Die Morde in der Rue Morgue und andere Erzählungen

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Das Stelldichein16

Wart auf mich dort! Ich werde nicht fehlen,

Dich in jenem hohlen Tal zu treffen.

(Leichenrede beim Tode seiner Gattin von Henry King, Bischof von Chichester.)

Unglückseliger und rätselhafter Mann! – Verwirrt von dem Feuer deiner eigenen Phantasie und in die Flammen deiner eigenen Jugend gestürzt! Wieder sehe ich dich vor mir! Noch einmal ist deine Gestalt vor mir erstanden! – nicht – oh, nicht wie du bist– in dem kalten Tal und Schatten–, sondern wie du sein solltest – ein Leben herrlicher Gedankenverlorenheit vergeudend in jener Stadt trüber Visionen, deinem eigenen Venedig, das ein von den Sternen geliebtes Elysium des Meeres ist, und die weiten Fenster seiner Palladio-Paläste17 schauen mit tiefer und bitterer Bedeutung hinunter auf die Geheimnisse seiner stillen Wasser. Ja! Ich wiederhole es – wie du sein solltest. Sicherlich gibt es andere Welten als diese – andere Gedanken als die Gedanken der Menge – andere Erwägungen als die Erwägungen des Sophisten. Wer denn sollte Bedenken gegen dein Vorgehen erheben? Wer dich deiner träumerischen Stunden wegen tadeln oder diese Beschäftigungen als ein Verschwenden des Lebens rügen, die ja nur die Überflutungen deiner immerwährenden Kräfte waren?

Es war in Venedig, unter dem gedeckten Bogengang dort, der Ponte di Sospiri genannt wird, dass ich die Person, von welcher ich spreche, zum dritten oder vierten Male traf. Verwirrt ist die Erinnerung, mit der ich mir die Umstände jenes Treffens ins Gedächtnis rufe. Jedoch erinnere ich mich – oh! wie könnte ich es vergessen? – an die tiefe Mitternacht, an die Seufzerbrücke, an weibliche Schönheit und an das Genie der Romantik, das den schmalen Kanal auf und ab schritt.

Es war eine Nacht von ungewöhnlicher Düsterkeit. Die große Uhr der Piazza hatte die fünfte Stunde des italienischen Abends eingeläutet. Der Platz des Campanile lag still und verlassen da, und die Lichter in dem alten Dogenpalast starben schnell dahin. Ich kehrte von der Piazzetta über den Canal Grande nach Hause zurück. Aber als meine Gondel gegenüber der Mündung des Kanals von San Marco ankam, brach plötzlich eine weibliche Stimme aus ihrem tiefsten Grund in einem wilden, hysterischen und lang andauernden Schrei über die Nacht herein. Der Klang ließ mich erbeben, und ich sprang auf, während der Gondoliere sein einziges Ruder entgleiten ließ und es in der pechschwarzen Dunkelheit für immer verlor, und so waren wir der Führung der Strömung überlassen, die sich hier von dem größeren in den kleineren Kanal fortsetzt. Wie ein ungeheurer schwarzgefiederter Kondor trieben wir langsam hinunter zur Seufzerbrücke, als Tausende von Leuchtern von den Fenstern und Treppenhäusern des Dogenpalastes her aufflammten und die tiefe Düsternis plötzlich in einen bleifarbenen und übernatürlichen Tag verwandelten.

Ein Kind war den Armen seiner eigenen Mutter entglitten und von einem der oberen Fenster des hohen Bauwerks in den tiefen, trüben Kanal gefallen. Die stillen Wasser hatten sich sanft über ihrem Opfer geschlossen; und obgleich meine eigene Gondel die einzige in Sicht war, hatte sich manch ein kühner Schwimmer schon in den Strom geworfen und suchte an der Oberfläche vergebens nach dem Schatz, der, o weh! nur in dem Abgrund zu finden war. Auf den breiten schwarzen Marmorplatten am Eingang des Palastes und ein paar Stufen über dem Wasser stand eine Gestalt, die niemand, der sie damals gesehen, seither je vergessen haben kann. Es war die Marchesa Aphrodite – die Angebetete ganz Venedigs – die Strahlendste der Strahlenden – die Lieblichste, wo alle schön waren – aber dennoch die junge Gattin des alten und arglistigen Mentoni und die Mutter jenes hübschen Kindes, ihres ersten und einzigen, das jetzt tief unter dem finsteren Wasser mit bitterem Herzen ihrer süßen Liebkosungen gedachte und sein kleines Leben in dem Bestreben, ihren Namen zu rufen, aushauchte.

