Berufsbildung in der Schweiz - Gesichter und Geschichten

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Im ABU haben wir die Chance, uns an aktuellem Geschehen zu orientieren. Wenn heute etwas passiert, können wir das morgen in den Unterricht einbauen. Dieser Aktualitätsbezug, das macht den ABU sehr lebendig. Wenn man das schafft, wenn man sie in ihrem Denken, ihrem Sehen, ihrem Erkennen schulen kann, wenn man ihnen die Augen öffnen kann, wenn man zeigen kann, wie sie hinter die Fassaden blicken können, dann kommen sie sehr gerne in den Unterricht.

In meinen Augen sind sie sehr lernwillig, man muss nur wissen, wie man das lebendig hält.

Das macht es ja alles noch einmal anspruchsvoller. ... Es reicht nicht, sich in Vertragsrecht kundig zu machen. Sie selbst müssen sich ja mit der Aktualität beschäftigen, und Sie müssen wissen, womit sie, Ihre Schüler, sich beschäftigen.

Sie sagten einmal in einem Interview, Sie hätten bis vor Kurzem keinen Fernseher gehabt ... Schauen Sie jetzt manchmal fern, schauen Sie Jugendsendungen, zum Beispiel Serien?

Nein, selten, ich kenne mich da schlecht aus. Ich habe den Fernseher vor allem gekauft, um selbst Sendungen aufnehmen zu können, die ich dann im Unterricht verwenden kann. Jugendsendungen schaue ich nicht ...

Aber Sie wissen, was Ihre Schüler im TV sehen?

Sie schauen gar nicht so viel fern. Sie sind mehr auf Facebook ...

Sind Sie da auch?

Nein. Ich werde auch nie auf Facebook sein. Aber klar, sie fragen mich ... Sie stellen mich regelrecht zur Rede, weshalb ich nicht auf Facebook sei ... Sie laden mich ein ...

Ich erkläre ihnen, weshalb ich das nicht möchte, und es ist auch gut so. Ich muss nicht so sein wie sie, und wenn ich so wäre, würden sie das gar nicht schätzen. Das ist auch mein Anspruch, ich bin anders.

Nachtrag

Vier Jahre sind vergangen seit dem Interview.

Was hat sich verändert in dieser Zeit? Nun, ich habe mein ABU-Studium erfolgreich abgeschlossen, unterrichte weiterhin an der Berufsschule für Gestaltung, mittlerweile in einer unbefristeten, sogenannten «mbA»-Anstellung («mit besonderen Aufgaben»). Meine «besondere Aufgabe» an der Schule ist dabei die Deutschförderung. Heute arbeite ich ganz ohne Lehrmittel, bereite Dossiers oder Arbeitsmaterialien selber vor, und BYOD (Bring Your Own Device) ist an der Schule etabliert, das heisst, die Lernenden bringen ihre eigenen Notebooks oder Laptops mit, und ihre Smartphones gehören ebenfalls zu den Arbeitsinstrumenten, die sie im Unterricht einsetzen. Computerräume mit kosten- und personalintensiver Wartung werden bald der Vergangenheit angehören. Lernende sind heute mobil und Lernen nicht mehr zwingend orts- oder raumgebunden.

Dass wir auch in der Berufsbildung in einer sich rasant verändernden Zeit leben, macht sich an einigen meiner Aussagen im Interview gut bemerkbar: Ich werde nie auf Facebook sein, antworte ich an einer Stelle. Heute würde ich es nicht so strikt formulieren, obwohl ich weiterhin nicht auf Facebook bin – wobei nicht auf Facebook zu sein, heutzutage schon fast verdächtig ist. Meine Haltung bezüglich sozialer Netzwerke ist inzwischen weniger kategorisch ablehnend; diese Netzwerke lassen sich für das ortsungebundene Lernen und Austauschen nutzen. Lernende oder ehemalige Schüler schicken mir heute zum Beispiel Einladungen für Linkedin, die ich annehme, da ich nun auch einen Linkedin-Account habe. An einer anderen Stelle spreche ich vom handlungsorientierten Unterricht, wo doch heute fast nur noch der kompetenzorientierte Unterricht salonfähig zu sein scheint, obwohl beide Unterrichtsformen sich überhaupt nicht ausschliessen, abgesehen vom selbstorganisierten Lernen, das momentan in aller Munde ist und Akzeptanz geniesst. Die Lehrperson ist dann allenfalls noch Coach.

