zweite Mann mit dem Rücken zu ihr.

Lexi sah ihre Chance gekommen und bereitete sich zum dritten Mal auf einen Schuss vor.

Als sich der Kerl dann umdrehte, konnte sie seine tödliche Wunde nicht übersehen: Er hatte seine Arme um den Bauch geschlungen, der stark blutete, und hielt so seine eigenen Eingeweide fest.

Der andere Mann stand ebenfalls auf. Kleidung, Gesicht und Arme waren blutbesudelt. In seiner rechten Hand hielt er ein langes Messer. Er erreichte den Verletzten mit zwei Schritten, hielt ihm die Klinge an die Kehle und schnitt sie durch.

Der zweite fasste sich an den Hals, wobei seine Gedärme nun tatsächlich aus dem Bauch glitschten. Innerhalb weniger Sekunden war er tot.

Sein Angreifer stieß ihn weg und schrie noch einmal: »Stephanie?«

Etwa zwanzig Fuß von ihm entfernt wurde langsam ein blutverschmierter Arm hochgestreckt.

Lexi war entsetzt von dem, was sie gerade mitangesehen hatte. Sie nahm das Gewehr herunter und griff wieder zu ihrem Feldstecher, um genauer beobachten zu können.

Als der dritte Mann den Arm sah, lief er darauf zu, stürzte aber auf dem Weg.

Lexi fragte sich, ob er gestolpert oder auch verletzt war.

Nachdem er sich aufgerafft hatte, ging er noch ein paar Schritte und blieb stehen, weil er sich vornüberbeugen musste.

So wie es aussah, hatte er sich gleichfalls verletzt.

Der Arm der Frau sackte wieder ins Gras.

Beau winselte einmal.

»Woher weiß ich, dass sie mir nichts tun werden?«, fragte Lexi, wie um dem Hund zu antworten.

Der Mann schleppte sich weiter auf die Frau zu, wobei er aber erneut stehen blieb. Diesmal fiel er auf die Knie.

Beau gab erneut Laut.

Lexi sah ihn an und befahl: »Du gehst.«

Er stellte seinen Kopf wieder schräg.

Sie gab es auf. »Na gut, ich geh doch selbst, ist okay.« Nachdem sie aufgestanden war, hängte sie sich das Gewehr um und lief den Hang hinunter, um den anderen Hügel hinaufzusteigen. Als sie die Frau fand, sah sie sofort, dass sie tot war. Ihre Augen schimmerten glasig grau und starrten ins Leere.

Ihr Gefährte erhob sich nun aus dem Gras, das dabei raschelte; er konnte nur noch kriechen. »Stephanie«, stöhnte er kraftlos.

Lexi richtete sich wieder auf und trat einen Schritt zurück.

Er hob seinen Kopf kein einziges Mal hoch, um sie anzuschauen; sobald er die Liegende erreichte, ließ er sich auf sie fallen und tastete sie hektisch ab. »Stephanie, nein. Bitte nicht. Komm wieder zu dir, bitte. Wach auf.«

Die Tragik der Situation bereitete Lexi Unbehagen.

Der Mann brach in Tränen aus, als ihm bewusst wurde, dass seine Stephanie nicht mehr lebte.

Lexi wollte nur noch verschwinden. Sie griff dort ein, wo es erforderlich war, doch hier gab es jetzt nichts mehr für sie zu tun. Die Bösen waren tot, und nun machte sie sich am besten vom Acker. Sie ging noch ein paar Schritte rückwärts.

Endlich hob der Mann seinen Kopf. »Töte mich«, verlangte er.

»Hm?«

»Bitte, ich will nicht mehr weiterleben.«

Ihm schien einzufallen, dass er das Messer noch hatte. Er zog es und hielt es an sein linkes Handgelenk.

Lexi verharrte wie gebannt und schaute hin. Ihr kam der Gedanke, ihn aufzuhalten, doch sie hatte schon vor langer Zeit aufgehört, andere davon abbringen zu wollen, sich selbst zu verletzen. Es waren ihre Leben; falls sie sie beenden wollten, sollte es eben so sein.

