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15. August 2006
An dem Tag, an dem im Gazastreifen unter massivem Protest die Räumung der jüdischen Siedlungen begann, erreichten wir den Crocodile River, die Südgrenze des Krügerparks. Da Elefanten Tiere sind, die am liebsten jeden Tag baden, stürzten sich die Dickhäuter dort sofort mit lautem Tröten in die Fluten und sprühten begeistert mit ihren Rüsseln Wasser über ihre mit Staub bedeckten Körper. Wieder ein unvergesslicher Anblick. Hundert lebende Duschen.
Hannibal legte seinen Arm um mich und deutete den Fluss hinunter. »Da vorne bei Komatipoort ist die Grenze. Da geht es richtig los. Südafrika ist ja letztlich ein westliches Land. Aber nur noch wenige Kilometer, dann beginnt das wahre Afrika. Und ich habe das Gefühl:Wir schaffen das!«
Er wusste nicht, wie sehr er sich irrte.

September 2005 - Mozambique
Ich war noch niemals zuvor in Mozambique gewesen, diesem aufstrebendsten aller afrikanischen Länder, einer Region mit traumhaften Stränden und paradiesischen Inseln, auf denen man zwischen herrschaftlichen Häusern aus der Kolonialzeit flanieren und unter Palmen entspannen kann.
Zwanzig Millionen Menschen leben in dem Küstenstaat und blicken auf eine stolze Vergangenheit zurück: Während Europa nämlich noch im dunklen Frühmittelalter steckte, entfalteten sich in Mozambique schon im 9. Jahrhundert mehrere Hochkulturen - einflussreiche, zivilisierte Königtümer, die intensiven Handel trieben und ihren Wohlstand gekonnt zelebrierten.Von den Monsun-Winden unterstützt, kamen damals Flotten aus Persien,Arabien und Indien, um sich in dem reichen afrikanischen Land mit Sklaven, Elfenbein, Gold und Gewürzen zu versorgen.
Doch im 15. Jahrhundert tauchten Vasco da Gama und andere portugiesische Entdecker am Horizont auf - und beanspruchten die Schätze Mozambiques für sich.Wobei ihnen alle Mittel recht waren, um ihr Ziel zu erreichen. So wurde aus den freien König tümern eine Kolonie, die bis weit ins 20. Jahrhundert Bestand hatte.
Erst 1962 gründete ein Freiheitskämpfer, Eduardo Mondlane, die berühmte Frelimo, die »Front for the Liberation of Mozambique«, die fortan heftigen Widerstand gegen die sich noch immer als Herren aufspielenden portugiesischen Truppen leistete. Und dreizehn Jahre später, am 25. Juni 1975, konnte tatsächlich »The independent People’s Republic of Mozambique« ausgerufen werden. Die Portugiesen verließen daraufhin das Land quasi über Nacht - zerstörten allerdings vorher noch möglichst viel der vorhandenen Infrastruktur, um den neuen Staat handlungsunfähig zu machen.
Dem ersten Präsidenten, Samora Machel, gelang es dennoch, für einige Jahre eine Art kommunistischen Musterstaat zu schaffen, der sogar von Bob Dylan anerkennend besungen wurde. Nur: Das Vorzeigeidyll ging 1983 bankrott - woraufhin ein grausamer Bürgerkrieg entbrannte, der das Land zehn Jahre lang ins Chaos stürzte. 1992 wurde endlich ein Friedensabkommen unterzeichnet, das zwei Jahre später die ersten freien Wahlen ermöglichte. Die Frelimo entwickelte sich in dieser Zeit von einer marxistischen zu einer kapitalistischen Partei - und stellt noch heute den Präsidenten. Seither geht es mit dem Land steil bergauf.
16. August 2005
»Sprichst du Portugiesisch?« Bongani sah mich fragend an.
