Zur Genealogie der Moral

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Von dieser Regel, daß der politische Vorrangs-Begriff sich immer in einen seelischen Vorrangs-Begriff auslöst, macht es zunächst noch keine Ausnahme (obgleich es Anlass zu Ausnahmen gibt), wenn die höchste Kaste zugleich die

priesterliche

 Kaste ist und folglich zu ihrer Gesamt-Bezeichnung ein Prädikat bevorzugt, das an ihre priesterliche Funktion erinnert. Da tritt zum Beispiel »rein« und »unrein« sich zum ersten Male als Ständeabzeichen gegenüber; und auch hier kommt später ein »gut« und ein »schlecht« in einem nicht mehr ständischen Sinne zur Entwicklung. Im übrigen sei man davor gewarnt, diese Begriffe »rein« und »unrein« nicht von vornherein zu schwer, zu weit oder gar symbolisch zu nehmen: alle Begriffe der älteren Menschheit sind vielmehr anfänglich in einem uns kaum ausdenkbaren Maße grob, plump, äußerlich, eng, geradezu und insbesondere

unsymbolisch

 verstanden worden. Der »Reine« ist von Anfang an bloß ein Mensch, der sich wäscht, der sich gewisse Speisen verbietet, die Hautkrankheiten nach sich ziehn, der nicht mit den schmutzigen Weibern des niederen Volkes schläft, der einen Abscheu vor Blut hat – nicht mehr, nicht viel mehr! Andrerseits erhellt es freilich aus der ganzen Art einer wesentlich priesterlichen Aristokratie, warum hier gerade frühzeitig sich die Wertungs-Gegensätze auf eine gefährliche Weise verinnerlichen und verschärfen konnten; und in der Tat sind durch sie schließlich Klüfte zwischen Mensch und Mensch aufgerissen worden, über die selbst ein Achill der Freigeisterei nicht ohne Schauder hinwegsetzen wird. Es ist von Anfang an etwas

Ungesundes

 in solchen priesterlichen Aristokratien und in den daselbst herrschenden, dem Handeln abgewendeten, teils brütenden, teils gefühls-explosiven Gewohnheiten, als deren Folge jene den Priestern aller Zeiten fast unvermeidlich anhaftende intestinale Krankhaftigkeit und Neurasthenie erscheint; was aber von ihnen selbst gegen diese ihre Krankhaftigkeit als Heilmittel erfunden worden ist – muß man nicht sagen, daß es sich zuletzt in seinen Nachwirkungen noch hundertmal gefährlicher erwiesen hat als die Krankheit, von der es erlösen sollte? Die Menschheit selbst krankt noch an den Nachwirkungen dieser priesterlichen Kur-Naivitäten! Denken wir zum Beispiel an gewisse Diätformen (Vermeidung des Fleisches), an das Fasten, an die geschlechtliche Enthaltsamkeit, an die Flucht »in die Wüste« (Weir Mitchellsche Isolierung, freilich ohne die darauffolgende Mastkur und Überernährung, in der das wirksamste Gegenmittel gegen alle Hysterie des asketischen Ideals besteht): hinzugerechnet die ganze sinnenfeindliche faul- und raffiniertmachende Metaphysik der Priester, ihre Selbst-Hypnotisierung nach Art des Fakirs und Brahmanen – Brahman als gläserner Knopf und fixe Idee benutzt – und das schließlich nur zu begreifliche allgemeine Satthaben mit seiner Radikalkur, dem

Nichts

 (oder Gott – das Verlangen nach einer

unio mystica

 mit Gott ist das Verlangen des Buddhisten ins Nichts, Nirvâna – und nicht mehr!). Bei den Priestern wird eben

alles

 gefährlicher, nicht nur Kurmittel und Heilkünste, sondern auch Hochmut, Rache, Scharfsinn, Ausschweifung, Liebe, Herrschsucht, Tugend, Krankheit – mit einiger Billigkeit ließe sich allerdings auch hinzufügen, daß erst auf dem Boden dieser

wesentlich gefährlichen

 Daseinsform des Menschen, der priesterlichen, der Mensch überhaupt

ein interessantes Tier

 geworden ist, daß erst hier die menschliche Seele in einem höheren Sinne

Tiefe

 bekommen hat und

böse

 geworden ist – und das sind ja die beiden Grundformen der bisherigen Überlegenheit des Menschen über sonstiges Getier!...