Mehrere Sekunden vergingen, doch der Mann hielt sich das Messer lediglich zitternd an den Unterarm. Verärgert über seine eigene Feigheit flehte er Lexi noch einmal an, ihn umzubringen. »Bitte, töte mich einfach.«

»Nein, ich töte keine Unschuldigen.«

»Ha, wenn du bloß wüsstest«, lachte er. »So unschuldig bin ich nicht.«

»Das mag sein, aber dich umzubringen, würde meinem Ethos widersprechen.«

»Ethos?« Der Mann schaute ihr in die Augen und fragte. »Was zum Geier soll das bedeuten?«

»Ich verschwinde jetzt«, kündigte Lexi an und wandte sich ab.

»Es wäre ein Gnadentod. Ich bin ziemlich übel verwundet, werde also ohnehin sterben. Du würdest mir helfen, es hinter mich zu bringen.«

»Ich sagte ja, so etwas tue ich nicht«, erwiderte sie und ging.

»Wenn du mir diese Hilfe schon verweigerst, kannst du mir wenigstens was zu trinken geben – Whiskey, irgendetwas?«

Lexi blieb stehen, blickte zurück und antwortete: »Ich trinke keinen Alkohol, tut mir leid.«

»Jetzt habe ich wirklich alles gesehen«, lachte der Mann.

»Was heißt das?«

»Ach nichts, aber eine letzte Bitte noch.«

»Ich bin hier fertig, frohes Sterben«, sprach Lexi und machte sich auf den Rückweg zu ihrem Lager. Nach all den Schüssen und dem Rumgeschreie befürchtete sie, dass bald weitere Fremde kämen, weshalb sie eines auf keinen Fall wollte: Schutzlos draußen sein, wenn dies geschah.

»Falls du eine Schaufel hast, würde ich Stephanie gern begraben«, bat der Mann. »Das gehört sich so.«

Lexi ignorierte diese Bitte und entfernte sich weiter.

»Nicht einmal 'ne Schaufel?«, rief er ihr hinterher. »Du bist eine tolle barmherzige Samariterin.«

Der Mann spottete, während sie ihren Weg fortsetzte, aber sie beachtete den Hohn nicht, solange er in Hörweite blieb.

Als sie das Lager erreichte, sah sie ein, dass sie umziehen musste. Sie befand sich zu nahe am Ort einer Bluttat, weshalb sie sich hier nicht mehr zu Hause fühlen durfte. Darum begann sie, ihr Zelt abzubrechen, und tat es zügig. Beim Befüllen ihres Rucksacks fiel ihr ein Klappspaten in die Hände, und sie hielt inne. Was wäre schlimm daran, wenn er seine Stephanie begraben würde?, dachte sie, doch gleich darauf kam ihr ein Gegenargument in den Sinn. Ist es nicht egal? Vermutlich hat er eh schon ins Gras gebissen. Sie legte das Werkzeug zur Seite und packte weiter, aber der erste Gedanke ließ sie nicht los. Genervt, weil sie sich deswegen nicht konzentrieren konnte, nahm sie sich vor: Falls der Kerl noch lebte, würde sie ihm helfen; sollte sie ihn tot vorfinden, wollte sie die beiden dort liegen lassen, wo sie gefallen waren.

Nachdem sie sich den Spaten geschnappt hatte, nahm sie ihr Gewehr und lief zurück.

Am Waldrand blieb sie stehen und sah sich sicherheitshalber zuerst in der Umgebung um. Da die Luft rein war, näherte sie sich dem Mann.

Er kauerte noch an derselben Stelle, wo sie ihn zurückgelassen hatte, nun aber mit dem Rücken zu ihr.

Sie ging vorsichtig weiter.

»Bitte sag mir, dass du deine Meinung geändert hast«, begann er.

Lexi trat an ihm vorbei und schaute ihn an. »Hier«, sagte sie und hielt ihm den Spaten hin.