Würde ich auf alle anderen Fragen meines Interviewpartners heute genauso antworten, habe ich mich gefragt, insbesondere auf Fragen, die die Person des Lehrers betreffen? Die Antwort ist eindeutig ja. Ich führe Klassen eng, und klare Strukturen sind mir weiterhin wichtig. Ich bin immer noch der Überzeugung, dass die Lehrperson einen grossen Einfluss auf den Lernerfolg hat. In einem Abschiedsbrief haben Lernende mir kürzlich geschrieben, sie seien immer gerne in meinen Unterricht gekommen, obwohl ich die strengste Lehrerin war; eine Klasse versicherte mir, sie würden an der Schlussprüfung den besten Notendurchschnitt schaffen und mich «stolz machen», was sie übrigens tatsächlich erreicht haben, eine andere Schülerin schrieb, ich hätte ihnen die Augen geöffnet für die Welt und ich sei ihnen ein Vorbild gewesen.

Solche Rückmeldungen sind mir eine Bestätigung für die Rolle, die ich als Lehrperson in meinen Klassen einnehme. Auch vier Jahre nach dem Gespräch kann ich mit Überzeugung wiederholen, dass dies ein Beruf ist, der erfüllt.

Mine Dal, September 2014

«Immer auf Kontrolle bedacht» – Perfektionismus als Last und Pflicht – Yvonne Steiner


«Immer auf Kontrolle bedacht» – Perfektionismus als Last und Pflicht

Yvonne Steiner, gelernte Fachfrau Gesundheit, Berufsfachschullehrerin an der Höheren Fachschule Pflege des BZSG, St. Gallen, Erwachsenenbildnerin

Es ist ein ziemlich schmaler Grat: Im beruflichen Alltag kann Perfektionismus die Gefahr eines Burn-outs heraufbeschwören. In der praktischen Ausbildung von Pflegefachleuten ist das Streben nach Präzision Pflicht. In diesem Sinne scheint Yvonne Steiner, Berufsfachschullehrerin am St. Galler Berufs- und Weiterbildungszentrum für Gesundheits- und Sozialberufe, den Weg gefunden zu haben, der zu ihrer Persönlichkeit passt.

Schon ein Jahr nach Abschluss ihrer eigenen Lehre übernahm sie die Verantwortung für die angehenden Pflegefachleute auf ihrer Abteilung des St. Galler Kantonsspitals. Mit siebenundzwanzig Jahren begann sie an der höheren Fachschule (HF) für Pflege zu unterrichten, zunächst mit einem kleineren Pensum, inzwischen ist sie aus der Praxis ausgestiegen und unterrichtet im Siebzig-Prozent-Pensum an der HF. Im August 2011, als das Gespräch stattfand, hatte sie gerade ein Master-Studium an der PH St. Gallen abgeschlossen, das sie parallel zu ihrer Ausbildungstätigkeit absolvierte.

Seither ist Yvonne Steiner an der HF für Pflege im Tutorat und Skills-Training tätig. Zudem erteilt sie am Zentrum für berufliche Weiterbildung (ZbW) Kurse für angehende Erwachsenenbilder und Berufsbildnerinnen.

Sie ist inzwischen auch Mutter eines kleinen Jungen, Lio Valerio.


Warum sind Sie nach Ihrer Berufslehre so rasch in die Ausbildung hinübergewechselt?

Ich habe bald gemerkt, dass ich einen guten Draht zu den Auszubildenden hatte, ich konnte gut vermitteln, es fiel mir nicht schwer, auch einmal Kritik anzubringen ...