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– Man wird bereits erraten haben, wie leicht sich die priesterliche Wertungs-Weise von der ritterlich-aristokratischen abzweigen und dann zu deren Gegensatz fortentwickeln kann; wozu es insonderheit jedesmal einen Anstoß gibt, wenn die Priesterkaste und die Kriegerkaste einander eifersüchtig entgegentreten und über den Preis miteinander nicht einig werden wollen. Die ritterlich-aristokratischen Werturteile haben zu ihrer Voraussetzung eine mächtige Leiblichkeit, eine blühende, reiche, selbst überschäumende Gesundheit, samt dem, was deren Erhaltung bedingt, Krieg, Abenteuer, Jagd, Tanz, Kampfspiele und alles überhaupt, was starkes, freies, frohgemutes Handeln in sich schließt. Die priesterlich-vornehme Wertungs-Weise hat – wir sahen es – andre Voraussetzungen: schlimm genug für sie, wenn es sich um Krieg handelt! Die Priester sind, wie bekannt, die

bösesten Feinde

 – weshalb doch? Weil sie die ohnmächtigsten sind. Aus der Ohnmacht wächst bei ihnen der Haß ins Ungeheure und Unheimliche, ins Geistigste und Giftigste. Die ganz großen Hasser in der Weltgeschichte sind immer Priester gewesen, auch die geistreichsten Hasser – gegen den Geist der priesterlichen Rache kommt überhaupt aller übrige Geist kaum in Betracht. Die menschliche Geschichte wäre eine gar zu dumme Sache ohne den Geist, der von den Ohnmächtigen her in sie gekommen ist – nehmen wir sofort das größte Beispiel. Alles, was auf Erden gegen »die Vornehmen«, »die Gewaltigen«, »die Herren«, »die Machthaber« getan worden ist, ist nicht der Rede wert im Vergleich mit dem, was die

Juden

 gegen sie getan haben; die Juden, jenes priesterliche Volk, das sich an seinen Feinden und Überwältigern zuletzt nur durch eine radikale Umwertung von deren Werten, also durch einen Akt der

geistigsten Rache

 Genugtuung zu schaffen wußte. So allein war es eben einem priesterlichen Volke gemäß, dem Volke der zurückgetretensten priesterlichen Rachsucht. Die Juden sind es gewesen, die gegen die aristokratische Wertgleichung (gut = vornehm = mächtig = schön = glücklich = gottgeliebt) mit einer furchteinflößenden Folgerichtigkeit die Umkehrung gewagt und mit den Zähnen des abgründlichsten Hasses (des Hasses der Ohnmacht) festgehalten haben, nämlich »die Elenden sind allein die Guten, die Armen, Ohnmächtigen, Niedrigen sind allein die Guten, die Leidenden, Entbehrenden, Kranken, Häßlichen sind auch die einzig Frommen, die einzig Gottseligen, für sie allein gibt es Seligkeit – dagegen ihr, ihr Vornehmen und Gewaltigen, ihr seid in alle Ewigkeit die Bösen, die Grausamen, die Lüsternen, die Unersättlichen, die Gottlosen, ihr werdet auch ewig die Unseligen, Verfluchten und Verdammten sein!«... Man weiß, wer die Erbschaft dieser jüdischen Umwertung gemacht hat... Ich erinnere in Betreff der ungeheuren und über alle Maßen verhängnisvollen Initiative, welche die Juden mit dieser grundsätzlichsten aller Kriegserklärungen gegeben haben, an den Satz, auf den ich bei einer andren Gelegenheit gekommen bin (»Jenseits von Gut und Böse«: II 653) – daß nämlich mit den Juden

der Sklavenaufstand in der Moral

 beginnt: jener Aufstand, welcher eine zweitausendjährige Geschichte hinter sich hat und der uns heute nur deshalb aus den Augen gerückt ist, weil er – siegreich gewesen ist...





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– Aber ihr versteht das nicht? Ihr habt keine Augen für etwas, das zwei Jahrtausende gebraucht hat, um zum Siege zu kommen?... Daran ist nichts zum Verwundern: alle

langen

 Dinge sind schwer zu sehn, zu übersehn.

Das

 aber ist das Ereignis: aus dem Stamme jenes Baums der Rache und des Hasses, des jüdischen Hasses – des tiefsten und sublimsten, nämlich Ideale schaffenden, Werte umschaffenden Hasses, dessengleichen nie auf Erden dagewesen ist – wuchs etwas ebenso Unvergleichliches heraus, eine

