Zur Genealogie der Moral

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LUNATA


Zur Genealogie der Moral

Zur Genealogie der Moral

Eine Streitschrift

© 1886 Friedrich Wilhelm Nietzsche

Überarbeitete Neuauflage

© Lunata Berlin 2020

Dem letztveröffentlichten

»Jenseits von Gut und Böse«

zur Ergänzung und Verdeutlichung beigegeben

Inhalt

Vorrede

Erste Abhandlung: »Gut und Böse«, »Gut und Schlecht«

Zweite Abhandlung: »Schuld«, »schlechtes Gewissen« und Verwandtes

Dritte Abhandlung: Was bedeuten asketische Ideale?

Über den Autor

Vorrede

1

Wir sind uns unbekannt, wir Erkennenden, wir selbst uns selbst: das hat seinen guten Grund. Wir haben nie nach uns gesucht – wie sollte es geschehn, daß wir eines Tages uns fänden? Mit Recht hat man gesagt: »wo euer Schatz ist, da ist auch euer Herz«; unser Schatz ist, wo die Bienenkörbe unsrer Erkenntnis stehn. Wir sind immer dazu unterwegs, als geborene Flügeltiere und Honigsammler des Geistes, wir kümmern uns von Herzen eigentlich nur um eins – etwas »heimzubringen«. Was das Leben sonst, die sogenannten »Erlebnisse« angeht – wer von uns hat dafür auch nur Ernst genug? Oder Zeit genug? Bei solchen Sachen waren wir, fürchte ich, nie recht »bei der Sache«: wir haben eben unser Herz nicht dort – und nicht einmal unser Ohr! Vielmehr wie ein Göttlich-Zerstreuter und In-sich-Versenkter, dem die Glocke eben mit aller Macht ihre zwölf Schläge des Mittags ins Ohr gedröhnt hat, mit einem Male aufwacht und sich fragt »was hat es da eigentlich geschlagen?« so reiben auch wir uns mitunter hinterdrein die Ohren und fragen, ganz erstaunt, ganz betreten, »was haben wir da eigentlich erlebt?« mehr noch: »wer sind wir eigentlich?« und zählen nach, hinterdrein, wie gesagt, alle die zitternden zwölf Glockenschläge unsres Erlebnisses, unsres Lebens, unsres Seins – ach! und verzählen uns dabei ... Wir bleiben uns eben notwendig fremd, wir verstehn uns nicht, wir müssen uns verwechseln, für uns heißt der Satz in alle Ewigkeit »Jeder ist sich selbst der Fernste« – für uns sind wir keine »Erkennenden«...

2

– Meine Gedanken über die Herkunft unsrer moralischen Vorurteile – denn um sie handelt es sich in dieser Streitschrift – haben ihren ersten, sparsamen und vorläufigen Ausdruck in jener Aphorismen-Sammlung erhalten, die den Titel trägt »Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister«, und deren Niederschrift in Sorrent begonnen wurde, während eines Winters, welcher es mir erlaubte, haltzumachen, wie ein Wanderer haltmacht, und das weite und gefährliche Land zu überschauen, durch das mein Geist bis dahin gewandert war. Dies geschah im Winter 1876-77; die Gedanken selbst sind älter. Es waren in der Hauptsache schon die gleichen Gedanken, die ich in den vorliegenden Abhandlungen wieder aufnehme – hoffen wir, daß die lange Zwischenzeit ihnen gutgetan hat, daß sie reifer, heller, stärker, vollkommner geworden sind! Daß ich aber heute noch an ihnen festhalte, daß sie sich selber inzwischen immer fester aneinander gehalten haben, ja ineinander gewachsen und verwachsen sind, das stärkt in mir die frohe Zuversichtlichkeit, sie möchten von Anfang an in mir nicht einzeln, nicht beliebig, nicht sporadisch entstanden sein, sondern aus einer gemeinsamen Wurzel heraus, aus einem in der Tiefe gebietenden, immer bestimmter redenden, immer Bestimmteres verlangenden Grundwillen der Erkenntnis. So allein nämlich geziemt es sich bei einem Philosophen. Wir haben kein Recht darauf, irgendworin einzeln zu sein: wir dürfen weder einzeln irren noch einzeln die Wahrheit treffen. Vielmehr mit der Notwendigkeit, mit der ein Baum seine Früchte trägt, wachsen aus uns unsre Gedanken, unsre Werte, unsre Jas und Neins und Wenns und Obs – verwandt und bezüglich allesamt untereinander und Zeugnisse eines Willens, einer Gesundheit, eines Erdreichs, einer Sonne. – Ob sie euch schmecken, diese unsre Früchte? – Aber was geht das die Bäume an! Was geht das uns an, uns Philosophen!...