Ich schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Afrikaans?«
»Auch nicht? Warum?«
Wir standen kurz vor der Grenze nach Mozambique und Hannibal wühlte gerade in einem der grünlichen Seesäcke. Bongani hob die Schultern. »Weil wir nicht wissen, welche Hautfarbe die Grenzbeamten haben. Wenn es Schwarze sind, sollte ich reden, wenn es Weiße sind, lieber einer von euch. Aber leider sprecht ihr beide nur Englisch. Und Hannibals Afrikaans ist ziemlich peinlich. Das könnte schwierig werden.«
Ich lenkte Didimale mit dem Ankus etwas näher an Shingwezi heran, um nicht so brüllen zu müssen. »Wieso schwierig? Ich denke, Hannibal hat das alles mit den Papieren geklärt.«
»Ja, das hat er. Aber was bedeutet das schon in Afrika? Außerdem hat noch keiner von den Jungs in den Häuschen da vorne jemals erlebt, dass ein Reisender mit hundert Elefanten ankommt. Welche Frachtpapiere braucht man da? Sind die veterinärmedizinischen Gutachten ausreichend? Dürfen Elefanten in dem jeweiligen Land überhaupt auf der Straße laufen? Und, und, und. Wenn wir Pech haben und an einen Klugscheißer geraten, hält der uns hier eine Woche fest, bis alle zuständigen Behörden noch einmal bestätigt haben, dass wir über die Grenze dürfen. Und das wäre ziemlich blöd.«
Hannibal winkte uns zu und wir hielten die Elefanten an.Wieder war ich überrascht, mit welcher Selbstverständlichkeit diese daraufhin in die Knie gingen, damit wir absteigen konnten. Der braungebrannte Ostdeutsche kam auf mich zu. »Fabian, du frierst doch hier im südafrikanischen Winter andauernd. Ich habe gerade in meinem Gepäck eine warme Jacke entdeckt.Willst du die haben?«
Er hielt mir eine blaue Steppweste so hin, dass ich direkt hineinschlüpfen konnte. Ohne nachzudenken, lies ich sie mir überstreifen. Hannibal riss sich mit einer nervösen Geste zwei Haare aus und schnipste sie in den Wind. Dann sagte er: »Gebt mir bitte eure Pässe. Und drückt uns die Daumen, dass alles klappt.«
Er schwenkte die Mappe mit den Papieren. »Also los. Wagen wir es.«
Zu dritt gingen wir zum Schalter. Längst umringt von Dutzenden von Schaulustigen, die fassungslos auf die riesige Elefantenherde starrten, die neben der Autobahn graste. Hin und wieder beantwortete Hannibal freundlich und knapp die Fragen besonders neugieriger Leute, ließ sich aber nicht auf längere Gespräche ein.
Als wir noch etwa fünf Meter von dem Häuschen entfernt waren, flüsterte Bongani: »Ein Schwarzer. Und zwar ein Pedi.Welch ein Glück. Lasst mich das machen.« Er nahm Hannibal die Mappe aus der Hand und trat ans Fenster.
Minutenlang sprachen die beiden Männer in Sotho aufeinander ein. Immer wieder zeigte unser Freund auf die Papiere, deutete dann mit großen Gesten auf Hannibal oder die Elefantenherde und lächelte gewinnend. Es war wie ein Ausdruckstanz. Unsicher versuchte ich, das Spiel der Stimmen und Körper zu interpretieren. Was passierte da? Einmal raufte Bongani sich die Haare, dann deutete der Grenzbeamte auf ein Pin-up-Girl an der Wand, schließlich stand er auf und ging hinaus.
»Was ist?«, raunte Hannibal Bongani zu.
»Er holt seinen Vorgesetzten. Das Ganze überfordert ihn völlig.«
»Wir gehen sofort auf Plan B. Bevor die uns das hier versemmeln.«
Plan B?
Wenig später kam der Grenzer zurück. Hinter ihm ein grauhaariger Schwarzer, dessen ganzes Auftreten Würde und Autorität ausstrahlen sollte. Und wieder begann eine ausführliche Choreografie der Gliedmaßen vor und hinter der Glasscheibe. Nur leider schüttelte der Mann im Laufe des Gesprächs mehrfach den Kopf. Da griff sich Bongani mit einem Mal an die Stirn, als hätte er das Entscheidende vergessen. Er holte einen Briefbogen aus der Tasche, schob ihn unter der Scheibe hindurch und deutete mit einer weltmännischen Geste auf mich.
»Dreh dich!«, sagte Hannibal mit zusammengepressten Lippen zu mir.
»Was?«
»Du sollst dich einmal um dich selbst drehen.«
»Warum?«
»Das ist ein alter mozambiquescher Grenzbrauch. Jetzt mach schon.Aber ganz langsam.«
Ich drehte mich verwundert einmal um mich selbst. Daraufhin steigerte Bongani seinen Redefluss noch einmal und überschüttete den verblüfften Beamten mit Wortkaskaden, die gar nicht mehr aufhören wollten. Irgendwann nahm der verwunderte Schwarze in der Kabine einen Stempel und drückte ihn schwungvoll auf verschiedene Formulare - nicht ohne mich noch mehrfach interessiert zu mustern. Dann nahm er von Bongani das Geld für die Visa und die Einreisegebühr entgegen und winkte uns zum Abschied freundlich zu.