Sie stand allein. Ihre kleinen, bloßen und silbrigen Füße schimmerten unter ihr in dem schwarzen Spiegel von Marmor. Ihr Haar, aus seiner Ballsaalfrisur bislang nicht mehr als halb für die Nacht gelöst, wand sich inmitten einer Fülle von Diamanten gekräuselt wie eine junge Hyazinthe rund um ihren klassischen Kopf. Ein schneeweißes und gazeartiges Gewand schien fast die einzige Bedeckung ihrer zierlichen Gestalt zu sein; aber die Mittsommer- und Mitternachtsluft war heiß, träge und still, und keine Bewegung in der statuenhaften Gestalt selbst regte auch nur die Falten jenes Kleidungsstückes aus reinstem Dunst, das um sie hing wie der schwere Marmor um Niobe18 hängt. Jedoch – seltsam! – ihre großen, leuchtenden Augen waren nicht nach unten gewandt auf das Grab, in dem ihre strahlendste Hoffnung begraben lag – sondern starrten gebannt in eine ganz verschiedene Richtung! Das Gefängnis der Alten Republik ist, denke ich, das stattlichste Gebäude in ganz Venedig – aber wie konnte jene Dame ihren Blick so fest darauf heften, wenn tief unter ihr ihr einziges Kind im Ersticken lag? Auch gähnt jene dunkle, düstere Nische direkt gegenüber dem Fenster ihres Gemachs – was also konnte da in ihrem Schatten sein – in ihrer Bauweise – in ihren efeuumschlungenen und ehrfurchterweckenden Gesimsen – worüber die Marchesa di Mentoni sich nicht tausendmal zuvor gewundert hatte? Unsinn! – Wer erinnert sich nicht daran, dass in einem Moment wie diesem das Auge wie ein gesprungener Spiegel die Bilder seines Kummers vervielfältigt und an unzählbaren, weit entlegenen Orten den Gram sieht, der dicht bevorsteht?

Viele Stufen über der Marchesa und innerhalb des Wasserportals stand in voller Bekleidung die satyrgleiche Gestalt Mentonis selbst. Er war gelegentlich damit beschäftigt, auf einer Gitarre zu klimpern, und schien wahrhaft zu Tode ennuyé, als er zwischenzeitlich Anweisungen für das Auffinden seines Kindes gab. Benommen und entsetzt hatte ich selber nicht die Kraft, mich aus der aufrechten Stellung zu rühren, die ich eingenommen, als ich den Aufschrei anfangs gehört hatte, und muss den Augen der erregten Gruppe eine gespenstische und unheilvolle Erscheinung geboten haben, wie ich mit bleichem Antlitz und starren Gliedern mitten unter ihnen in jener Begräbnisgondel dahintrieb.

Alle Anstrengungen erwiesen sich als umsonst. Viele der am eifrigsten Suchenden ließen in ihren Bemühungen nach und gaben sich einer finsteren Trübsal hin. Es schien nur wenig Hoffnung für das Kind (wie viel weniger als für die Mutter!); aber nun trat aus dem Innern jener dunklen Nische, die schon als Teil des Gefängnisses der Alten Republik und als dem Gitterwerk der Marchesa gegenüberliegend erwähnt wurde, eine in einen Mantel gehüllte Gestalt in den Bereich des Lichts, hielt einen Moment lang am Rand des schwindligen Abstiegs inne und tauchte kopfüber in den Kanal. Als sie einen Augenblick später mit dem noch lebenden und atmenden Kind in ihrem Griff auf den Marmorplatten an der Seite der Marchesa stand, löste sich ihr von Wasser durchtränkter, schwerer Mantel und enthüllte, in Falten um ihre Füße fallend, den von Staunen ergriffenen Zuschauern die anmutige Person eines sehr jungen Mannes, von dessen Namens Klang der größere Teil Europas zu jener Zeit erschallte.