3

Bei einer mir eignen Bedenklichkeit, die ich ungern eingestehe – sie bezieht sich nämlich auf die Moral, auf alles, was bisher auf Erden als Moral gefeiert worden ist –, einer Bedenklichkeit, welche in meinem Leben so früh, so unaufgefordert, so unaufhaltsam, so in Widerspruch gegen Umgebung, Alter, Beispiel, Herkunft auftrat, daß ich beinahe das Recht hätte, sie mein »A priori« zu nennen – mußte meine Neugierde ebenso wie mein Verdacht beizeiten an der Frage haltmachen, welchen Ursprung eigentlich unser Gut und Böse habe. In der Tat ging mir bereits als dreizehnjährigem Knaben das Problem vom Ursprung des Bösen nach: ihm widmete ich, in einem Alter, wo man »halb Kinderspiele, halb Gott im Herzen« hat, mein erstes literarisches Kinderspiel, meine erste philosophische Schreibübung – und was meine damalige »Lösung« des Problems anbetrifft, nun, so gab ich, wie es billig ist, Gott die Ehre und machte ihn zum Vater des Bösen. Wollte es gerade so mein »A priori« von mir? jenes neue unmoralische, mindestens immoralistische »A priori« und der aus ihm redende ach! so anti-Kantische, so rätselhafte »kategorische Imperativ«, dem ich inzwischen immer mehr Gehör und nicht nur Gehör geschenkt habe?... Glücklicherweise lernte ich beizeiten das theologische Vorurteil von dem moralischen abscheiden und suchte nicht mehr den Ursprung des Bösen hinter der Welt. Etwas historische und philologische Schulung, eingerechnet ein angeborener wählerischer Sinn in Hinsicht auf psychologische Fragen überhaupt, verwandelte in Kürze mein Problem in das andre: unter welchen Bedingungen erfand sich der Mensch jene Werturteile gut und böse? und welchen Wert haben sie selbst? Hemmten oder förderten sie bisher das menschliche Gedeihen? Sind sie ein Zeichen von Notstand, von Verarmung, von Entartung des Lebens? Oder umgekehrt, verrät sich in ihnen die Fülle, die Kraft, der Wille des Lebens, sein Mut, seine Zuversicht, seine Zukunft? – Darauf fand und wagte ich bei mir mancherlei Antworten, ich unterschied Zeiten, Völker, Ranggrade der Individuen, ich spezialisierte mein Problem, aus den Antworten wurden neue Fragen, Forschungen, Vermutungen, Wahrscheinlichkeiten: bis ich endlich ein eignes Land, einen eignen Boden hatte, eine ganze verschwiegene wachsende blühende Welt, heimliche Gärten gleichsam, von denen niemand etwas ahnen durfte... O wie wir glücklich sind, wir Erkennenden, vorausgesetzt, daß wir nur lange genug zu schweigen wissen!...

4

Den ersten Anstoß, von meinen Hypothesen über den Ursprung der Moral etwas zu verlautbaren, gab mir ein klares, sauberes und kluges, auch altkluges Büchlein, in welchem mir eine umgekehrte und perverse Art von genealogischen Hypothesen, ihre eigentlich englische Art, zum ersten Male deutlich entgegentrat, und das mich anzog – mit jener Anziehungskraft, die alles Entgegengesetzte, alles Antipodische hat. Der Titel des Büchleins war »Der Ursprung der moralischen Empfindungen«; sein Verfasser Dr. Paul Rée; das Jahr seines Erscheinens 1877. Vielleicht habe ich niemals etwas gelesen, zu dem ich dermaßen, Satz für Satz, Schluß für Schluß, bei mir nein gesagt hätte wie zu diesem Buche: doch ganz ohne Verdruss und Ungeduld. In dem vorher bezeichneten Werke, an dem ich damals arbeitete, nahm ich gelegentlich und ungelegentlich auf die Sätze jenes Buches Bezug, nicht indem ich sie widerlegte – was habe ich mit Widerlegungen zu schaffen! – sondern, wie es einem positiven Geiste zukommt, an Stelle des Unwahrscheinlichen das Wahrscheinlichere setzend, unter Umständen an Stelle eines Irrtums einen andern. Damals brachte ich, wie gesagt, zum ersten Male jene Herkunfts-Hypothesen ans Tageslicht, denen diese Abhandlungen gewidmet sind, mit Ungeschick, wie ich mir selbst am letzten verbergen möchte, noch unfrei, noch ohne eine eigne Sprache für diese eignen Dinge und mit mancherlei Rückfälligkeit und Schwankung. Im einzelnen vergleiche man, was ich »Menschliches, Allzumenschliches« (I 483 f.) über die doppelte Vorgeschichte von Gut und Böse sage (nämlich aus der Sphäre der Vornehmen und der der Sklaven); insgleichen (ebd. 535 ff.) über Wert und Herkunft der asketischen Moral; insgleichen (ebd. 504 ff. u. 770) über die »Sittlichkeit der Sitte«, jene viel ältere und ursprünglichere Art Moral, welche toto coelo von der altruistischen Wertungsweise abliegt (in der Dr. Rée, gleich allen englischen Moralgenealogen, die moralische Wertungsweise an sich sieht); insgleichen (ebd. 501 f.), »Wanderer« (ebd. 885 f.), »Morgenröte« (ebd. 1084 f.) über die Herkunft der Gerechtigkeit als eines Ausgleichs zwischen ungefähr Gleich-Mächtigen (Gleichgewicht als Voraussetzung aller Verträge, folglich alles Rechts); insgleichen über die Herkunft der Strafe »Wanderer« (ebd. 881 f. u. 890 f.), für die der terroristische Zweck weder essentiell noch ursprünglich ist (wie Dr. Rée meint – er ist ihr vielmehr erst eingelegt, unter bestimmten Umständen, und immer als ein Nebenbei, als etwas Hinzukommendes).