Wir liefen zurück zu den Elefanten, stiegen auf - und führten die Herde langsam auf der Lkw-Spur durch den Grenzposten. Bongani blieb kurz zurück, um den Anschluss der Bullen zu kontrollieren. Und dann waren wir in Mozambique.
Auf der Gegenspur standen die langen Reihen derjenigen, die auf ihre Einreise nach Südafrika warteten.Auch sie kamen fast alle fasziniert aus ihren Autos und betrachteten das einzigartige Schauspiel. Verblüfft entdeckte ich in der Schlange ein Kabriolett mit Hamburger Kennzeichen und grüßte das darin sitzende Pärchen überschwänglich. Und da passierte es: Als die Frau fragend die Tür öffnete, spiegelte ich mich für kurze Zeit in ihrer Fensterscheibe und sah, dass auf meinem Rücken die beiden großen Buchstaben U und N prangten - das Zeichen der Vereinten Nationen.
Kaum waren wir von der Straße wieder ins Buschland abgebogen, hielt ich Didimale an und stieg ab. Wütend zog ich die Jacke aus und hielt sie hoch.
»Ihr habt mich verarscht. Stimmt’s? Ihr habt mich bei dem Grenzbeamten als Mitarbeiter der Vereinten Nationen ausgegeben. Sagt mal, was geht hier eigentlich ab? Habt ihr etwa erzählt, wir wären im Auftrag der United Nations unterwegs, oder was? … Hallo, ich rede mit euch.Würde mir einer bitte mal eine überzeugende Antwort geben.«
Hannibal rutschte am Hals von Epila herunter und starrte dann betreten auf den Boden. »Der Typ wollte uns nicht durchlassen. Aber als Bongani erklärt hat, dass unsere Umsiedelungsaktion der Elefanten von den Vereinten Nationen unterstützt wird, war dieser harte Grenzer plötzlich ganz weich. Die Jungs wissen eben, welche Macht die UN hat - und wie viel Geld dahintersteckt. Also: Es ist doch gut gelaufen. Und jetzt sind wir hier.« Er breitete begeistert die Arme aus, hob aber nicht den Blick.
Ich tobte. »Darum geht es nicht.Tatsache ist:Wir sind nicht im Auftrag der Vereinten Nationen unterwegs. Das heißt: Dieser ach so offizielle Brief ist eine Fälschung. Ein Betrug. Ein fieser Betrug … Und das Allerwiderlichste finde ich, dass ihr mich nicht eingeweiht habt. Ich dachte, wir sind ein Team.Was soll der Mist?«
Bongani druckste herum: »Ganz ehrlich, Fabian.Wenn wir dich eingeweiht hätten, hättest du doch Nein gesagt, oder?«
»Natürlich!«
»Siehst du. Also war es richtig, dich nicht zum Mitwisser zu machen.Was man nicht weiß, macht einen nicht heiß. Das sagt ihr doch immer in Deutschland.«
»Na toll.Als wäre das eine Entschuldigung …«
Ich stutzte einen Moment, weil mir ein ungeheuerlicher Gedanke durch den Kopf schoss. »Augenblick mal! Ganz langsam.Was ist mit all den anderen Dokumenten? Den Genehmigungen? Sind die etwa auch alle gefälscht? Ich will jetzt die Wahrheit wissen. Und zwar sofort. Los, redet!«
Hannibal riss sich vor lauter Unbehagen gleich ein ganzes Büschel Haare aus. Dann stotterte er: »Na … ›gefälscht‹ klingt … so böse. So negativ. Sie wirken … doch immerhin ziemlich … echt …«
Ich trat wütend auf den Boden. »Halt einfach die Fresse! Du willst mir also sagen, dass wir gerade hundert Elefanten aus dem Krügerpark entführt haben. Geraubt. Entwendet. Gerippt. Ich meine: Kein Mensch glaubt uns, dass die vom Laster gefallen sind. Es sieht also so aus: Wir haben mehr als zehntausend Kilometer vor uns. Und keine echten Papiere. Und hundert gestohlene Elefanten.Wir sind illegal über die Grenze gegangen und … ach, Scheiße.«
Bongani versuchte ein Grinsen, aber es misslang. »Hey, Fabian. Du kennst die Behörden in Afrika nicht.Wenn du nicht mit dem zuständigen Minister verwandt bist oder einen kennst, der einen kennt, der einen kennt, kannst du lange auf deine Genehmigung warten.Wir machen doch nichts Falsches.Wäre es dir lieber, diese Elefanten hier würden in den nächsten Wochen einfach abgeknallt, weil sie sonst im Krügerpark verhungern müssten? Bestimmt nicht. Begreif doch: Wir geben diesen Tieren eine Zukunft. Ohne uns würden sie sterben - mit uns können sie leben. Das sage ich zum Thema Bürokratie.«
»Ich will meinen Pass.« Ich baute mich vor Hannibal auf und streckte fordernd die Hand aus. »Ich bin draußen. Ich lasse mich von euch nicht zum Verbrecher machen.«
Ich glaube nicht, dass ich jemals vorher so aggressiv zu jemandem gesprochen habe.