neue Liebe

, die tiefste und sublimste aller Arten Liebe – und aus welchem andren Stamme hätte sie auch wachsen können?... Daß man aber ja nicht vermeine, sie sei etwa als die eigentliche Verneinung jenes Durstes nach Rache, als der Gegensatz des jüdischen Hasses emporgewachsen! Nein, das Umgekehrte ist die Wahrheit! Die Liebe wuchs aus ihm heraus, als seine Krone, als die triumphierende, in der reinsten Helle und Sonnenfülle sich breit und breiter entfaltende Krone, welche mit demselben Drang gleichsam im Reiche des Lichts und der Höhe auf die Ziele jenes Hasses, auf Sieg, auf Beute, auf Verführung aus war, mit dem die Wurzeln jenes Hasses sich immer gründlicher und begehrlicher in alles, was Tiefe hatte und böse war, hinuntersenkten. Dieser Jesus von Nazareth, als das leibhafte Evangelium der Liebe, dieser den Armen, den Kranken, den Sündern die Seligkeit und den Sieg bringende »Erlöser« – war er nicht gerade die Verführung in ihrer unheimlichsten und unwiderstehlichsten Form, die Verführung und der Umweg zu eben jenen

jüdischen

 Werten und Neuerungen des Ideals? Hat Israel nicht gerade auf dem Umwege dieses »Erlösers«, dieses scheinbaren Widersachers und Auflösers Israels, das letzte Ziel seiner sublimen Rachsucht erreicht? Gehört es nicht in die geheime schwarze Kunst einer wahrhaft

großen

 Politik der Rache, einer weitsichtigen, unterirdischen, langsam- greifenden und vorausrechnenden Rache, daß Israel selber das eigentliche Werkzeug seiner Rache vor aller Welt wie etwas Todfeindliches verleugnen und ans Kreuz schlagen mußte, damit »alle Welt«, nämlich alle Gegner Israels unbedenklich gerade an diesem Köder anbeißen konnten? Und wüßte man sich andrerseits, aus allem Raffinement des Geistes heraus, überhaupt noch einen

gefährlicheren

 Köder auszudenken? Etwas, das an verlockender, berauschender, betäubender, verderbender Kraft jenem Symbol des »heiligen Kreuzes« gleichkäme, jener schauerlichen Paradoxie eines »Gottes am Kreuze«, jenem Mysterium einer unausdenkbaren letzten äußersten Grausamkeit und Selbstkreuzigung Gottes

zum Heile des Menschen?

... Gewiß ist wenigstens, daß

sub hoc signo

 Israel mit seiner Rache und Umwertung aller Werte bisher über alle anderen Ideale, über alle

vornehmeren

 Ideale immer wieder triumphiert hat. –





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– »Aber was reden Sie noch von

vornehmeren

 Idealen! Fügen wir uns in die Tatsachen: das Volk hat gesiegt – oder ›die Sklaven‹ oder ›der Pöbel‹ oder ›die Herde‹ oder wie Sie es zu nennen belieben – wenn dies durch die Juden geschehn ist, wohlan! so hatte nie ein Volk eine welthistorischere Mission. ›Die Herren‹ sind abgetan; die Moral des gemeinen Mannes hat gesiegt. Man mag diesen Sieg zugleich als eine Blutvergiftung nehmen (er hat die Rassen durcheinandergemengt) – ich widerspreche nicht; unzweifelhaft ist aber diese Intoxikation

gelungen

. Die ›Erlösung‹ des Menschengeschlechts (nämlich von ›den Herren‹) ist auf dem besten Wege; alles verjüdelt oder verchristlicht oder verpöbelt sich zusehends (was liegt an Worten!). Der Gang dieser Vergiftung, durch den ganzen Leib der Menschheit hindurch, scheint unaufhaltsam, ihr Tempo und Schritt darf sogar von nun an immer langsamer, feiner, unhörbarer, besonnener sein – man hat ja Zeit... Kommt der Kirche in dieser Absicht heute noch eine

notwendige

 Aufgabe, überhaupt noch ein Recht auf Dasein zu? Oder könnte man ihrer entraten?

Quaeritur

. Es scheint, daß sie jenen Gang eher hemmt und zurückhält, statt ihn zu beschleunigen? Nun, eben das könnte ihre Nützlichkeit sein... Sicherlich ist sie nachgerade etwas Gröbliches und Bäurisches, das einer zarteren Intelligenz, einem eigentlich modernen Geschmack widersteht. Sollte sie sich zum mindesten nicht etwas raffinieren?... Sie entfremdet heute mehr, als daß sie verführte... Wer von uns würde wohl Freigeist sein, wenn es nicht die Kirche gäbe? Die Kirche widersteht uns,

nicht

 ihr Gift... Von der Kirche abgesehn lieben auch wir das Gift...« – Dies der Epilog eines »Freigeistes« zu meiner Rede, eines ehrlichen Tiers, wie er reichlich verraten hat, überdies eines Demokraten; er hatte mir bis dahin zugehört und hielt es nicht aus, mich schweigen zu hören. Für mich nämlich gibt es an dieser Stelle viel zu schweigen. –