 

5

Im Grunde lag mir gerade damals etwas viel Wichtigeres am Herzen als eigenes oder fremdes Hypothesenwesen über den Ursprung der Moral (oder, genauer: letzteres allein um eines Zweckes willen, zu dem es eins unter vielen Mitteln ist). Es handelte sich für mich um den Wert der Moral – und darüber hatte ich mich fast allein mit meinem großen Lehrer Schopenhauer auseinanderzusetzen, an den wie an einen Gegenwärtigen jenes Buch, die Leidenschaft und der geheime Widerspruch jenes Buchs sich wendet (– denn auch jenes Buch war eine »Streitschrift«). Es handelte sich insonderheit um den Wert des »Unegoistischen«, der Mitleids-, Selbstverleugnungs-, Selbstopferungs-Instinkte, welche gerade Schopenhauer so lange vergoldet, vergöttlicht und verjenseitigt hatte, bis sie ihm schließlich als die »Werte an sich« übrigblieben, auf Grund deren er zum Leben, auch zu sich selbst, nein sagte. Aber gerade gegen diese Instinkte redete aus mir ein immer grundsätzlicherer Argwohn, eine immer tiefer grabende Skepsis! Gerade hier sah ich die große Gefahr der Menschheit, ihre sublimste Lockung und Verführung – wohin doch? ins Nichts? –, gerade hier sah ich den Anfang vom Ende, das Stehenbleiben, die zurückblickende Müdigkeit, den Willen gegen das Leben sich wendend, die letzte Krankheit sich zärtlich und schwermütig ankündigend: ich verstand die immer mehr um sich greifende Mitleids-Moral, welche selbst die Philosophen ergriff und krank machte, als das unheimlichste Symptom unsrer unheimlich gewordenen europäischen Kultur, als ihren Umweg zu einem neuen Buddhismus? zu einem Europäer-Buddhismus? zum – Nihilismus?... Diese moderne Philosophen-Bevorzugung und Überschätzung des Mitleidens ist nämlich etwas Neues: gerade über den Unwert des Mitleidens waren bisher die Philosophen übereingekommen. Ich nenne nur Plato, Spinoza, Larochefoucauld und Kant, vier Geister so verschieden voneinander als möglich, aber in einem eins: in der Geringschätzung des Mitleidens. –