Er streckte eine Hand aus und nahm ihn. »Danke.«

Im Bewusstsein seines bedenklichen Zustandes bot sie an. »Ich kann helfen.«

»Machst du jetzt auf freundlich?«, fragte er scherzhaft.

Sein Shirt war vollständig blutgetränkt, und sein Gesicht leichenblass.

»Du wirst sterben«, erwiderte Lexi lapidar.

»Danke für die Info«, gab er zurück, während er den Spaten aufklappte. Dann kniete er sich aufrecht hin, holte weit aus und rammte ihn auf den harten Boden, womit er aber kaum etwas bewirkte. Noch zweimal versuchte er es ebenso vergeblich. »Die Erde ist gefroren.«

»Das nun nicht gerade, doch ja, ein Loch auszuheben, dürfte schwierig werden«, bestätigte Lexi.

»Du bist nie um einen guten Rat verlegen, was?«, fragte er und musste husten.

»Hier liegen viele dicke Steine rum; tragen wir welche zusammen und decken sie damit zu«, schlug sie vor.

Der Mann warf den Spaten beiseite. »Gute Idee«, fand er. Dann stand er auf, bloß wurde ihm schwindlig, als er den ersten Schritt machen wollte. Er sah Lexi an und murmelte: »Ich … äh.« Prompt kippte er um.

Als Lexi seinen Puls überprüfte, stellte sie fest, dass er noch lebte. Sie schaute sich um und dann auf ihre Uhr. Es war fast Mittag. Sie erwog, ihn liegen zu lassen, brachte es aber nicht über sich. »Da hast du wieder den Salat, Lexi«, warf sie sich vor.

Sandy, Utah

Pablo warf einen Blick ins Gefangenenzelt und bemerkte, dass die drei Männer verschwunden waren. Das Einzige, was zurückblieb, waren Spuren ihres Blutes, sonst hätte man meinen können, sie seien nie dort gewesen. Seine Folterwerkzeuge lagen noch auf dem Tisch, so wie er sie dagelassen hatte.

Ein Soldat ging vorbei. Er wusste nicht, wer Pablo war.

Dieser fragte: »Wo ist General Luis?«

»Weg.«

»Wie, weg?«

»Er ist heute Morgen mit einem kleinen Verband aufgebrochen«, antwortete der Soldat.

»Wer hat das Kommando übernommen?«

»Wer bist du?«, erwiderte der Mann.

Pablo baute sich dicht vor ihm auf und stellte klar: »Ich bin dein Imperator.«

Der geringschätzige Gesichtsausdruck des Soldaten wich einer angstvollen Miene. Er ging auf einem Knie nieder und bat: »Verzeih mir, Imperator.«

»Wer hat nun das Kommando?«

»Colonel Reyes.«

»Wo steckt er?«

»Er sollte im Kommandozelt sein, Sir.«

Pablo stieß den Soldaten aus dem Weg und humpelte dorthin. Er hasste es, außen vor gelassen zu werden, wenn etwas Wichtiges geschah. Warum hatte Luis nicht mitgeteilt, dass er das Lager verlassen würde?

Just als Pablo das Kommandozelt erreichte, kam Reyes heraus.

Er erkannte den Mann wieder. »Colonel«, hob er an. Zuvor hatten die beiden höchstens zwanzig Worte miteinander gewechselt.

»Mein Imperator«, entgegnete Reyes, der erschrak, Pablo zu treffen.

»Wo ist General Luis?«

»Herr, er hat das Lager heute Morgen mit mehreren Männern verlassen.«

»Das weiß ich«, sagte Pablo verdrießlich. »Wohin wollte er?«

»Wir haben neue Informationen aus Vernehmungen gewonnen, und er musste sofort darauf reagieren.«

»Warum hat er mir nicht Bescheid gesagt?«

»Mir wurde der Eindruck vermittelt, dies sei geschehen, Herr.«

»Niemand hat etwas gesagt«, fuhr Pablo mit seiner knarrenden Stimme auf.