In diesem Beruf gibt es ja zahlreiche Handlungen und Tätigkeiten, die präzisen Normen und Kriterien genügen müssen. Beim Wechseln eines Verbandes muss ich zum Beispiel die Regeln der Hygiene beachten. Zu vermitteln, wie man eine solche Handlung korrekt ausführt, reizte mich bald mehr als die eigentliche Pflegearbeit, vielleicht auch deshalb, weil ich immer auf Kontrolle bedacht bin. Ich möchte immer alles hundertprozentig unter Kontrolle haben. Das ist zuweilen ein Stressfaktor und hat mich bei der Arbeit oft belastet. Ich konnte und kann mich aber nicht mit «weniger» zufrieden geben, muss immer ans Limit gehen.

Unter tragischen Umständen – ein Todesfall – wurde dann die Stelle der Ausbildnerin plötzlich frei, das war der Grund, weshalb ich so früh in die Ausbildung gerutscht bin. Aber ich mochte diese Arbeit auf Anhieb, das Vorzeigen, das Auf-Erfolge-Hinarbeiten.

Wie lernt man denn in Ihrem Beruf die «korrekten» Handgriffe und Tätigkeiten?

Mittlerweile ist es ja auch an höheren Fachschulen so, dass den Studierenden Modelle zur Verfügung stehen – oder Attrappen, sie kleben sich zum Beispiel eine Wunde auf, es gibt hautähnliche Präparate, an denen sie mit dem Material, das ihnen im Spital zur Verfügung steht, üben können.

In der Klinik haben sie dann natürlich den Menschen vor sich, nicht eine Attrappe. Da gilt es dann weiterzuüben, nicht nur die Tätigkeit selbst, sondern das Managen der Tätigkeit am Menschen. Schule allein reicht deshalb nicht, es braucht immer auch die Praxis. In der Schule lernen sie selbstverständlich auch die theoretischen Grundlagen kennen. Dies geschieht hauptsächlich im Tutorat.

Man lernt, indem man tut, so weit klar ... Aber wie geht das genau vor sich? Solches «Lernen» geschieht ja nicht nur «im Kopf», es geht auch um etwas Motorisches. Und eine Handlung kann man auch zehnmal falsch machen. Worauf kommt es denn an, dass sich die Handlung verbessert? Dass sie irgendwann sitzt, perfekt ist – oder fast perfekt?

Es hat etwas mit dem Live-Modell zu tun: Ich mache vor, und die Lernenden sehen, wie es korrekt gemacht wird. Wichtig ist auch zu wissen, warum man etwas auf welche Weise tut, aus welchem Grund etwas funktioniert. Dann braucht es ein bestimmtes Lernumfeld, Personen, die einem auf diesem Weg helfen, die einen unterstützen: Ausbildnerinnen, Vertrauenspersonen, Lehrer, Kolleginnen – Menschen, die von aussen zusehen und Feedback geben. Etwas vom Wichtigsten ist schliesslich das Üben, damit sich etwas längerfristig festsetzt: Lernen, egal, ob es sich um einen Denkvorgang handelt oder eine manuelle Tätigkeit, geschieht vor allem über ständiges Wiederholen.

 

Oft gibt es aber durchaus mehrere mögliche Wege, nicht nur den einen. Jeder lernt anders, jeder ist auch im Hinblick auf Geschicklichkeit anders.

Ich muss im Übrigen nicht jeden Handgriff perfekt beherrschen: Im Team ergänzt man sich; was ich nicht so gut kann, kann eine andere vielleicht besser.

Wie läuft bei euch das Studium?

An unserer Schule haben wir ein problembasiertes Curriculum. Das Studium – besser gesagt: die erweiterte Grundbildung – ist in Themenblöcken aufgebaut, jedes Thema wird anhand von verschiedenen «Fällen», also Problemstellungen, erarbeitet. So gibt es zum Beispiel einen Block über Palliation und Sterbebegleitung, da wird etwa die Krebsentstehung behandelt, Pflegemassnahmen, alle Themen um die letzte Lebensphase – und immer anhand von Fällen. Auch im Skills-Training gibt es immer mehrere Fälle und Aufgaben dazu und eine oder zwei Handlungen, die die Studierenden dazu lernen müssen.