 





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– Der Sklavenaufstand in der Moral beginnt damit, daß das

Ressentiment

 selbst schöpferisch wird und Werte gebiert: das Ressentiment solcher Wesen, denen die eigentliche Reaktion, die der Tat, versagt ist, die sich nur durch eine imaginäre Rache schadlos halten. Während alle vornehme Moral aus einem triumphierenden Ja-sagen zu sich selber herauswächst, sagt die Sklaven-Moral von vornherein Nein zu einem »Außerhalb«, zu einem »Anders«, zu einem »Nicht- selbst«: und

dies

 Nein ist ihre schöpferische Tat. Diese Umkehrung des werte-setzenden Blicks – diese

 notwendige

 Richtung nach außen statt zurück auf sich selber – gehört eben zum Ressentiment: die Sklaven-Moral bedarf, um zu entstehn, immer zuerst einer Gegen- und Außenwelt, sie bedarf, physiologisch gesprochen, äußerer Reize, um überhaupt zu agieren – ihre Aktion ist von Grund aus Reaktion. Das Umgekehrte ist bei der vornehmen Wertungsweise der Fall: sie agiert und wächst spontan, sie sucht ihren Gegensatz nur auf, um zu sich selber noch dankbarer, noch frohlockender ja zu sagen – ihr negativer Begriff »niedrig«, »gemein«, »schlecht« ist nur ein nachgeborenes blasses Kontrastbild im Verhältnis zu ihrem positiven, durch und durch mit Leben und Leidenschaft durchtränkten Grundbegriff »wir Vornehmen, wir Guten, wir Schönen, wir Glücklichen!« Wenn die vornehme Wertungsweise sich vergreift und an der Realität versündigt, so geschieht dies in Bezug auf die Sphäre, welche ihr

nicht

 genügend bekannt ist, ja gegen deren wirkliches Kennen sie sich spröde zur Wehr setzt: sie verkennt unter Umständen die von ihr verachtete Sphäre, die des gemeinen Mannes, des niedren Volks; andrerseits erwäge man, daß jedenfalls der Affekt der Verachtung, des Herabblickens, des Überlegen-Blickens, gesetzt daß er das Bild des Verachteten

fälscht

, bei weitem hinter der Fälschung zurückbleiben wird, mit der der zurückgetretene Haß, die Rache des Ohnmächtigen, sich an seinem Gegner –

in effigie

 natürlich – vergreifen wird. In der Tat ist in der Verachtung zu viel Nachlässigkeit, zu viel Leicht-Nehmen, zu viel Wegblicken und Ungeduld mit eingemischt, selbst zu viel eignes Frohgefühl, als daß sie imstande wäre, ihr Objekt zum eigentlichen Zerrbild und Scheusal umzuwandeln. Man überhöre doch die beinahe wohlwollenden

nuances

 nicht, welche zum Beispiel der griechische Adel in alle Worte legt, mit denen er das niedere Volk von sich abhebt; wie sich fortwährend eine Art Bedauern, Rücksicht, Nachsicht einmischt und anzuckert, bis zu dem Ende, daß fast alle Worte, die dem gemeinen Manne zukommen, schließlich als Ausdrücke für »unglücklich«, »bedauernswürdig« übriggeblieben sind (vergleiche

 deilos, deilaios, poneros, mochtheros

 letztere zwei eigentlich den gemeinen Mann als Arbeitssklaven und Lasttier kennzeichnend) – und wie andrerseits »schlecht«, »niedrig«, »unglücklich« nie wieder aufgehört haben, für das griechische Ohr in einen Ton auszuklingen, mit einer Klangfarbe, in der »unglücklich« überwiegt: dies als Erbstück der alten edleren aristokratischen Wertungsweise, die sich auch im Verachten nicht verleugnet (– Philologen seien daran erinnert, in welchem Sinne

oizyros, anolbos, tlemôn, dystychein, xymphora

 gebraucht werden). Die »Wohlgeborenen«

fühlten

 sich eben als die »Glücklichen«; sie hatten ihr Glück nicht erst durch einen Blick auf ihre Feinde künstlich zu konstruieren, unter Umständen einzureden,

einzulügen

 (wie es alle Menschen des Ressentiment zu tun pflegen); und ebenfalls wußten sie, als volle, mit Kraft überladene, folglich

 notwendig

 aktive Menschen, von dem Glück das Handeln nicht abzutrennen – das Tätigsein wird bei ihnen mit Notwendigkeit ins Glück hineingerechnet (woher