Tshwane griff in die Tasche und holte betroffen meinen Pass heraus, der wie immer in einer Klarsichthülle steckte, damit er meine vielen Reisen gut überstand. »Fabian, bitte. Überleg es dir noch mal.Wir brauchen dich.Versteh doch:Wir haben Län der vor uns, da zählen Papiere ohnehin nichts. Da geht es nur um das Bakschisch, das man einem Beamten zusteckt. Du kommst mit einem völlig verkopften europäischen Rechtsverständnis daher, das hier einfach nicht funktioniert. Lass uns nicht fragen, ob wir Gesetze befolgen, sondern ob wir das Richtige tun.Wenn wir zusammenhalten …«
Meine Stimme klang kalt und militärisch. »Gib mir meinen Pass.«
Ich wollte gerade zugreifen, da schnellte Shingwezis Rüssel vor und riss Hannibal den Pass aus der Hand. Die Elefantin steckte ihn sich in den Mund und schluckte ihn herunter.Weg war er.
Vor lauter Verblüffung vergaß ich fast, mich weiter zu ärgern. »Äh, hey, das geht doch nicht. Mein Pass!«
Ich sprang vor und steckte meinen Arm bis zum Anschlag in Shingwezis Maul. Das Dokument musste doch noch irgendwo sein. Doch offensichtlich kitzelten meine Finger sie so sehr im Rachen, dass sei ein lautes Rülpsen von sich gab. Ich taumelte zurück.
Bongani versuchte vergeblich, sein Lachen zu unterdrücken. »Sorry, Fabian, aber die nächsten zwei bis drei Tage wirst du wohl auf jeden Fall bei uns bleiben müssen. Dann bekommst du deinen Pass wieder.«
»Hä, hä, hä.Wahrscheinlich völlig von Magensäure zerfressen.«
Der Schwarze schüttelte lässig den Kopf. »O nein. Keine Sorge. Elefanten haben ein sehr uneffizientes Verdauungssystem. Sie verwerten überhaupt nur vierzig Prozent der Nahrung. Das hat der Herrgott interessant eingerichtet. Es ist sogar so, dass einige Samen, wie etwa Akazienkeime, darauf angewiesen sind, einmal durch den Magen eines Elefanten gegangen zu sein. Akazien brauchen nicht nur Bienchen, sondern auch Elefanten, wenn sie sich vermehren wollen. Die sanften Magensäuren lösen die äußersten Schichten des Keims auf, sodass sich der Same richtig entfalten kann und direkt im Düngerhaufen aufblüht.«
Ich atmete einmal tief durch. »Vielen Dank, Bongani, für diesen wertvollen Beitrag. Du willst also sagen, dass ich meinen Pass demnächst wohlbehalten im Elefantenschiss finde. Ja? Ist es das, was du mir mit deinem pseudobotanischen Gelaber andeuten willst? Scheiß drauf.«
»Genau! Genau das: Scheiß drauf. Denn dann ist dein Pass wieder da.«
Schmollend stieg ich wieder auf Didimale und sagte einige Stunden gar nichts mehr.Als mein Ausweis zwei Tage später tatsächlich keck aus dem Haufen von Shingwezi ragte, war meine Wut längst verflogen und keine Rede mehr davon, dass ich die Gruppe verlassen würde. Ich gehörte dazu.