Ein Wochenablauf kann dann zum Beispiel so aussehen: Ausgangspunkt ist vielleicht eine Chronic Obstructive Pulmonary Disease (chronisch obstruktive Lungenkrankheit, abgekürzt COPD). Im Tutorat lernen die Studierenden das Krankheitsbild kennen, sie erarbeiten sich das theoretische Wissen. Dann kommen sie ins Skills-Training und lernen hier, wie sie zum Beispiel eine Inhalation verabreichen. Daneben haben sie eine Vorlesung über die Entstehung verschiedener Lungenkrankheiten. So stehen in jeder Woche zwei verschiedene Themen auf dem Programm, die auf diese Weise bearbeitet werden. Das Selbststudium hat dabei einen hohen Anteil, was natürlich eine gewisse Eigenmotivation voraussetzt. Es sagt niemand: «Du musst, du solltest.» Sie müssen selber wollen. Am Ende steht eine Prüfung, die zählt.

Ich selbst bin vor allem im Skills-Bereich tätig und übernehme gewisse Tutorate, da geht es zunächst um Theoriewissen, das allerdings in einem speziellen Rahmen erarbeitet wird, nicht primär mit Vorträgen oder Gruppenarbeiten. Ich unterrichte nicht im üblichen Sinne, es geht immer um einen Handlungsablauf, Handlungsschritte, «Tätigkeiten». Ich bereite deshalb auch nicht herkömmlichen Unterricht vor, sondern muss mir vor allem überlegen, wie die Lernenden bestimmte Handlungen und Tätigkeiten möglichst schnell lernen können.

Die ganze Ausbildung dauert drei Jahre, wenn jemand eine Vorbildung als Fachfrau Gesundheit (FaGe) mitbringt, zweieinhalb (bald nur noch zwei); ungefähr fünfzig Prozent davon ist Praxis, fünfzig Prozent Schule; zu Beginn ist der schulische Anteil höher, im dritten Jahr neutralisiert sich das Verhältnis.

Ich selbst habe noch vier Jahre gelernt. Das war aber damals noch eine Ausbildung auf Sekundarstufe II, heute ist es eine Ausbildung auf Tertiärstufe. Zulassungsvoraussetzung ist jetzt eine berufliche Grundbildung oder eine Matura.

Es gibt bei uns keine Klassen, sondern «Kurse» mit sehr unterschiedlicher Teilnehmerinnenzahl, zwischen dreissig und hundertzwanzig, meist achtzig bis hundert. Diese «Kurse» werden in Kleingruppen mit rund zwölf Teilnehmenden unterrichtet. Der ganze Kurs ist also kaum je beieinander, dafür würden bei uns der Platz und das Material gar nicht reichen. Es wäre auch vom Lerneffekt her nicht sehr sinnvoll, bei den Skills-Trainings ohnehin nicht.

Weil es keine Klassen gibt, haben wir auch keine Klassen-Lehrpersonen, sondern Kursverantwortliche, Blockverantwortliche und Spezialistinnen, zum Beispiel für Kind, Jugendliche, Frau, Familie (KJFF), für allgemeine Pflege, Psychiatrie – und demnächst auch für Gerontologie.

In den ersten vier Blöcken, also etwa im ersten halben Jahr, haben alle Lernenden dasselbe Programm, dann wird nach Schwerpunkten aufgeteilt.

Ihre Funktionsbezeichnung lautet: Skills-Trainerin und Simulationsverantwortliche. In der Pflege hat man es ja nun immer mit Menschen zu tun. Reichen dann Skills, reicht «Handwerkszeug»? Das Kommunikative, die Beziehung ist in eurem Bereich doch ganz entscheidend, nicht?

Im Skills-Training geht es um Fertigkeiten und Fähigkeiten. Eine Fertigkeit, etwa eine Blutentnahme, lässt sich am Simulationsarm üben. Aber auch Fähigkeiten – etwa die, ein Gespräch zu führen, egal, welche Art von Gespräch – müssen sich die Studierenden aneignen, soweit sie sich aneignen lässt. Auch das sind Skills.

Beim «einfühlsamen Gespräch» ist es so, dass die Studierenden zunächst vier Lektionen lang nur dieses eine lernen: wie man ein solches Gespräch führen könnte. Anschliessend wird das dann trainiert, wobei wir das Zwischenmenschliche einzubauen versuchen. Die Gesprächssequenzen werden in der Regel aufgenommen und durch die Studierenden evaluiert.