eu prattein

 seine Herkunft nimmt) – alles sehr im Gegensatz zu dem »Glück« auf der Stufe der Ohnmächtigen, Gedrückten, an giftigen und feindseligen Gefühlen Schwärenden, bei denen es wesentlich als Narkose, Betäubung, Ruhe, Frieden, »Sabbat«, Gemüts-Ausspannung und Gliederstrecken, kurz

passivisch

 auftritt. Während der vornehme Mensch vor sich selbst mit Vertrauen und Offenheit lebt (

gennaios

 »edelbürtig« unterstreicht die

nuance

 »aufrichtig« und auch wohl »naiv«), so ist der Mensch des Ressentiment weder aufrichtig, noch naiv, noch mit sich selber ehrlich und geradezu. Seine Seele

schielt

; sein Geist liebt Schlupfwinkel, Schleichwege und Hintertüren, alles Versteckte mutet ihn an als

seine

 Welt,

 seine

 Sicherheit,

sein

 Labsal; er versteht sich auf das Schweigen, das Nicht-Vergessen, das Warten, das vorläufige Sich-verkleinern, Sich-demütigen. Eine Rasse solcher Menschen des Ressentiment wird not wendig endlich

klüger

 sein als irgendeine vornehme Rasse, sie wird die Klugheit auch in ganz andrem Maße ehren: nämlich als eine Existenzbedingung ersten Ranges, während die Klugheit bei vornehmen Menschen leicht einen feinen Beigeschmack von Luxus und Raffinement an sich hat – sie ist eben hier lange nicht so wesentlich als die vollkommne Funktions-Sicherheit der regulierenden

unbewußten

 Instinkte oder selbst eine gewisse Unklugheit, etwa das tapfre Drauflosgehn, sei es auf die Gefahr, sei es auf den Feind, oder jene schwärmerische Plötzlichkeit von Zorn, Liebe, Ehrfurcht, Dankbarkeit und Rache, an der sich zu allen Zeiten die vornehmen Seelen wiedererkannt haben. Das Ressentiment des vornehmen Menschen selbst, wenn es an ihm auftritt, vollzieht und erschöpft sich nämlich in einer sofortigen Reaktion, es

vergiftet

 darum nicht: andrerseits tritt es in unzähligen Fällen gar nicht auf, wo es bei allen Schwachen und Ohnmächtigen unvermeidlich ist. Seine Feinde, seine Unfälle, seine

Untaten

 selbst nicht lange ernst nehmen können – das ist das Zeichen starker voller Naturen, in denen ein Überschuss plastischer, nachbildender, ausheilender, auch vergessenmachender Kraft ist (ein gutes Beispiel dafür aus der modernen Welt ist Mirabeau, welcher kein Gedächtnis für Insulte und Niederträchtigkeiten hatte, die man an ihm beging, und der nur deshalb nicht vergeben konnte, weil er – vergaß). Ein solcher Mensch schüttelt eben viel Gewürm mit

einem

 Ruck von sich, das sich bei anderen eingräbt; hier allein ist auch das möglich, gesetzt daß es überhaupt auf Erden möglich ist – die eigentliche »

Liebe

 zu seinen Feinden«. Wieviel Ehrfurcht vor seinen Feinden hat schon ein vornehmer Mensch! – und eine solche Ehrfurcht ist schon eine Brücke zur Liebe... Er verlangt ja seinen Feind für sich, als seine Auszeichnung, er hält ja keinen andren Feind aus, als einen solchen, an dem nichts zu verachten und

sehr viel

 zu ehren ist! Dagegen stelle man sich »den Feind« vor, wie ihn der Mensch des Ressentiment konzipiert – und hier gerade ist seine Tat, seine Schöpfung: er hat »den bösen Feind« konzipiert, »

den Bösen

«, und zwar als Grundbegriff, von dem aus er sich als Nachbild und Gegenstück nun auch noch einen »Guten« ausdenkt – sich selbst!...





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Gerade umgekehrt also wie bei dem Vornehmen, der den Grundbegriff »gut« voraus und spontan, nämlich von sich aus konzipiert und von da aus erst eine Vorstellung von »schlecht« sich schafft! Dies »schlecht« vornehmen Ursprungs und jenes »böse« aus dem Braukessel des ungesättigten Hasses – das erste eine Nachschöpfung, ein Nebenher, eine Komplementärfarbe, das zweite dagegen das Original, der Anfang, die eigentliche