Nicht ein Wort sprach der Erretter. Aber die Marchesa! Sie wird nun ihr Kind entgegennehmen – sie wird es an ihr Herz drücken – sie wird sich an seine kleine Gestalt klammern und es über und über mit ihren Liebkosungen bedecken. Ach! die Arme eines Anderen haben es von dem Fremden entgegengenommen, die Arme eines Anderen haben es weggenommen und es unbemerkt weit fort in den Palast getragen! Und die Marchesa! Ihre Lippe – ihre schöne Lippe zittert: Tränen sammeln sich in ihren Augen – in jenen Augen, die wie Plinius’ Akanthus »sanft und fast fließend« sind.19 Ja! Tränen sammeln sich in diesen Augen – und siehe! die ganze Frau erschaudert aus voller Seele, und die Statue hat sich belebt! Die Blässe des marmornen Antlitzes, das Schwellen der marmornen Brust und gar die Reinheit der marmornen Füße gewahren wir plötzlich überzogen mit einer Flut unbändigen Karmesins; und ein leichter Schauder lässt ihren zierlichen Leib erbeben wie der sanfte Hauch in Neapel die üppigen Silberlilien im Gras.

Warum sollte die Dame erröten? Auf diese Frage gibt es keine Antwort – außer dass sie, die Zurückgezogenheit ihres eigenen Boudoirs verlassend, es in der treibenden Hast und dem Schrecken eines Mutterherzens versäumt hatte, die winzigen Füße ihren Pantoffeln zu unterjochen, und völlig vergessen, ihren venezianischen Schultern jenes Gewand überzuwerfen, das ihnen gebührt. Welchen anderen, möglichen Grund könnte es für ihr derartiges Erröten gegeben haben? – für das Aufblitzen der wilden, anziehenden Augen? für die ungewöhnliche Erregung des pochenden Busens? – für den krampfhaften Druck der zitternden Hand? – die Hand, die, als Mentoni sich in den Palast wandte, zufällig auf die Hand des Fremden fiel. Welchen Grund könnte es gegeben haben für den leisen – den einzigartig leisen Ton dieser unbedeutenden Worte, die die Dame eilig äußerte, als sie ihm Lebewohl sagte? »Du hast gesiegt«, sagte sie, oder das Murmeln des Wassers täuschte mich, »du hast gesiegt – wir werden uns treffen – eine Stunde nach Sonnenaufgang – so soll es denn sein!«

***

Der Aufruhr hatte sich gelegt, die Lichter im Palast waren erloschen, und der Fremde, den ich nun wiedererkannte, stand allein auf den Steinplatten. Er zitterte vor unfassbarer Erregung, und sein Auge blickte auf der Suche nach einer Gondel umher. Ich konnte nicht anders, als ihm die Dienste meiner eigenen anzubieten; und er willigte in das Anerbieten ein. Nachdem wir an dem Wasserportal ein Ruder bekommen hatten, setzten wir zusammen den Weg zu seinem Wohnsitz fort, während er seine Fassung schnell wiedergewann und von unserer früheren, oberflächlichen Bekanntschaft mit großer, offensichtlicher Herzlichkeit sprach.

 

Es gibt einige Themen, bei denen es mir Spaß bereitet, auf Einzelheiten einzugehen. Die Person des Fremden – lasst mich ihn, der für die ganze Welt noch ein Fremder war, bei diesem Namen nennen – die Person des Fremden ist eines dieser Themen. Seine Größe mag eher unter als über dem Durchschnitt gelegen haben: wiewohl es Augenblicke heftiger Leidenschaft gab, in denen seine Gestalt sich regelrecht ausdehnte und die Behauptung Lügen strafte. Die leichte, fast schlanke Symmetrie seines Körperbaus versprach mehr von jener bereitwilligen Behändigkeit, die er an der Seufzerbrücke bekundet hatte, als von der herkulischen Kraft, die er, wie man wusste, in gefährlicheren Lagen mühelos aufbrachte. Mit dem Mund und Kinn einer Gottheit – einzigartige, wilde, volle, fließende Augen, deren Schattierungen von reinem Haselnussbraun bis zu intensivem und glänzendem Pechschwarz variierten – und eine Überfülle lockigen schwarzen Haares, unter dem eine Stirn von ungewöhnlicher Breite hin und wieder ganz hell und elfenbeinfarben hervorschimmerte – nannte er Züge sein eigen, wie ich sie klassisch, regelmäßiger noch nie gesehen habe, es sei denn vielleicht die marmornen des Kaisers Commodus20. Jedoch war sein Antlitz nichtsdestoweniger eines von denen, die jedermann zu einer Zeit seines Lebens gesehen hat und danach nie wieder. Es hatte keinen besonderen – es hatte keinen entschieden vorherrschenden Ausdruck, der einem in Erinnerung bleibt; ein Antlitz, das gesehen und sofort vergessen wird – aber vergessen mit dem vagen und nie schwindenden Verlangen, es sich ins Gedächtnis zurückzurufen. Nicht dass das Wesen einer jeden reißenden Leidenschaft jemals versagte, sein eigenes, klares Abbild auf den Spiegel jenes Gesichtes zu werfen – aber dass der Spiegel, auf Spiegelart, keine Spur der Leidenschaft festhielt, wenn die Leidenschaft gewichen war.