Ich habe später viele Menschen gefragt, was sie damals an meiner Stelle getan hätten.Wahrscheinlich, weil ich bis heute nicht sagen kann, warum ich dabeigeblieben bin. War es dieses einzigartige Robin-Hood-Gefühl? Dieser Kitzel des Ungesetzlichen? War es der naive Optimismus von Hannibal und Bongani? Ihre erkennbar gute Absicht, die bei aller Selbstgerechtigkeit immer durchschien? Ihr Beschwören der merkwürdigen Träume, von denen sie sich gerufen fühlten? Oder war es einfach die überwältigende Nähe der Elefanten, die mich nicht mehr losließ? Ich weiß es nicht. Und die Leute, die ich gefragt habe, hatten auch keine überzeugenden Antworten. Vielleicht macht das den Reiz eines Abenteuers aus: dass man etwas ausprobiert, ohne vorher zu wissen, was dabei herauskommt.Volles Risiko, erfülltes Leben.
31. August 2005
Während der nächsten Wochen gewöhnte ich mich langsam an den Tagesablauf, der die vor uns liegenden Monate prägen sollte. Wir erwachten im Morgengrauen, aßen ein wenig Obst und Biltong, packten unsere wenigen Habseligkeiten zusammen und brachen ziemlich bald auf. Meist ritten wir dann acht Stunden mit sechs bis sieben Stundenkilometern, sodass wir an guten Tagen tatsächlich mehr als fünfzig Kilometer hinter uns brachten. Am Nachmittag sorgten wir uns dann darum, dass die Tiere genügend zu essen und zu trinken bekamen. Immerhin braucht jeder Elefant täglich rund zweihundertfünfzigtausend Kalorien - hundertmal so viel wie ein sportlicher Mensch. Und diese Unsumme an Kalorien entspricht zweihundert Kilogramm Nahrung: Gras, Blätter,Wurzeln, Früchte und Knollen. Dazu kommen mindestens siebzig, besser hundertfünfzig Liter Wasser pro Tier und Tag.
Erstaunt war ich in dieser Zeit vor allem, dass mir nicht langweilig wurde, weder beim Pflegen der Elefanten noch beim Reiten. Wer sich für hundert Tiere verantwortlich fühlt, hat genug zu tun: Jeden Abend mussten wir Dornen aus Füßen ziehen, Elefanten zählen, Entzündungen behandeln und Rangstreitigkeiten schlichten. Meist war zwar Shingwezi rechtzeitig zur Stelle, um Eifersüchteleien zu beenden, doch oftmals beobachtete ich hingerissen, wie Bongani mit wenigen Tönen zwei Kolosse trennen konnte. Offensichtlich hatte ihn die Herde als mit der Matriarchin gleichrangiges Alpha-Tier akzeptiert.
Wenn ich mit dem Aufbau unseres Nachtlagers fertig war, nahm ich mir zudem immer wieder Zeit, Didimale zu dressieren. Dafür sammelte ich unter Bonganis Anleitung ein paar besondere Leckerbissen und verband eine Belohnung mit einer erfolgreichen Reaktion auf einen Befehl. Zum Beispiel gelang es mir, ihr das Abliegen beizubringen, indem ich sie durch Kitzeln dazu brachte, in den Beinen einzuknicken. Nach mehreren Wiederholungen machte sich die Elefantin bereits klein, wenn ich nur »Down« rief. Gut. Ich war ein Elefantendresseur, konnte also notfalls in Zukunft auch beim Zirkus arbeiten.
Aber auch die Landschaft ließ keine Langeweile aufkommen. Sie entfaltete sich um uns herum wie ein Bilderbuch, das auf jeder Seite eine neue Welt darbot. Ich tauchte ein in die Schönheit der Vegetation, verlor mich mit meinen Träumen in den warmen Farben und fand bei jedem Hinsehen neue Details, dir mir halfen, mich nach den langen hektischen Jahren im Medienbetrieb wieder zu sammeln. Rehabilitation auf dem Elefantenrücken. Dickhäuter-Therapie.
Sechs Tage lang zogen wir das Tal des Limpopo River hoch, durchquerten dabei den Limpopo-Transfrontier-Park, folgten dann zwei Tage dem Bett des Mwenezi und bogen schließlich bei Sango in die Berge ab, bis wir bei Massangena den nach Osten fließenden Save erreichten, der uns in weiteren sieben Tagen bis kurz vor den Indischen Ozean führte.