»Herr, ich erinnere mich genau daran, dass er zweimal versucht hat, dich anzurufen«, beteuerte Reyes.

Da schlug Pablo ihm mit der flachen Hand ins Gesicht. »Kein Schwein hat mich angerufen.«

Bestürzt entgegnete der Colonel: »Verstanden, Herr.«

»Hat er erwähnt, wohin er will?«

»Zu einer Mormonenkirche südlich von hier in der Stadt Drake«, gab Reyes an.

»Wieso?«, fragte Pablo weiter, indem er den Offizier am Kragen packte.

»Herr, diese Amerikaner haben uns erzählt, dass dort große Essensbestände und andere Versorgungsmittel lagern.«

»Sonst nichts?«

»Nein, Herr. Sonst nichts, von der anderen Sache haben sie keine Ahnung.«

»Lügst du?«

»Nein, Herr«, versicherte der Colonel. Diese Unterstellung kränkte ihn.

»Hector, kommen. Over.« Es war Annaliese, die sich nun per Funk meldete.

Pablo ließ Reyes los, betätigte die Sprechtaste seines Geräts und sagte: »Ja?«

»Wo sind Sie?«

»Im Lager«, antwortete er.

»Wenn Sie fertig sind, bräuchten wir Sie in der Krankenstation.«

»In Ordnung.« Damit steckte er das Funkgerät wieder ein.

Reyes sah ihn stutzig an. Sein Herrscher führte augenscheinlich ein Doppelleben.

»Wenn General Luis zurückkehrt, soll er mich endlich anrufen«, verlangte er.

 

»Jawohl, Herr.«

Pablo verließ das Lager. Auf dem Weg griff er in seine offene Jacke und nahm das Satellitentelefon heraus, das ihm der General gegeben hatte. Als er einen Knopf drückte, blieb die Anzeige schwarz. Er versuchte es mehrmals – auch die Einschalttaste –, doch nichts geschah. Schließlich fiel ihm ein, dass er vergessen hatte, den Akku aufzuladen. Dem Ding fehlte der Saft.

Gedächtnislücken machten ihm seit dem Absturz zu schaffen, aber im Laufe der vergangenen Wochen war es schlimmer geworden. Er stieg in den Ranger und fuhr zur Krankenstation, zurück in sein Parallelleben.

Banff, Alberta, Westkanada

Gordon hatte während des Flugs angenommen, man sperre Cruz und ihn in irgendeine Zelle oder ein stinkendes Verlies. Doch Jacques bewies ein Mindestmaß Anstand, indem er sie in einem luxuriösen Zimmer im Fairmont Banff Springs unterbrachte, dem Fünfsternehotel eines einstigen Ferienressorts für wohlhabende Touristen, die in ihrem Urlaub das Beste im Bereich Naturfreizeit erleben wollten. Gordon hatte den Raum nach Hinweisen über ihren Aufenthaltsort abgesucht. Fündig geworden war er am Schreibtisch, denn darin lagen Werbebroschüren der Anlage, eine alte Zimmerservicekarte und eine Liste von Urlaubsveranstaltungen sowie Unternehmungsmöglichkeiten.

Kurz darauf hatte sich tatsächlich ein Zimmerservice eingefunden und einen Satz frischer Kleider gebracht. Die beiden Dinge, die ihm lieber gewesen wären als pochierte Eier auf Toast und Bettzeug aus ägyptischer Baumwolle waren sein Telefon und eine Waffe. Nicht auszudenken, wie besorgt Samantha und Haley sein mochten … Wieder einmal war er ein Wagnis eingegangen und in Gefangenschaft geraten. Ausgehend von der Behandlung allerdings, die ihm bisher zuteilwurde, schien er weniger Gefangener als vielmehr ein Gast zu sein. Hoffentlich erhielt er bald die Gewissheit, dass Letzteres der Fall war. Oder handelte es sich um irgendeine abgefeimte List? Er war ohnehin mürrisch, doch der Gedanke an John Steele und dessen mutmaßlichen Tod verschlechterte seine Stimmung weiter. Falls er das hier überstand, musste er vor der Ehefrau und dem Sohn seines Gefährten Rechenschaft darüber ablegen, warum er John einer Gefahr ausgesetzt hatte, die ihn letztlich sein Leben gekostet hatte.