6

Dies Problem vom Werte des Mitleids und der Mitleids-Moral (– ich bin ein Gegner der schändlichen modernen Gefühlsverweichlichung –) scheint zunächst nur etwas Vereinzeltes, ein Fragezeichen für sich; wer aber einmal hier hängenbleibt, hier fragen lernt, dem wird es gehn, wie es mir ergangen ist – eine ungeheure neue Aussicht tut sich ihm auf, eine Möglichkeit faßt ihn wie ein Schwindel, jede Art Mißtrauen, Argwohn, Furcht springt hervor, der Glaube an die Moral, an alle Moral wankt – endlich wird eine neue Forderung laut. Sprechen wir sie aus, diese neue Forderung: wir haben eine Kritik der moralischen Werte nötig, der Wert dieser Werte ist selbst erst einmal in Frage zu stellen – und dazu tut eine Kenntnis der Bedingungen und Umstände not, aus denen sie gewachsen, unter denen sie sich entwickelt und verschoben haben (Moral als Folge, als Symptom, als Maske, als Tartüfferie, als Krankheit, als Missverständnis; aber auch Moral als Ursache, als Heilmittel, als Stimulans, als Hemmung, als Gift), wie eine solche Kenntnis weder bis jetzt da war, noch auch nur begehrt worden ist. Man nahm den Wert dieser »Werte« als gegeben, als tatsächlich, als jenseits aller In-Frage-Stellung; man hat bisher auch nicht im entferntesten daran gezweifelt und geschwankt, »den Guten« für höherwertig als »den Bösen« anzusetzen, höherwertig im Sinne der Förderung, Nützlichkeit, Gedeihlichkeit in Hinsicht auf den Menschen überhaupt (die Zukunft des Menschen eingerechnet). Wie? wenn das Umgekehrte die Wahrheit wäre? Wie? wenn im »Guten« auch ein Rückgangssymptom läge, insgleichen eine Gefahr, eine Verführung, ein Gift, ein Narkotikum, durch das etwa die Gegenwart auf Kosten der Zukunft lebte? Vielleicht behaglicher, ungefährlicher, aber auch in kleinerem Stile, niedriger?... So daß gerade die Moral daran schuld wäre, wenn eine an sich mögliche höchste Mächtigkeit und Pracht des Typus Mensch niemals erreicht würde? So daß gerade die Moral die Gefahr der Gefahren wäre?...

7

Genug, daß ich selbst, seitdem mir dieser Ausblick sich öffnete, Gründe hatte, mich nach gelehrten, kühnen und arbeitsamen Genossen umzusehn (ich tue es heute noch). Es gilt, das ungeheure, ferne und so versteckte Land der Moral – der wirklich dagewesenen, wirklich gelebten Moral – mit lauter neuen Fragen und gleichsam mit neuen Augen zu bereisen: und heißt dies nicht beinahe soviel als dieses Land erst entdecken?... Wenn ich dabei, unter anderen, auch an den genannten Dr. Rée dachte, so geschah es, weil ich gar nicht zweifelte, daß er von der Natur seiner Fragen selbst auf eine richtigere Methodik, um zu Antworten zu gelangen, gedrängt werden würde. Habe ich mich darin betrogen?

Mein Wunsch war es jedenfalls, einem so scharfen und unbeteiligten Auge eine bessere Richtung, die Richtung zur wirklichen Historie der Moral zu geben und ihn vor solchem englischen Hypothesenwesen ins Blaue noch zur rechten Zeit zu warnen. Es liegt ja auf der Hand, welche Farbe für einen Moral-Genealogen hundertmal wichtiger sein muß als gerade das Blaue: nämlich das Graue, will sagen, das Urkundliche, das Wirklich-Feststellbare, das Wirklich-Dagewesene, kurz die ganze lange, schwer zu entziffernde Hieroglyphenschrift der menschlichen Moral-Vergangenheit!

Diese war dem Dr. Rée unbekannt; aber er hatte Darwin gelesen – und so reichen sich in seinen Hypothesen auf eine Weise, die zum mindesten unterhaltend ist, die Darwinsche Bestie und der allermodernste bescheidne Moral-Zärtling, der »nicht mehr beißt«, artig die Hand, letzterer mit dem Ausdruck einer gewissen gutmütigen und feinen Indolenz im Gesicht, in die selbst ein Gran von Pessimismus, von Ermüdung eingemischt ist: als ob es sich eigentlich gar nicht lohne, alle diese Dinge – die Probleme der Moral – so ernst zu nehmen. Mir nun scheint es umgekehrt gar keine Dinge zu geben, die es mehr lohnten, daß man sie ernst nimmt; zu welchem Lohne es zum Beispiel gehört, daß man eines Tags vielleicht die Erlaubnis erhält, sie heiter zu nehmen. Die Heiterkeit nämlich oder, um es in meiner Sprache zu sagen, die fröhliche Wissenschaft – ist ein Lohn: ein Lohn für einen langen, tapferen, arbeitsamen und unterirdischen Ernst, der freilich nicht jedermanns Sache ist. An dem Tage aber, wo wir aus vollem Herzen sagen: »vorwärts! auch unsre alte Moral gehört in die Komödie!« haben wir für das dionysische Drama vom »Schicksal der Seele« eine neue Verwicklung und Möglichkeit entdeckt –: und er wird sie sich schon zunutze machen, darauf darf man wetten, er, der große alte ewige Komödiendichter unsres Daseins!...