Tat

 in der Konzeption einer Sklaven-Moral – wie verschieden stehn die beiden scheinbar demselben Begriff »gut« entgegengestellten Worte »schlecht« und »böse« da! Aber es ist

nicht

 derselbe Begriff »gut«: vielmehr frage man sich doch,

wer

 eigentlich »böse« ist, im Sinne der Moral des Ressentiment. In aller Strenge geantwortet:

eben

 der »Gute« der andren Moral, eben der Vornehme, der Mächtige, der Herrschende, nur umgefärbt, nur umgedeutet, nur umgesehn durch das Giftauge des Ressentiment. Hier wollen wir eins am wenigsten leugnen: wer jene »Guten« nur als Feinde kennen lernte, lernte auch nichts als

böse Feinde

 kennen, und dieselben Menschen, welche so streng durch Sitte, Verehrung, Brauch, Dankbarkeit, noch mehr durch gegenseitige Bewachung, durch Eifersucht

inter pares

 in Schranken gehalten sind, die andrerseits im Verhalten zueinander so erfinderisch in Rücksicht, Selbstbeherrschung, Zartsinn, Treue, Stolz und Freundschaft sich beweisen – sie sind nach außen hin, dort wo das Fremde,

die

 Fremde beginnt, nicht viel besser als losgelassene Raubtiere. Sie genießen da die Freiheit von allem sozialen Zwang, sie halten sich in der Wildnis schadlos für die Spannung, welche eine lange Einschließung und Einfriedigung in den Frieden der Gemeinschaft gibt, sie treten in die Unschuld des Raubtier-Gewissens

zurück

, als frohlockende Ungeheuer, welche vielleicht von einer scheußlichen Abfolge von Mord, Niederbrennung, Schändung, Folterung mit einem Übermute und seelischen Gleichgewichte davongehen, wie als ob nur ein Studentenstreich vollbracht sei, überzeugt davon, daß die Dichter für lange nun wieder etwas zu singen und zu rühmen haben. Auf dem Grunde aller dieser vornehmen Rassen ist das Raubtier, die prachtvolle nach Beute und Sieg lüstern schweifende

blonde Bestie

 nicht zu verkennen; es bedarf für diesen verborgenen Grund von Zeit zu Zeit der Entladung, das Tier muß wieder heraus, muß wieder in die Wildnis zurück – römischer, arabischer, germanischer, japanesischer Adel, homerische Helden, skandinavische Wikinger – in diesem Bedürfnis sind sie sich alle gleich. Die vornehmen Rassen sind es, welche den Begriff »Barbar« auf all den Spuren hinterlassen haben, wo sie gegangen sind; noch aus ihrer höchsten Kultur heraus verrät sich ein Bewusstsein davon und ein Stolz selbst darauf (zum Beispiel wenn Perikles seinen Athenern sagt, in jener berühmten Leichenrede, »zu allem Land und Meer hat unsre Kühnheit sich den Weg gebrochen, unvergängliche Denkmale sich überall im Guten

und Schlimmen

 aufrichtend«). Diese »Kühnheit« vornehmer Rassen, toll, absurd, plötzlich, wie sie sich äußert, das Unberechenbare, das Unwahrscheinliche selbst ihrer Unternehmungen – Perikles hebt die

rhathymia

 der Athener mit Auszeichnung hervor –, ihre Gleichgültigkeit und Verachtung gegen Sicherheit, Leib, Leben, Behagen, ihre entsetzliche Heiterkeit und Tiefe der Lust in allem Zerstören, in allen Wollüsten des Siegs und der Grausamkeit – alles faßte sich für die, welche daran litten, in das Bild des »Barbaren«, des »bösen Feindes«, etwa des »Goten«, des »Vandalen« zusammen. Das tiefe, eisige Mißtrauen, das der Deutsche erregt, sobald er zur Macht kommt, auch jetzt wieder – ist immer noch ein Nachschlag jenes unauslöschlichen Entsetzens, mit dem jahrhundertelang Europa dem Wüten der blonden germanischen Bestie zugesehn hat (obwohl zwischen alten Germanen und uns Deutschen kaum eine Begriffs-, geschweige eine Blutsverwandtschaft besteht). Ich habe einmal auf die Verlegenheit Hesiods aufmerksam gemacht, als er die Abfolge der Kultur-Zeitalter aussann und sie in Gold, Silber, Erz auszudrücken suchte: er wußte mit dem Widerspruch, den ihm die herrliche, aber ebenfalls so schauerliche, so gewalttätige Welt Homers bot, nicht anders fertig zu werden, als indem er aus einem Zeitalter zwei machte, die er nunmehr hintereinanderstellte – einmal das Zeitalter der Helden und Halbgötter von Troja und Theben, so wie jene Welt im Gedächtnis der vornehmen Geschlechter zurückgeblieben war, die in ihr die eignen Ahnherrn hatten; sodann das eherne Zeitalter, so wie jene gleiche Welt den Nachkommen der Niedergetretenen, Beraubten, Mißhandelten, Weggeschleppten, Verkauften erschien: als ein Zeitalter von Erz, wie gesagt, hart, kalt, grausam, gefühl- und gewissenlos, alles zermalmend und mit Blut übertünchend. Gesetzt daß es wahr wäre, was jetzt jedenfalls als »Wahrheit« geglaubt wird, daß es eben der