Als ich ihn in der Nacht unseres Abenteuers verließ, ersuchte er mich, so empfand ich, auf sehr dringliche Weise, sehr früh am nächsten Morgen bei ihm vorzusprechen. Mithin fand ich mich kurz nach Sonnenaufgang bei seinem Palazzo ein, einem jener gewaltigen Bauwerke düsteren, jedoch phantastischen Prunks, die sich über den Wassern des Canal Grande in der Nachbarschaft des Rialto emportürmen. Ich wurde ein ausladendes, gewundenes Mosaiktreppenhaus hinauf in ein Gemach geleitet, dessen unvergleichliche Pracht mit einem wahren Funkeln durch die aufgehende Tür barst, das mich blind und schwindlig vor Üppigkeit machte.

Ich wusste, dass mein Bekannter wohlhabend war. Gerüchte hatten seine Besitztümer in Wendungen geschildert, die ich sogar gewagt hatte Wendungen lächerlicher Übertreibung zu nennen. Aber als ich mich umschaute, konnte ich mich nicht dazu bringen zu glauben, dass der Reichtum irgendeines Menschen in Europa die königliche Großartigkeit gewährt haben könne, die hier ringsum glühte und loderte.

Obwohl, wie ich schon sagte, die Sonne aufgegangen war, war der Raum noch festlich beleuchtet. Dieser Umstand sowie ein Hauch von Erschöpfung auf dem Antlitz meines Freundes lassen mich schließen, dass er sich während der ganzen vorangegangenen Nacht nicht zur Ruhe begeben hatte. Die offensichtliche Absicht der Bauweise und der Verzierungen des Gemachs war es gewesen zu blenden und zu verblüffen. Wenig Aufmerksamkeit war auf das Dekorum dessen, wofür der technische Ausdruck Einklang steht, gerichtet worden, wie auch auf die Angemessenheit der Herkunft. Das Auge wanderte von Gegenstand zu Gegenstand und verweilte auf keinem – weder auf den Grotesken der griechischen Maler noch auf den Skulpturen der besten Tage Italiens, noch auf den gewaltigen Schnitzereien des ungebildeten Ägyptens. In jedem Teil des Raumes zitterten üppige Drapierungen zur Schwingung leiser, schwermütiger Musik, deren Ursprung nicht auszumachen war. Die Sinne wurden von gemischten, unharmonischen Düften überwältigt, die von seltsamen, gerollten Weihrauchspendern aufstiegen zusammen mit flimmernden und flackernden Zungen smaragdfarbenen und violetten Feuers. Die Strahlen der jüngst aufgegangenen Sonne ergossen sich über das Ganze durch Fenster, deren jedes aus einer einzigen Scheibe karmesinrot getönten Glases bestand. Wie sie in tausend Widerscheinen auf Vorhängen, die von ihren Leisten wie Katarakte geschmolzenen Silbers flossen, hin und her blitzten, verwoben sich die Strahlen natürlichen Glanzes schließlich flatternd mit dem künstlichen Licht und wälzten sich in gebändigten Massen auf einem Teppich aus kostbarem, fließend anmutendem Stoff von Chili-goldener Farbe.