8

– Wenn diese Schrift irgend jemandem unverständlich ist und schlecht zu Ohren geht, so liegt die Schuld, wie mich dünkt, nicht notwendig an mir. Sie ist deutlich genug, vorausgesetzt, was ich voraussetze, daß man zuerst meine früheren Schriften gelesen und einige Mühe dabei nicht gespart hat: diese sind in der Tat nicht leicht zugänglich. Was zum Beispiel meinen »Zarathustra« anbetrifft, so lasse ich niemanden als dessen Kenner gelten, den nicht jedes seiner Worte irgendwann einmal tief verwundet und irgendwann einmal tief entzückt hat: erst dann nämlich darf er des Vorrechts genießen, an dem halkyonischen Element, aus dem jenes Werk geboren ist, an seiner sonnigen Helle, Ferne, Weite und Gewissheit ehrfürchtig Anteil zu haben. In andern Fällen macht die aphoristische Form Schwierigkeit: sie liegt darin, daß man diese Form heute nicht schwer genug nimmt. Ein Aphorismus, rechtschaffen geprägt und ausgegossen, ist damit, daß er abgelesen ist, noch nicht »entziffert«; vielmehr hat nun erst dessen Auslegung zu beginnen, zu der es einer Kunst der Auslegung bedarf.

Ich habe in der dritten Abhandlung dieses Buchs ein Muster von dem dargeboten, was ich in einem solchen Falle »Auslegung« nenne – dieser Abhandlung ist ein Aphorismus vorangestellt, sie selbst ist dessen Kommentar. Freilich tut, um dergestalt das Lesen als Kunst zu üben, eins vor allem not, was heutzutage gerade am besten verlernt worden ist – und darum hat es noch Zeit bis zur »Lesbarkeit« meiner Schriften –, zu dem man beinahe Kuh und jedenfalls nicht »moderner Mensch« sein muß: das Wiederkäuen...

Sils-Maria, Oberengadin, im Juli 1887

Erste Abhandlung: »Gut und Böse«, »Gut und Schlecht«

1

– Diese englischen Psychologen, denen man bisher auch die einzigen Versuche zu danken hat, es zu einer Entstehungsgeschichte der Moral zu bringen – sie geben uns mit sich selbst kein kleines Rätsel auf; sie haben sogar, daß ich es gestehe, eben damit, als leibhaftige Rätsel, etwas Wesentliches vor ihren Büchern voraus – sie selbst sind interessant! Diese englischen Psychologen – was wollen sie eigentlich? Man findet sie, sei es nun freiwillig oder unfreiwillig, immer am gleichen Werke, nämlich die partie honteuse unsrer inneren Welt in den Vordergrund zu drängen und gerade dort das eigentlich Wirksame, Leitende, für die Entwicklung Entscheidende zu suchen, wo der intellektuelle Stolz des Menschen es am letzten zu finden wünschte (zum Beispiel in der vis inertiae der Gewohnheit oder in der Vergesslichkeit oder in einer blinden und zufälligen Ideen-Verhäkelung und –Mechanik oder in irgend etwas Rein-Passivem, Automatischem, Reflexmäßigem, Molekularem und Gründlich-Stupidem) – was treibt diese Psychologen eigentlich immer gerade in diese Richtung? Ist es ein heimlicher, hämischer, gemeiner, seiner selbst vielleicht uneingeständlicher Instinkt der Verkleinerung des Menschen? Oder etwa ein pessimistischer Argwohn, das Mißtrauen von enttäuschten, verdüsterten, giftig und grüngewordenen Idealisten? Oder eine kleine unterirdische Feindschaft und Rancune gegen das Christentum (und Plato), die vielleicht nicht einmal über die Schwelle des Bewusstseins gelangt ist? Oder gar ein lüsterner Geschmack am Befremdlichen, am Schmerzhaft-Paradoxen, am Fragwürdigen und Unsinnigen des Daseins? Oder endlich – von allem etwas, ein wenig Gemeinheit, ein wenig Verdüsterung, ein wenig Antichristlichkeit, ein wenig Kitzel und Bedürfnis nach Pfeffer?... Aber man sagt mir, daß es einfach alte, kalte, langweilige Frösche seien, die am Menschen herum, in den Menschen hinein kriechen und hüpfen, wie als ob sie da so recht in ihrem Elemente wären, nämlich in einem Sumpfe. Ich höre das mit Widerstand, mehr noch, ich glaube nicht daran; und wenn man wünschen darf, wo man nicht wissen kann, so wünsche ich von Herzen, daß es umgekehrt mit ihnen stehen möge – daß diese Forscher und Mikroskopiker der Seele im Grunde tapfere, großmütige und stolze Tiere seien, welche ihr Herz wie ihren Schmerz im Zaum zu halten wissen und sich dazu erzogen haben, der Wahrheit alle Wünschbarkeit zu opfern, jeder Wahrheit, sogar der schlichten, herben, häßlichen, widrigen, unchristlichen, unmoralischen Wahrheit... Denn es gibt solche Wahrheiten. –