Skills-Trainings bestehen immer aus sechs Schritten: Der erste Schritt ist die Vorbereitung, der zweite das Treffen mit der Skills-Trainerin, Vorzeigen, Fragen beantworten – der dritte Schritt besteht im Üben, und der vierte ist die Simulation mit einem Schauspieler, der sich ins Bett legt, die Aufgabe heisst dann zum Beispiel: Verbinden Sie beim Patienten die Wunde am Bein, und dieser Patient hat Schmerzen, vielleicht noch eine Sorge, die er loswerden will, ein Anliegen. Bei Schritt vier muss die Lernende Tätigkeit und «Einfühlsamkeit» bereits kombinieren.

Nach der Simulation folgt immer eine Reflexion. Dabei kommen dann Fragen wie: Und was, wenn der Patient nun fragt, ob er wirklich sterben muss? Solche Fragen diskutiere ich mit den Studierenden, ich hüte mich, einfach eine Standardantwort zu geben.

Schritt sechs ist schliesslich der Fähigkeitstest, also die Skills-Prüfung. Erst im Anschluss folgt dann das Erproben und Weiterentwickeln in der Praxis, die Handlung am realen Patienten. Da muss die Studierende auf Gefühlsreaktionen eingehen können, die echt sind, nicht «simuliert» oder gespielt.

Die Simulationssituationen selbst werden genau beobachtet, von der Trainerin und von den Mitstudierenden, die ja auch keine völligen Novizen sind, sondern selbst schon über Erfahrung verfügen. Und neben diesem Fremdfeedback ist die Selbstbeobachtung und Selbstreflexion ganz wichtig.

Simulation löst bei den Studierenden oft unangenehme Gefühle oder Widerstände aus. Sie sagen dann manchmal, es sei ja nicht echt, das sei ja gar kein richtiger Patient. Zumindest am Anfang muss ich erklären, warum wir in der Schule mit gespielten, allerdings durchaus realistischen Situationen arbeiten.

Dieser Widerstand gegen die Simulation hat nicht selten damit zu tun, dass es schmerzhaft sein kann, sich selbst zu beobachten; in der Simulation zeigen sich Schwächen, Verhaltensweisen oder Reaktionen, die einem peinlich sind. Es ist nicht angenehm, sich mit der eigenen Wahrheit zu konfrontieren. Übrigens nicht nur dann, wenn man etwas falsch macht; zu erkennen, was man gut macht, fällt oft noch schwerer.

Der Lerneffekt ist aber enorm. Nicht die Trainerin sagt: So und so haben Sie sich verhalten, sie sehen sich selber zu.

Eine gewisse Distanz bleibt immer. Aber meistens vergessen die Studierenden irgendwann, dass es sich um eine «unechte» Situation handelt; sie lassen sich darauf ein, sodass ein schönes Gespräch zustande kommt und eine realistische Interaktion mit dem Patienten stattfinden kann.

Allerdings kommt das Gegenteil ebenfalls vor: Einige Studierende können sich bis zum Schluss nicht auf die Situation einlassen und berichten dann als Fazit, dass ja alles «eh nur gespielt» sei. Dass dieses Sicheinlassen nicht gelingt, kann aber auch mit der schauspielerischen Leistung zusammenhängen; es gibt Simulationen, bei denen ich beim Betrachten selber zugeben muss, dass es mir wohl nicht gelungen wäre, mich auf die Situation einzulassen, weil es einfach zu wenig gut gespielt war.

Und manchmal sagen Studierende, der Schauspieler habe «so echt gespielt», Tränen inbegriffen, dass «der Patient» ihnen «wirklich leidgetan» habe. Einige reagieren dann mit Hilflosigkeit – die wiederum verschiedene Ursachen haben kann: Weil man wirklich nicht mehr weiss, wie man reagieren soll. Oder weil es «ja nur gespielt ist» und weil trotzdem verlangt wird, darauf einzugehen.