»Ha! ha! ha! – ha! ha! ha!« – lachte der Eigentümer, als ich den Raum betrat, winkte mich zu einem Sitz und warf sich selbst in voller Länge zurück auf eine Ottomane. »Ich sehe«, sagte er, als er gewahr wurde, dass ich mich nicht sogleich in die Manier einer so einzigartigen Begrüßung fügen konnte, »ich sehe, dass Sie sich über meine Wohnung wundern – über meine Statuen – meine Gemälde – die Originalität meiner Schöpfung von Architektur und Dekoration – völlig trunken, he? von meiner Großartigkeit? Aber vergeben Sie mir, mein lieber Herr (hier nahm seine Stimme einen Ton an, als sei sie die Herzlichkeit selbst), vergeben Sie mir mein unbarmherziges Lachen. Sie schienen so überaus erstaunt. Außerdem sind manche Dinge so vollkommen lustig, dass man lachen oder sterben muss. Lachend zu sterben muss der glorreichste aller glorreichen Tode sein! Sir Thomas More21 – ein sehr feiner Mann war Sir Thomas More – Sir Thomas More starb lachend, Sie erinnern sich. Auch in den Absurditäten von Ravisius Textor22 gibt es eine lange Liste von Charakteren, die dasselbe großartige Ende fanden. Wissen Sie aber«, fuhr er in Gedanken versunken fort, »dass es in Sparta (was nun Palaeochori ist), in Sparta, sage ich, westlich der Zitadelle inmitten eines Chaos von kaum erkennbaren Ruinen eine Art Sockel gibt, auf dem die Buchstaben ΛΑΣΜ noch leserlich sind. Sie sind unzweifelhaft ein Teil des Wortes ГΕΛΑΣΜΑ23. Nun gab es in Sparta Tausende von Tempeln und Heiligtümern für Tausende verschiedener Gottheiten. Wie außerordentlich seltsam, dass der Altar des Lachens alle anderen überlebt haben soll! Aber im gegenwärtigen Augenblick«, nahm er den Faden mit einer einzigartigen Veränderung von Stimme und Gebärde wieder auf, »habe ich kein Recht, auf Ihre Kosten vergnügt zu sein. Sie mochten sehr wohl erstaunt gewesen sein. Europa kann nichts hervorbringen so fein wie dies, mein kleines, königliches Kabinett. Meine anderen Wohnungen haben keineswegs dieselbe Anordnung; bloße Ultras modischer Fadheit. Dies ist besser als Mode – nicht wahr? Doch braucht es nur geschaut zu werden, um zu einer Sucht anzuwachsen – das heißt für diejenigen, die es sich auf Kosten ihres ganzen Erbvermögens leisten können. Ich war jedoch auf der Hut gegen jede Art solcher Entweihung. Mit einer Ausnahme sind Sie neben mir selbst und meinem Kammerdiener das einzige menschliche Wesen, das in die Geheimnisse dieser hoheitlichen Bereiche eingeweiht wurde, seitdem sie ausgeschmückt wurden, wie Sie sie sehen!«

Ich verneigte mich anerkennend; denn zusammen mit der unerwarteten Exzentrizität seiner Ansprache und seines Gebarens hinderte mich die überwältigende Empfindung von Glanz und Duft und Musik daran, meine Hochachtung davor in Worten auszudrücken, woraus ich ein Kompliment hätte gestalten können.

»Hier«, fuhr er im Aufstehen und, als er durch die Wohnung schlenderte, auf meinen Arm gelehnt fort, »hier sind Gemälde von den Griechen bis Cimabue und von Cimabue bis zur gegenwärtigen Stunde. Viele wurden, wie Sie sehen, mit wenig Rücksicht auf die Ansichten des Kunstgeschmacks gewählt. Sie sind jedoch alle geeigneter Wandschmuck für ein Gemach wie dieses. Hier sind auch einige chefs-d’œuvres der unbekannten Großen – und hier unvollendete Entwürfe von Künstlern, zu ihren Lebzeiten gefeiert, deren Namen der Scharfsinn der Kunstakademien nur der Stille und mir überlassen hat. Was halten Sie«, sagte er und wandte sich abrupt um, als er sprach, »was halten Sir von dieser Madonna della Pietà?«

»Es ist Guidos eigene!«,24 sagte ich mit all der Begeisterung meines Wesens denn ich hatte ihren ungemeinen Liebreiz ausgiebig betrachtet. »Es ist Guidos eigene! – wie können Sie sie nur erworben haben? – Sie bedeutet für die Malerei zweifellos, was die Venus für die Bildhauerkunst bedeutet.«