2

Alle Achtung also vor den guten Geistern, die in diesen Historikern der Moral walten mögen! Aber gewiß ist leider, daß ihnen der historische Geist selber abgeht, daß sie gerade von allen guten Geistern der Historie selbst im Stich gelassen worden sind! Sie denken allesamt, wie es nun einmal alter Philosophen-Brauch ist, wesentlich unhistorisch; daran ist kein Zweifel. Die Stümperei ihrer Moral-Genealogie kommt gleich am Anfang zutage, da, wo es sich darum handelt, die Herkunft des Begriffs und Urteils »gut« zu ermitteln. »Man hat ursprünglich« – so dekretieren sie – »unegoistische Handlungen von Seiten derer gelobt und gut genannt, denen sie erwiesen wurden, also denen sie nützlich waren; später hat man diesen Ursprung des Lobes vergessen und die unegoistischen Handlungen einfach, weil sie gewohnheitsmäßig immer als gut gelobt wurden, auch als gut empfunden – wie als ob sie an sich etwas Gutes wären.« Man sieht sofort: diese erste Ableitung enthält bereits alle typischen Züge der englischen Psychologen-Idiosynkrasie – wir haben »die Nützlichkeit«, »das Vergessen«, »die Gewohnheit« und am Schluß »den Irrtum«, alles als Unterlage einer Wertschätzung, auf welche der höhere Mensch bisher wie auf eine Art Vorrecht des Menschen überhaupt stolz gewesen ist. Dieser Stolz soll gedemütigt, diese Wertschätzung entwertet werden: ist das erreicht?... Nun liegt für mich erstens auf der Hand, daß von dieser Theorie der eigentliche Entstehungsherd des Begriffs »gut« an falscher Stelle gesucht und angesetzt wird: das Urteil »gut« rührt nicht von denen her, welchen »Güte« erwiesen wird! Vielmehr sind es »die Guten« selber gewesen, das heißt die Vornehmen, Mächtigen, Höhergestellten und Hochgesinnten, welche sich selbst und ihr Tun als gut, nämlich als ersten Ranges empfanden und ansetzten, im Gegensatz zu allem Niedrigen, Niedrig-Gesinnten, Gemeinen und Pöbelhaften. Aus diesem Pathos der Distanz heraus haben sie sich das Recht, Werte zu schaffen, Namen der Werte auszuprägen, erst genommen: was ging sie die Nützlichkeit an! Der Gesichtspunkt der Nützlichkeit ist gerade in Bezug auf ein solches heißes Herausquellen oberster rang-ordnender, rang-abhebender Werturteile so fremd und unangemessen wie möglich: hier ist eben das Gefühl bei einem Gegensatz jenes niedrigen Wärmegrades angelangt, den jede berechnende Klugheit, jeder Nützlichkeits-Kalkul voraussetzt – und nicht für einmal, nicht für eine Stunde der Ausnahme, sondern für die Dauer. Das Pathos der Vornehmheit und Distanz, wie gesagt, das dauernde und dominierende Gesamt- und Grundgefühl einer höheren herrschenden Art im Verhältnis zu einer niederen Art, zu einem »Unten« – das ist der Ursprung des Gegensatzes »gut« und »schlecht«. (Das Herrenrecht, Namen zu geben, geht so weit, daß man sich erlauben sollte, den Ursprung der Sprache selbst als Machtäußerung der Herrschenden zu fassen: sie sagen »das ist das und das«, sie siegeln jegliches Ding und Geschehen mit einem Laute ab und nehmen es dadurch gleichsam in Besitz.) Es liegt an diesem Ursprung, daß das Wort »gut« sich von vornherein durchaus nicht notwendig an »unegoistische« Handlungen anknüpft: wie es der Aberglaube jener Moralgenealogen ist. Vielmehr geschieht es erst bei einem Niedergange aristokratischer Werturteile, daß sich dieser ganze Gegensatz »egoistisch« »unegoistisch« dem menschlichen Gewissen mehr und mehr aufdrängt – es ist, um mich meiner Sprache zu bedienen, der Herdeninstinkt, der mit ihm endlich zu Worte (auch zu Worten) kommt. Und auch dann dauert es noch lange, bis dieser Instinkt in dem Maße Herr wird, daß die moralische Wertschätzung bei jenem Gegensatz geradezu hängen und stecken bleibt (wie dies zum Beispiel im gegenwärtigen Europa der Fall ist: heute herrscht das Vorurteil, welches »moralisch«, »unegoistisch«, »désintéressé« als gleichwertige Begriffe nimmt, bereits mit der Gewalt einer »fixen Idee« und Kopfkrankheit).