Sinn aller Kultur

 sei, aus dem Raubtiere »Mensch« ein zahmes und zivilisiertes Tier, ein

Haustier

 herauszuzüchten, so müßte man unzweifelhaft alle jene Reaktions- und Ressentiment-Instinkte, mit deren Hilfe die vornehmen Geschlechter samt ihren Idealen schließlich zuschanden gemacht und überwältigt worden sind, als die eigentlichen

Werkzeuge der Kultur

 betrachten; womit allerdings noch nicht gesagt wäre, daß deren

Träger

 zugleich auch selber die Kultur darstellten. Vielmehr wäre das Gegenteil nicht nur wahrscheinlich – nein! es ist heute

augenscheinlich

! Diese Träger der niederdrückenden und vergeltungslüsternen Instinkte, die Nachkommen alles europäischen und nichteuropäischen Sklaventums, aller vorarischen Bevölkerung insonderheit – sie stellen den

Rückgang

 der Menschheit dar! Diese »Werkzeuge der Kultur« sind eine Schande des Menschen, und eher ein Verdacht, ein Gegenargument gegen »Kultur« überhaupt! Man mag im besten Rechte sein, wenn man vor der blonden Bestie auf dem Grunde aller vornehmen Rassen die Furcht nicht los wird und auf der Hut ist; aber wer möchte nicht hundertmal lieber sich fürchten, wenn er zugleich bewundern darf, als sich

nicht

 fürchten, aber dabei den ekelhaften Anblick des Mißratenen, Verkleinerten, Verkümmerten, Vergifteten nicht mehr loswerden können? Und ist das nicht

 unser

 Verhängnis? Was macht heute

unsern

 Widerwillen gegen »den Menschen«? – denn wir

leiden

 am Menschen, es ist kein Zweifel. –

Nicht

 die Furcht; eher, daß wir nichts mehr am Menschen zu fürchten haben; daß das Gewürm »Mensch« im Vordergrunde ist und wimmelt; daß der »zahme Mensch«, der Heillos-Mittelmäßige und Unerquickliche bereits sich als Ziel und Spitze, als Sinn der Geschichte, als »höheren Menschen« zu fühlen gelernt hat – ja daß er ein gewisses Recht darauf hat, sich so zu fühlen, insofern er sich im Abstand von der Überfülle des Mißratenen, Kränklichen, Müden, Verlebten fühlt, nach dem heute Europa zu stinken beginnt, somit als etwas wenigstens relativ Geratenes, wenigstens noch Lebensfähiges, wenigstens zum Leben Ja-sagendes...

 





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– Ich unterdrücke an dieser Stelle einen Seufzer und eine letzte Zuversicht nicht. Was ist das gerade mir ganz Unerträgliche? Das, womit ich allein nicht fertig werde, was mich ersticken und verschmachten macht? Schlechte Luft! Schlechte Luft! Daß etwas Mißratenes in meine Nähe kommt; daß ich die Eingeweide einer mißratenen Seele riechen muß!... Was hält man sonst nicht aus von Not, Entbehrung, bösem Wetter, Siechtum, Mühsal, Vereinsamung? Im Grunde wird man mit allem übrigen fertig, geboren wie man ist zu einem unterirdischen und kämpfenden Dasein; man kommt immer wieder einmal ans Licht, man erlebt immer wieder seine goldene Stunde des Siegs- und dann steht man da, wie man geboren ist, unzerbrechbar, gespannt, zu Neuem, zu noch Schwererem, Fernerem bereit, wie ein Bogen, den alle Not immer nur noch straffer anzieht. – Aber von Zeit zu Zeit gönnt mir – gesetzt, daß es himmlische Gönnerinnen gibt, jenseits von Gut und Böse – einen Blick, gönnt mir

 einen

 Blick nur auf etwas Vollkommnes, zu-Ende-Geratenes, Glückliches, Mächtiges, Triumphierendes, an dem es noch etwas zu fürchten gibt! Auf einen Menschen, der

den

 Menschen rechtfertigt, auf einen komplementären und erlösenden Glücksfall des Menschen, um deswillen man

den Glauben an den Menschen

 festhalten darf!.. Denn so steht es: die Verkleinerung und Ausgleichung des europäischen Menschen birgt