»Ach!«, sagte er nachdenklich, – »die Venus – die schöne Venus? – die Venus der Medici? – die mit dem zu klein geratenen Kopf und dem vergoldeten Haar? Ein Teil ihres linken Armes (hier senkte er seine Stimme derart, dass sie nur mit Mühe zu vernehmen war) und der ganze rechte sind Restaurationen, und in der Koketterie dieses rechten Armes liegt, so denke ich, die Quintessenz aller Affektiertheit. Geben Sie mir den Canova25! Der Apoll ist auch eine Kopie – daran gibt es keinen Zweifel – blinder Narr, der ich hin, der ich die berühmte Offenbarung des Apoll nicht wahrzunehmen vermag! Ich kann mir nicht helfen – haben Sie Mitleid mit mir! – ich kann mir nicht helfen, ich ziehe den Antinous26 vor. War es nicht Sokrates, der sagte, dass der Bildhauer seine Statue in dem Marmorblock fand? Dann war auch Michelangelos Couplet keineswegs originell –

Non ha l’ottimo artista alcun concetto

Che un marmo solo in se non circonscriva.27«

Es wurde schon oder sollte doch bemerkt werden, dass wir uns in der Manier wahrer Gentlemen stets der Andersartigkeit gemeinen Betragens bewusst sind, ohne sogleich in der Lage zu sein, genau zu bestimmen, worin diese Andersartigkeit besteht. Nachdem ich dieser Bemerkung erlaubt hatte, sich mit voller Kraft auf die äußerliche Haltung meines Bekannten zu beziehen, spürte ich, dass sie an diesem ereignisvollen Morgen noch vollkommener auf seine moralische Verfassung und seinen Charakter bezogen werden konnte. Auch kann ich diese Besonderheit des Geistes, die ihn so wesentlich von allen anderen menschlichen Geschöpfen abzusetzen schien, nicht besser bestimmen, als indem ich sie eine Eigenart angestrengten und fortwährenden Denkens nenne, das selbst seine unbedeutendsten Tätigkeiten durchdrang – sich in seine spielerischen Momente einmischte – und sich mit dem wahren Aufblitzen seiner Fröhlichkeit verwob – wie Ottern, die sich aus den Augen der grinsenden Masken an den Simsen der Tempel von Persepolis28 winden.

Ich konnte mir jedoch nicht helfen, durch den aus Leichtigkeit und feierlichem Ernst gemischten Ton hindurch, mit dem er sich rasch über Angelegenheiten geringerer Wichtigkeit ausließ, wiederholt einen gewissen Hauch von Beunruhigung wahrzunehmen – einen Grad nervöser Inbrunst in Handlung und Sprache – eine ruhelose Reizbarkeit in einer Weise, die mir die ganze Zeit über unberechenbar schien und bei manchen Gelegenheiten sogar Furcht einjagte. Häufig auch, wenn er mitten in einem Satz innehielt, dessen Anfang er offensichtlich vergessen hatte, schien er mit höchster Aufmerksamkeit zu lauschen, als ob entweder in augenblicklicher Erwartung eines Besuchers, oder Klängen, die allein in seiner Vorstellungskraft vorhanden gewesen sein können.

Es geschah während einer dieser Träumereien oder Pausen offenbarer Zerstreutheit, dass ich, eine Seite der vortrefflichen Tragödie Orfeo29 des Dichters und Denkers Politian (die erste einheimische italienische Tragödie) umblätternd, die in meiner Nähe auf einer Ottomane lag, einen mit Bleistift unterstrichenen Passus entdeckte. Es war ein Passus gegen Ende des dritten Aktes – ein Passus herzergreifendster Erregung – ein Passus, den, wiewohl von Unreinheit befleckt, kein Mann lesen wird, ohne vor neuartigem Gefühl zu erbeben – keine Frau, ohne zu seufzen. Die ganze Seite war mit frischen Tränen getränkt, und auf dem gegenüberliegenden Durchschussblatt standen die folgenden englischen Zeilen, geschrieben in einer Handschrift so ganz verschieden von den eigentümlichen Buchstaben meines Bekannten, dass ich einige Mühe hatte, sie als seine eigene wieder zu erkennen.