 

3

Zweitens aber: ganz abgesehn von der historischen Unhaltbarkeit jener Hypothese über die Herkunft des Werturteils »gut«, krankt sie an einem psychologischen Widersinn in sich selbst. Die Nützlichkeit der unegoistischen Handlung soll der Ursprung ihres Lobes sein, und dieser Ursprung soll vergessen worden sein – wie ist dies Vergessen auch nur möglich? Hat vielleicht die Nützlichkeit solcher Handlungen irgendwann einmal aufgehört? Das Gegenteil ist der Fall: diese Nützlichkeit ist vielmehr die Alltagserfahrung zu allen Zeiten gewesen, etwas also, das fortwährend immer neu unterstrichen wurde; folglich, statt aus dem Bewusstsein zu verschwinden, statt vergessbar zu werden, sich dem Bewusstsein mit immer größerer Deutlichkeit eindrücken mußte. Um wieviel vernünftiger ist jene entgegengesetzte Theorie (sie ist deshalb nicht wahrer –), welche zum Beispiel von Herbert Spencer vertreten wird: der den Begriff »gut« als wesensgleich mit dem Begriff »nützlich«, »zweckmäßig« ansetzt, so daß in den Urteilen »gut« und »schlecht« die Menschheit gerade ihre unvergeßnen und unvergeßbaren Erfahrungen über nützlich-zweckmäßig, über schädlich-unzweckmäßig aufsummiert und sanktioniert habe. Gut ist, nach dieser Theorie, was sich von jeher als nützlich bewiesen hat: damit darf es als »wertvoll im höchsten Grade«, als »wertvoll an sich« Geltung behaupten. Auch dieser Weg der Erklärung ist, wie gesagt, falsch, aber wenigstens ist die Erklärung selbst in sich vernünftig und psychologisch haltbar.

4

– Den Fingerzeig zum rechten Wege gab mir die Frage, was eigentlich die von den verschiedenen Sprachen ausgeprägten Bezeichnungen des »Guten« in etymologischer Hinsicht zu bedeuten haben: da fand ich, daß sie allesamt auf die gleiche Begriffs-Verwandlung zurückleiten – daß überall »vornehm«, »edel« im ständischen Sinne der Grundbegriff ist, aus dem sich »gut« im Sinne von »seelisch-vornehm«, »edel«, von »seelisch-hochgeartet«, »seelisch-privilegiert« mit Notwendigkeit herausentwickelt: eine Entwicklung, die immer parallel mit jener anderen läuft, welche »gemein«, »pöbelhaft«, »niedrig« schließlich in den Begriff »schlecht« übergehn macht. Das beredteste Beispiel für das letztere ist das deutsche Wort »schlecht« selber: als welches mit »schlicht« identisch ist – vergleiche »schlechtweg«, »schlechterdings« – und ursprünglich den schlichten, den gemeinen Mann, noch ohne einen verdächtigenden Seitenblick, einfach im Gegensatz zum Vornehmen bezeichnete. Um die Zeit des Dreißigjährigen Kriegs ungefähr, also spät genug, verschiebt sich dieser Sinn in den jetzt gebräuchlichen. – Dies scheint mir in Betreff der Moral-Genealogie eine wesentliche Einsicht; daß sie so spät erst gefunden wird, liegt an dem hemmenden Einfluß, den das demokratische Vorurteil innerhalb der modernen Welt in Hinsicht auf alle Fragen der Herkunft ausübt. Und dies bis in das anscheinend objektivste Gebiet der Naturwissenschaft und Physiologie hinein, wie hier nur angedeutet werden soll. Welchen Unfug aber dieses Vorurteil, einmal bis zum Haß entzügelt, insonderheit für Moral und Historie anrichten kann, zeigt der berüchtigte Fall Buckles; der Plebejismus des modernen Geistes, der englischer Abkunft ist, brach da einmal wieder auf seinem heimischen Boden heraus, heftig wie ein schlammichter Vulkan und mit jener versalzten, überlauten, gemeinen Beredsamkeit, mit der bisher alle Vulkane geredet haben. –