Anfangs waren Bongani und ich übrigens einige Zeit allein unterwegs gewesen, weil Hannibal mit dem Moped in den Süden nach Maputo gefahren war, um Visa für Tansania zu besorgen. Zuerst wollte ich mich darüber aufregen - wie kann der Hirte seine Herde verlassen -, doch dann begriff ich, dass darin ein großer Vertrauensbeweis gegenüber Bongani und mir sichtbar wurde. Hannibal legte seinen Traum in unsere Hände. Ein gutes Gefühl. Er stieg dann - nachdem er in der Botschaft erfolgreich gewesen war - in den Zug nach Norden und stieß bei Mabalane wieder zu uns.
Und auch das war ein Bild, das ich nie vergessen werde: wie Hannibal mitten im Busch im rötlichen Licht des Sonnenuntergangs mit dem knatternden Zweirad über die Steppe auf uns zugeschossen kam. Freihändig. Johlend. Mit unbändiger Freude. Und mit einem Leuchten in den Augen, das ich jeder Frau und jedem Mann auf dieser Erde wünsche. Ich vergab ihm in diesem Moment alles. Ich glaube inzwischen sogar, dass unsere Welt eine bessereWelt wäre, wenn wir mehr Menschen wie Hannibal hätten. Ja, letztlich war es dieses Strahlen seiner Augen, das mich davon abhielt, den Treck zu verlassen.
Inzwischen ging der August dem Ende zu und es gelang mir endlich wieder einmal, an einem Verkaufsstand eine aktuelle Tageszeitung aufzutreiben, da wir normalerweise die Ortschaften weiträumig umliefen. Erschrocken las ich, dass in Amerika ein Wirbelsturm namens Katrina eine Schneise der Verwüstung hinterlassen und New Orleans überflutet hatte. 1321 Menschen waren ums Leben gekommen und mehr als eine Million obdachlos geworden.
Der Artikel berührte mich besonders, weil ich mit der langjährigen Freundin, die mich im Jahr zuvor verlassen hatte, im Jahr 2000 eine lange und für uns beide prägende Reise durch Louisiana, Mississippi und Alabama gemacht hatte, die wir als einen der Höhepunkte unserer Beziehung empfunden hatten.Tagelang waren wir durch Jazz- und Dixieland-Clubs gezogen und waren - wie alle Touristen - natürlich auch mit einem klassischen Raddampfer unterwegs gewesen. Das hätte ich vor lauter Rüsseln fast vergessen.
Da saß ich auf dem Rücken eines Elefanten in Mozambique kurz vor Jofane - und mit einem Mal holte mich die Vergangenheit wieder ein. Nein, nicht nur die Vergangenheit, die ganze Welt. Ich begriff, dass ich auch in Afrika Gefahr lief, mich vor allem um mich selbst und die aktuellen Herausforderungen des Tages zu drehen. Ja, ich ertappte mich dabei, dass ich nur noch an Elefanten dachte und beim Ausspähen gangbarer Pfade im Buschland die größeren Zusammenhänge des Lebens verdrängte. Für eine Zeit war das erleichternd gewesen, eine Chance für meine Seele, doch auf Dauer würde es mich wieder in eine Lebensnische führen, in die ich nicht hineinwollte.
Da beschloss ich, dass es Zeit wurde, den Job zu erledigen, für den ich angeheuert war: Ich wollte Artikel über unsere waghalsige Tour schreiben und dafür sorgen, dass man in Deutschland mitbekam, dass es uns gab. Und weil die Batterien meines Laptops natürlich längst leer waren, fing ich an diesem Tag an, mir im Kopf eindrückliche Szenen und prägnante Formulierungen zurechtzulegen und meine erste Reportage zu »schreiben«. Deutschland sollte aufhorchen. Unser Zug war doch nicht einfach ein Familienaus flug. Das war die Erfüllung eines Lebenstraums. Ein Unternehmen, das die neuen Bundesländer verändern würde. Das, was wir taten, mit Elefanten von Südafrika nach Sachsen-Anhalt zu ziehen, das hatte noch niemals jemals vor uns getan.Wir schrieben gerade Geschichte. Ja, ich musste Geschichte schreiben, unsere Geschichte. Ich war Teil von etwas wirklich Großem. Zumindest empfand ich in diesem Augenblick so.