Du warst das Alles für mich, Liebes,

Wonach meine Seele sich sehnte –

Ein grünes Eiland auf dem Meer, Liebes,

Eine Quelle und ein Heiligtum,

Umrankt von zauberhaften Früchten und Blumen;

Und all die Blumen waren mein.

Ach, Traum, zu strahlend, um zu währen;

Ach, sternhelle Hoffnung, die du aufgingst,

Nur um bewölkt zu werden!

Eine Stimme aus der Zukunft schreit

»Voran!« – doch über der Vergangenheit

(Düstrer Schlund!) liegt schwebend mein Geist,

Stumm, regungslos, entsetzt!

Denn weh! o weh! für mich

Ist das Licht des Lebens dahin.

 

»Nimmer – nimmer – nimmermehr«

(So spricht das ernste Meer

Zu dem Sand an der Küste)

Wird der vom Blitz versengte Baum erblühn

Oder getroffen der Adler emporsteigen!

Weh mir! denn an jenem verfluchten Tage

Trugen sie dich davon über die Woge

Von Liebe zu adligem Alter und Frevel

Und entweihten Kissen –

Von mir und unsrem dunst’gen Himmelsstrich,

Dort, wo die Silberweide trauert!

Dass diese Zeilen auf Englisch geschrieben waren – eine Sprache, deren ich den Verfasser nicht mächtig geglaubt hatte –, bot mir wenig Anlass zu Überraschung. Ich war mir des Ausmaßes seiner Kenntnisse und der einzigartigen Freude, die es ihm bereitete, sie zu verbergen, zu wohl bewusst, um über eine ähnliche Entdeckung erstaunt zu sein; aber ich muss gestehen, dass die Datierung keine geringe Verwunderung in mir auslöste. Sie lautete ursprünglich auf London und wurde später sorgfältig ausgestrichen – jedoch nicht wirkungsvoll genug, um das Wort vor einem prüfenden Auge zu verbergen. Ich sage, dass dies keine geringe Verwunderung in mir auslöste; denn ich erinnere mich gut, dass ich in einer früheren Unterhaltung mit meinem Freund eigens gefragt hatte, ob er in London die Marchesa di Mentoni (die vor ihrer Vermählung einige Jahre in jener Stadt verweilt hatte) zu irgendeiner Zeit getroffen hatte, als seine Antwort, wenn ich mich nicht täusche, mir zu verstehen gab, dass er die Metropole Großbritanniens nie besucht habe. Ich mag hier ebenso erwähnen, dass ich mehr als einmal gehört habe (selbstverständlich ohne einem Bericht, der so viele Unwahrscheinlichkeiten birgt, Glauben zu schenken), dass die Person, von der ich spreche, nicht nur von Geburt, sondern auch ihrer Bildung nach Engländer ist.

***

»Es gibt ein Gemälde«, sagte er, ohne sich bewusst zu sein, dass ich die Tragödie bemerkte, »es gibt noch ein Gemälde, das Sie nicht gesehen haben.« Und einen Vorhang zur Seite werfend, enthüllte er ein vollständiges Porträt der Marchesa Aphrodite.

Menschliche Kunst hätte die Darstellung ihrer übermenschlichen Schönheit nicht besser treffen können. Dieselbe himmlische Figur, die in der vorangegangenen Nacht auf den Stufen des Dogenpalastes vor mir gestanden hatte, stand noch einmal vor mir. Aber in dem Ausdruck ihres Antlitzes, das über und über im Lächeln erstrahlte, lauerte noch (unverständliche Anomalie!) dieser Tupfen Schwermut, der stets als untrennbar von der Vollkommenheit des Schönen erscheinen wird. Ihr rechter Arm lag angewinkelt über ihrer Brust. Mit dem linken deutete sie hinab auf eine seltsam gestaltete Vase. Ein kleiner elfenhafter Fuß, allein sichtbar, berührte die Erde nur so eben – und, in der strahlenden Atmosphäre, die ihren Liebreiz zu umgeben und einzuschließen schien, kaum auszumachen, schwebte ein Paar zärtlichst ersonnener Flügel. Mein Blick fiel von dem Gemälde auf die Gestalt meines Freundes, und die machtvollen Worte von Chapmans Bussy D’Ambois30 bebten instinktiv auf meinen Lippen:

Er ist dort oben

Wie eine römische Statue! Er wird dort stehen,

Bis der Tod ihn zu Marmor gemacht hat!