5

In Hinsicht auf unser Problem, das aus guten Gründen ein stilles Problem genannt werden kann und sich wählerisch nur an wenige Ohren wendet, ist es von keinem kleinen Interesse, festzustellen, daß vielfach noch in jenen Worten und Wurzeln, die »gut« bezeichnen, die Hauptnuance durchschimmert, auf welche hin die Vornehmen sich eben als Menschen höheren Ranges fühlten. Zwar benennen sie sich vielleicht in den häufigsten Fällen einfach nach ihrer Überlegenheit an Macht (als »die Mächtigen«, »die Herren«, »die Gebietenden«) oder nach dem sichtbarsten Abzeichen dieser Überlegenheit, zum Beispiel als »die Reichen«, »die Besitzenden« (das ist der Sinn von arya; und entsprechend im Eranischen und Slavischen). Aber auch nach einem typischen Charakterzuge: und dies ist der Fall, der uns hier angeht. Sie heißen sich zum Beispiel »die Wahrhaftigen«; voran der griechische Adel, dessen Mundstück der megarische Dichter Theognis ist. Das dafür ausgeprägte Wort esthlos bedeutet der Wurzel nach einen, der ist, der Realität hat, der wirklich ist, der wahr ist; dann, mit einer subjektiven Wendung, den Wahren als den Wahrhaftigen: in dieser Phase der Begriffs-Verwandlung wird es zum Schlag- und Stichwort des Adels und geht ganz und gar in den Sinn »adelig« über, zur Abgrenzung vom lügenhaften gemeinen Manne, so wie Theognis ihn nimmt und schildert – bis endlich das Wort, nach dem Niedergange des Adels, zur Bezeichnung der seelischen Noblesse übrigbleibt und gleichsam reif und süß wird. Im Worte kakos; wie in deilos; (der Plebejer im Gegensatz zum agathos;) ist die Feigheit unterstrichen: dies gibt vielleicht einen Wink, in welcher Richtung man die etymologische Herkunft des mehrfach deutbaren agathos; zu suchen hat. Im lateinischen malus (dem ich melas zur Seite stelle) könnte der gemeine Mann als der Dunkelfarbige, vor allem als der Schwarzhaarige (»hic niger est –«) gekennzeichnet sein, als der vorarische Insasse des italischen Bodens, der sich von der herrschend gewordenen blonden, nämlich arischen Eroberer-Rasse durch die Farbe am deutlichsten abhob; wenigstens bot mir das Gälische den genau entsprechenden Fall – fin (zum Beispiel im Namen Fin-Gal) das abzeichnende Wort des Adels, zuletzt der Gute, Edle, Reine, ursprünglich der Blondkopf, im Gegensatz zu den dunklen schwarzhaarigen Ureinwohnern. Die Kelten, beiläufig gesagt, waren durchaus eine blonde Rasse; man tut Unrecht, wenn man jene Streifen einer wesentlich dunkelhaarigen Bevölkerung, die sich auf sorgfältigeren ethnographischen Karten Deutschlands bemerkbar machen, mit irgendwelcher keltischen Herkunft und Blutmischung in Zusammenhang bringt, wie dies noch Virchow tut: vielmehr schlägt an diesen Stellen die vorarische Bevölkerung Deutschlands vor. (Das gleiche gilt beinahe für ganz Europa: im wesentlichen hat die unterworfene Rasse schließlich daselbst wieder die Oberhand bekommen, in Farbe, Kürze des Schädels, vielleicht sogar in den intellektuellen und sozialen Instinkten: wer steht uns dafür, ob nicht die moderne Demokratie, der noch modernere Anarchismus und namentlich jener Hang zur »commune«, zur primitivsten Gesellschafts-Form, der allen Sozialisten Europas jetzt gemeinsam ist, in der Hauptsache einen ungeheuren Nachschlag zu bedeuten hat – und daß die Eroberer- und Herren-Rasse, die der Arier, auch physiologisch im Unterliegen ist?...) Das lateinische bonus glaube ich als »den Krieger« auslegen zu dürfen: vorausgesetzt, daß ich mit Recht bonus auf ein älteres duonus zurückführe (vergleiche bellum = duellum = duen-lum, worin mir jenes duonus erhalten scheint). Bonus somit als Mann des Zwistes, der Entzweiung (duo), als Kriegsmann: man sieht, was im alten Rom an einem Manne seine »Güte« ausmachte. Unser deutsches »Gut« selbst: sollte es nicht »den Göttlichen«, den Mann »göttlichen Geschlechts« bedeuten? Und mit dem Volks-(ursprünglich Adels-) Namen der Goten identisch sein? Die Gründe zu dieser Vermutung gehören nicht hierher. –

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