Jacques und er hatten Monate zuvor einen Vertrag miteinander abgeschlossen, der eine Klausel bezüglich gegenseitiger militärischer wie humanitärer Unterstützung enthielt, was also auch soldatische Verstärkung miteinbezog. Doch als Gordon ihn gleich nach seiner Niederlage in Mountain Home verständigt hatte, war Jacques tatenlos geblieben – der Beweis dafür, dass Jones und John ihn richtig eingeschätzt hatten.

Nun trat Gordon an ein breites Fenster und schaute hinaus. Die schneebedeckten Berge wirkten würdevoll erhaben, so wie sie zum Ufer des Bow River hin abflachten. Dieser Ort war fürwahr schön, und wenn schon gefangen, dann wenigstens an einem so lauschigen Fleckchen statt in der Hitze und Dürre der Wüste östlich von Barstow.

Die Tür der geräumigen Suite ging auf.

Als er sich umdrehte, trat eine attraktive junge Frau ein; hinter ihr brachten zwei Männer einen Klapptisch und weiße Laken.

»Was soll das?«, fragte Gordon.

»Hallo, Mr. President. Ich heiße Megyn; ich bin die Stabschefin des Premierministers. Er dachte, sie könnten vor Ihrer Besprechung eine Massage vertragen.« Während sie redete, stellten ihre Begleiter den Tisch auf.

Gordon lehnte verlegen ab. »Äh, nein danke.« Die ganze Situation kam ihm völlig absurd vor.

»Wirklich nicht?«, hakte sie nach. »Sie dürfen sich entweder von einem Mann oder einer Frau massieren lassen, sagen Sie mir einfach, wie Sie es mögen.«

»Ich bin mir sicher – zu einhundert Prozent –, dass ich nicht will«, betonte Gordon.

Die Stabschefin schnippte mit den Fingern, woraufhin die beiden Männer den Tisch wieder zusammenklappten und mit nach draußen nahmen. »Brauchen Sie in der Zwischenzeit etwas anderes?«

»Mir fehlt nichts, aber sie könnten mir ein paar Fragen beantworten.« Gordon ging auf sie zu.

Die Frau hatte ihre fülligen, braunen Haare zu einem straffen Dutt am Hinterkopf gewickelt und hielt sich auffallend gerade. Zweifellos hatte sie zu Hochzeiten des Ressorts hier gearbeitet.

»Ich weiß nicht genau, ob ich alle beantworten kann, aber nur zu, fragen Sie.«

»Wo ist Präsident Cruz?«

»In der Etage unter Ihnen.«

»Sie erwähnten eine bevorstehende Besprechung. Ich schätze, mit Jacques, richtig?«

»Richtig, Sir, mit dem Premierminister.«

»Darf ich das Zimmer verlassen, wenn ich möchte?«

»Im Moment nicht, tut mir sehr leid, Sir.«

Gordon überlegte, was ihm sonst auf dem Herzen lag, ging aber stark davon aus, sie sei ahnungslos, und falls nicht, würde sie ohnehin keine Details ausplaudern.

»Wäre das dann alles?«, fragte sie.

»Ja, danke Ihnen.«

Megyn drehte sich zum Gehen um, zögerte aber und wandte sich wieder an Gordon. »Darf ich Ihnen einen Rat geben?«

»Was spricht dagegen? Momentan kann ich jeden Tipp gut gebrauchen.«

»Tun Sie, was er sagt. Falls Sie glauben, ihm ein Schnippchen schlagen zu können – ob sofort oder später –, vergessen Sie das. Der Premierminister versteht meisterhaft, was er tut; er ist allen anderen immerzu mindestens zwei Schritte voraus.«

»Ein interessanter Rat«, befand Gordon.