»Kommen Sie!«, sagte er endlich und wandte sich einem reichlich verzierten, massiv silbernen Tisch zu, auf dem zusammen mit zwei großen etruskischen Vasen, die in derselben außergewöhnlichen Form gestaltet waren wie die im Vordergrund des Porträts, einige Kelche mit phantastischen Mustern und gefüllt mit was ich für Johannisberger hielt standen. »Kommen Sie!«, sagte er jählings, »lassen Sie uns trinken! Es ist früh, aber lassen Sie uns trinken. Es ist in der Tat früh«, fuhr er fort, als ein Cherub mit einem schweren goldenen Hammer die Wohnung von der ersten Stunde nach Sonnenaufgang erklingen ließ, – es ist in der Tat früh, aber was macht das aus? Lassen Sie uns trinken! Lassen Sie uns auf das Wohl jener ernsten Sonne trinken, die diese vergnüglichen Lampen und Duftspender so eifrig zu überwältigen suchen!« Und nachdem er mich dazu gebracht hatte, ihr einen Becher voll zuzutrinken, schluckte er in rascher Folge mehrere Kelche des Weines.

»Träumen«, fuhr er, den Ton oberflächlicher Unterhaltung wieder aufnehmend, fort, als er eine der prächtigen Vasen an das bunte Licht eines Duftspenders hielt, »träumen war das Gewerbe meines Lebens. Deshalb habe ich mir, wie Sie sehen, ein Nest der Träume entworfen. Hatte ich im Herzen von Venedig ein besseres errichten können? Sie gewahren um sich herum, das stimmt, einen Mischmasch architektonischer Verzierungen. Die Keuschheit der Ionia31 wird von den vorsintflutlichen Gerätschaften beleidigt, und Ägyptens Sphinxen strecken sich auf goldenen Teppichen aus. Unziemlich ist die Wirkung jedoch allein für den Furchtsamen. Angemessenheit des Ortes und besonders der Zeit sind die Schreckgespenster, die die Menschheit vor der Betrachtung des Erhabenen ängstigen. Ich war selbst einmal ein Dekorateur: Aber diese Steigerung der Torheit hat sich auf meiner Seele niedergeschlagen. Das kommt meiner Absicht nun umso mehr zugute. Wie diese arabesken Duftspender windet sich meine Seele in Feuer, und das Delirium dieser Szene rüstet mich für die zügelloseren Visionen des Landes der wirklichen Träume, wohin ich nun rasch scheide.« Hier hielt er jäh inne, neigte seinen Kopf auf die Brust und schien einem Klang zu lauschen, den ich nicht vernehmen konnte. Endlich richtete er seinen Körper auf, schaute nach oben und stieß die Zeilen des Bischofs von Chichester aus:

Wart auf mich dort! Ich werde nicht fehlen,

Dich in jenem hohlen Tal zu treffen.

Die Kraft des Weines gestehend, warf er sich im nächsten Augenblick in voller Länge auf eine Ottomane.

Nun war ein schneller Schritt im Treppenhaus vernehmlich, und ein lautes Klopfen an der Tür folgte rasch. Ich eilte, um einer zweiten Störung zuvorzukommen, als ein Page aus dem Haushalt Mentonis in den Raum platzte und mit vor Gemütsbewegung erstickter Stimme die unzusammenhängenden Worte stammelte: »Meine Herrin! – meine Herrin! – vergiftet! – vergiftet! – Oh, schöne – oh, schöne Aphrodite!«

Entsetzt flog ich zu der Ottomane und bemühte mich, den Schläfer zu einer Empfänglichkeit für die überraschende Kunde aufzurütteln. Aber seine Glieder waren steif – seine Lippen waren blaugrau – seine zuletzt strahlenden Augen starrten im Tod. Ich taumelte zurück zum Tisch – meine Hand fiel auf einen gesprungenen und schwarz angelaufenen Kelch32 – und das Bewusstsein der ganzen schrecklichen Wahrheit durchzuckte plötzlich blitzartig meine Seele.

1834 Übersetzung von Erika Engelmann

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