Dennoch musste ich mich die meiste Zeit auf die Elefanten konzentrieren. In den folgenden Wochen zogen wir zuerst auf den mittelalterlichen Handelsrouten an der Küste entlang: von Jofane nach Buzi und Dondo. Dann entlang der Eisenbahnlinie bis Moromeu und quer über das Planalto Mozambiquano mit seinen teils malerischen, teils trostlosen Städten wie Naiopué und Alto Molócuè auf mehr als tausendfünfhundert Meter Höhe an den Hängen des Monte Namuli vorbei Richtung Ribáuè und Montepuez.Ab dort folgten wir dem Flussbett des Messalo bis zur Küste.Weil wir in den Bergen unseren täglichen Schnitt nicht halten konnten, zeigte der Kalender bereits Mitte Oktober, als wir bei Mucojo wieder an die Küste kamen.Von hier an waren es nur noch rund zweihundert Kilometer bis zur tansanischen Grenze beziehungsweise zum einzigen Grenzübergang zwischen den beiden Staaten bei Namoto am Rovuma River.
Rovuma. Bis heute schaudere ich, wenn ich diesen Namen höre. Weil an diesem Fluss Dinge geschahen, aufgrund deren ich bis heute als Schwerverbrecher gesucht werde. Fälschlicherweise.
Hannibal besaß zum Glück detaillierte Karten, die es uns ermöglichten, an den Hängen wasserreicher Täler entlangzuziehen und trotzdem den Kontakt zu den Einheimischen weitestgehend zu vermeiden. Sobald wir uns einer der vielen Siedlungen aus mit Lehm beworfenen Hütten oder gar einer kleinen Stadt näherten, machten wir einen großen Bogen darum.Wir wollten bewusst kein Aufsehen erregen. Dennoch kam es immer wieder vor, dass an der Strecke Bewohner eines nahe gelegenen Dorfes Strohballen, Obst und altes Gemüse für die Herde aufschichteten und uns Männer gastfreundlich bewirteten, meist mit einem gekühlten »Dois M«, dem beliebtesten Bier des Landes.
Einmal nötigte uns eine Gruppe von Schwarzen so sehr, mit ihnen zu kommen, dass wir einwilligen mussten. Dort erlebte ich zum ersten Mal die faszinierenden Maskentänze der Makonde. Pantomimen aus mehreren Akten, bei denen Geschichten von einem fuß stampfenden Chor aus bunt gekleideten Männern und Knaben gesungen werden. Der Gesang erfüllte das ganze Dorf. Rhythmisch. Impulsiv. Kraftvoll. Ein Lied, gesungen mit dem Körper. Das nahm mich gefangen. So wollte ich auch Musik machen. Nicht nur mit den Fingern und dem Verstand. Nein, mit meinem ganzen Sein.Während des Tanzes saßen die Frauen mit ihren traditionellen weißen Schönheitsmasken aus der Muciro-Wurzel am Rand und klatschten. Sie sahen aus wie Geister: weiße Gesichter, denen die Farbe durch ihre unzähligen Risse ein fast mumienhaftes Aussehen verlieh - und schwarze Lippen. Gespenstisch.
Ein zahnloser Greis, möglicherweise der Medizinmann des Stammes, erzählte uns bei dieser Gelegenheit, dass unter den Stämmen schon seit Tagen Gerüchte über die geheimnisvolle Elefantenherde kursierten. Und dass jeder, der diese Gerüchte weitergab, sie noch ein wenig ausschmückte. Für viele Mozambiquaner besaßen unsere hundert Elefanten dadurch inzwischen eine fast religiöse, metaphysische Bedeutung. Wir wurden im Land nach und nach zu einer Legende. Ein mächtiges Symbol für die Kraft und die Freiheit des Lebens, für die Rettung der Natur - und für den langen und gefährlichen Weg, den es für jeden Menschen zu gehen galt. Und - das fügte der Alte an, während ihm ein Speichelfaden im Mundwinkel herunterlief - es brachte angeblich Glück, uns gesehen zu haben. So nahm die Zahl der jubelnden Menschen am Wegrand täglich zu. Sehr zum Ärger Bonganis, der spürte, dass die Tiere dadurch immer unruhiger wurden. Mehrfach erschienen nun auch Journalisten örtlicher Zeitungen, denen ich kurz die Ziele unserer Aktion erläuterte und für die wir dann mit Shingwezi für Fotos posieren mussten. Hätte ich damals gewusst, was uns noch bevorstand, ich hätte auf den Bildern wahrscheinlich nicht so häufig gegrinst.
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