unsre

 größte Gefahr, denn dieser Anblick macht müde... Wir sehen heute nichts, das größer werden will, wir ahnen, daß es immer noch abwärts, abwärts geht, ins Dünnere, Gutmütigere, Klügere, Behaglichere, Mittelmäßigere, Gleichgültigere, Chinesischere, Christlichere – der Mensch, es ist kein Zweifel, wird immer »besser«... Hier eben liegt das Verhängnis Europas – mit der Furcht vor dem Menschen haben wir auch die Liebe zu ihm, die Ehrfurcht vor ihm, die Hoffnung auf ihn, ja den Willen zu ihm eingebüßt. Der Anblick des Menschen macht nunmehr müde – was ist heute Nihilismus, wenn er nicht

das

 ist?... Wir sind

des Menschen

 müde...





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– Doch kommen wir zurück: das Problem vom

andren

 Ursprung des »Guten«, vom Guten, wie ihn der Mensch des Ressentiment sich ausgedacht hat, verlangt nach seinem Abschluss. – Daß die Lämmer den großen Raubvögeln gram sind, das befremdet nicht: nur liegt darin kein Grund, es den großen Raubvögeln zu verargen, daß sie sich kleine Lämmer holen. Und wenn die Lämmer unter sich sagen »diese Raubvögel sind böse; und wer so wenig als möglich ein Raubvogel ist, vielmehr deren Gegenstück, ein Lamm – sollte der nicht gut sein?« so ist an dieser Aufrichtung eines Ideals nichts auszusetzen, sei es auch, daß die Raubvögel dazu ein wenig spöttisch blicken werden und vielleicht sich sagen: »

wir

 sind ihnen gar nicht gram, diesen guten Lämmern, wir lieben sie sogar: nichts ist schmackhafter als ein zartes Lamm.« – Von der Stärke verlangen, daß sie sich

nicht

 als Stärke äußere, daß sie

nicht

 ein Überwältigen-Wollen, ein Niederwerfen-Wollen, ein Herrwerden-Wollen, ein Durst nach Feinden und Widerständen und Triumphen sei, ist gerade so widersinnig als von der Schwäche verlangen, daß sie sich als Stärke äußere. Ein Quantum Kraft ist ein ebensolches Quantum Trieb, Wille, Wirken – vielmehr, es ist gar nichts anderes als ebendieses Treiben, Wollen, Wirken selbst, und nur unter der Verführung der Sprache (und der in ihr versteinerten Grundirrtümer der Vernunft), welche alles Wirken als bedingt durch ein Wirkendes, durch ein »Subjekt« versteht und mißversteht, kann es anders erscheinen. Ebenso nämlich, wie das Volk den Blitz von seinem Leuchten trennt und letzteres als

Tun

, als Wirkung eines Subjekts nimmt, das Blitz heißt, so trennt die Volks-Moral auch die Stärke von den Äußerungen der Stärke ab, wie als ob es hinter dem Starken ein indifferentes Substrat gäbe, dem es

freistünde

, Stärke zu äußern oder auch nicht. Aber es gibt kein solches Substrat; es gibt kein »Sein« hinter dem Tun, Wirken, Werden; »der Täter« ist zum Tun bloß hinzugedichtet – das Tun ist alles. Das Volk verdoppelt im Grunde das Tun, wenn es den Blitz leuchten läßt, das ist ein Tun-Tun: es setzt dasselbe Geschehen einmal als Ursache und dann noch einmal als deren Wirkung. Die Naturforscher machen es nicht besser, wenn sie sagen »die Kraft bewegt, die Kraft verursacht« und dergleichen – unsre ganze Wissenschaft steht noch, trotz aller ihrer Kühle, ihrer Freiheit vom Affekt, unter der Verführung der Sprache und ist die untergeschobnen Wechselbälge, die »Subjekte« nicht losgeworden (das Atom ist zum Beispiel ein solcher Wechselbalg, insgleichen das Kantische »Ding an sich«): was Wunder, wenn die zurückgetretenen, versteckt glimmenden Affekte Rache und Haß diesen Glauben für sich ausnützen und im Grunde sogar keinen Glauben inbrünstiger aufrechterhalten als den,

es stehe dem Starken frei

, schwach, und dem Raubvogel, Lamm zu sein – damit gewinnen sie ja bei sich das Recht, dem Raubvogel es

zuzurechnen

, Raubvogel zu sein... Wenn die Unterdrückten, Niedergetretenen, Vergewaltigten aus der rachsüchtigen List der Ohnmacht heraus sich zureden: »laßt uns anders sein als die Bösen, nämlich gut! Und gut ist jeder, der nicht vergewaltigt, der niemanden verletzt, der nicht angreift, der nicht vergilt, der die Rache Gott übergibt, der

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