»Ich weise Sie nur darauf hin, weil ich hörte, Sie hätten einen gewissen Ruf.«

»Das hörte ich auch schon, aber was hat man Ihnen erzählt?«, fragte er.

»Dass Sie ein starker Mann sind, sehr einfallsreich, allerdings auch impulsiv«, antwortete sie. »Also dann, sollte ich nichts mehr für Sie tun können, gehe ich.« Damit verschwand sie.

Diese Einschätzung seiner selbst war Gordon in der Tat bereits geläufig. Er würde den Rat der Stabschefin beherzigen, zumindest bis er jenen intensiven Drang verspürte, aktiv zu werden. Nun drehte er sich wieder zum Fenster um und schaute hinaus. Diese ganze Sache war seltsam, doch andererseits stand die Welt schon seit einiger Zeit Kopf. Er sah voraus, dass die Gefälligkeiten bald ein Ende haben würden, und rechnete mit Antworten auf seine wesentlichen Fragen in Bezug auf das, was Jacques wirklich im Schilde führte.

Cheyenne, Wyoming, Vereinigte Staaten

»Was soll das heißen, der Verbleib der Leiche des Präsidenten ist unbekannt?«, wollte Baxter wissen.«

»Genau dies, Sir«, antwortete der Gerichtsmediziner, »eben dass uns noch nicht gelungen ist, sie zu finden, was aber keineswegs bedeutet, dass es nicht noch geschehen kann. Die Bombe lag im Boden eingelassen unter der ersten Bankreihe. Dort saß der Präsident normalerweise, also ist es durchaus denkbar, dass sein Körper zerfetzt wurde, obwohl wir normalerweise Teile finden, anhand welcher sich Tote identifizieren lassen, einen Finger oder Zeh, selbst ein Auge würde zum Abgleichen der biometrischen Daten reichen. Wie Sie wissen, sah es in der Kirche wüst aus, weshalb es eine Weile dauern wird, alles zu sichten.«

»Ich hätte bloß gern eine Bestätigung«, fuhr Baxter fort. »Was ist mit den Leichen seiner persönlichen Leibwächter? Wurde einer von ihnen gefunden?«

»Das wissen wir bald, Sir.«

»Halten Sie mich – und zwar nur mich – auf dem Laufenden, verstanden?«, verlangte der General.

»Ja, Sir«, bestätigte der Mediziner und stand auf, um zu gehen. »Sir, Sie halten es offensichtlich für vorstellbar, dass der Präsident nicht dort gewesen ist. Haben Sie einen Grund für diese Annahme?«

»Ich bin nur gründlich, sonst nichts«, erwiderte der General, dessen Zweifel jedoch stetig zunahmen. Zuerst hatte alles darauf hingedeutet, Cruz sei tot, denn er hätte laut Terminplan den Gottesdienst besuchen sollen, doch zwei Überlebende entsannen sich, ihn nicht gesehen zu haben. Als dies in der vorangegangenen Nacht bis zu Baxter durchgedrungen war, hatte es ihm die Freude darüber verdorben, womöglich neuer oberster Kriegsherr zu werden. Sollte der Präsident etwa davongekommen sein?

»Ich ziehe mich zurück und mache mit meiner Arbeit weiter, Sir, aber eines noch: Falls der Präsident noch lebt, wo ist er?«

Darauf wollte Baxter keine Antwort geben. Er sah sein Gegenüber kritisch an und sagte nur: »Danke, dass Sie gekommen sind. Geben Sie Bescheid, sobald es etwas Neues gibt.«

Als der Gerichtsmediziner die Tür öffnete, wurde er zur Seite gestoßen, da Eli Bennett hereinstürmte. »Wir müssen reden.«

Cruz leitende Assistentin Laura trat gleich hinter ihm ein. »Sir, Sie haben keine Erlaubnis, hier zu sein.«

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