Ich glaube, dass es durchaus Lernende gibt, die in einer solchen Situation Mitgefühl entwickeln, im positiven Sinne. In der Regel bleibt es wohl auf einer eher sachlichen Ebene. Aber auch das kann ja Lernen fördern.

Kommunikative Kompetenzen sind ohnehin nicht in einer kurzen Kurssequenz zu vermitteln, nehme ich an ...

Ja, die entwickeln sich über Jahre, in der Praxis. Und inwieweit sie sich entwickeln, hängt auch von den Fähigkeiten ab, die jemand schon in die Ausbildung mitbringt. Schliesslich ist das Theoretische nicht allein entscheidend. Die Studierenden stehen immer in der Praxis, sie bekommen dort Bilder und Situationen mit und können darauf weiter aufbauen. Alles zusammen ist wichtig, Theorie, Training und Praxis. Ich selbst weiss, wie viel ich durch die Praxis, beim Selberausführen gelernt habe, was sich durch eine «Erzählung» oder Instruktion allein nicht lernen liesse. Darin sehe ich übrigens einen der grössten Vorzüge unseres dualen Berufsbildungssystems: in dieser engen Verbindung von Praxis und Theorie, in der Lernortkooperation, die zum Beispiel im Vergleich zu Deutschland sehr viel besser ausgebaut ist.

Auch in der Praxis haben die Studierenden übrigens Lernbegleitung. Am Morgen erleben sie verschiedene Pflegesituationen, am Nachmittag werden bestimmte Themen mit den Praxisausbildnerinnen aufgearbeitet. Manchmal muss man ja erst in der Praxis über Probleme stolpern und Fehler machen, damit man lernen kann.

Vorausgesetzt ist aber immer ein gewisses Menschenbild, eine Grundeinstellung, zum Beispiel gegenüber anderen Kulturen oder etwa älteren Menschen – dass ich mich in die Lebenslage der andern einfühlen kann.

Wenn ich mit Vorurteilen ein Zimmer betrete, kann ich lange lächeln, meine «schiefe» Haltung wird irgendwie zum Ausdruck kommen, in einem verbalen Akt oder bei einer Handlung. An der Haltung zu arbeiten, ist deshalb wichtig; ebenso wichtig ist auch das, was ich in dieser Hinsicht schon mitbringe, wie ich aufgewachsen bin, die eigenen Erfahrungen, wie ich kommuniziert habe und wie mit mir kommuniziert wurde, meine Fähigkeiten, auch einmal Schweigen auszuhalten – alles, was es braucht und was man nicht so einfach lernen kann.

Was geschieht mit solchen Themen in eurer Ausbildung? Was geschieht, wenn jemand mit einem gewissen Menschenbild in die Ausbildung kommt? Wird auch daran gearbeitet?

Es gibt bei uns zum Beispiel eine «transkulturelle Woche», dort ist die Haltung gegenüber Menschen aus anderen Kulturen Thema.

Auch beim Üben bekomme ich gewisse Haltungsvoraussetzungen mit, zum Beispiel im Rollenspiel. Manchmal provoziere ich das auch explizit und sage: Spielen Sie jemanden, der nur schlecht Deutsch kann. Dann sehe ich ja, wie die Studierenden diese Personen spielen, mit Respekt oder karikiert. In solchen Situationen kann ich Haltungsthemen aufnehmen und nachfragen. Manchmal kommt dann eine abwehrende Antwort oder eine Ausflucht. Aber schon dadurch, dass es angesprochen wird, ist die Studierende zum Überdenken gezwungen, sie spürt oder merkt, dass sie etwas Fragwürdiges gesagt oder getan hat – Nachhaken führt zu Betroffenheit, die Motivation für eine Änderung bewirkt.

Wieso sind Sie eigentlich selbst in die Pflege gegangen?

Das habe ich mich oft gefragt. Ich wollte eigentlich kreativ sein können, zum Beispiel im grafischen Bereich. Oder zur Swissair, Stewardess, das hätte mir gefallen, wegen der Reisen, der Sprachen ... In die Pflege bin ich dann mit achtzehn «hineingerutscht», es ist wohl auch eine gewisse familiäre Prägung dabei. Meine Mutter arbeitet in der Pflege, auch die Schwester. Meine Urgrossmutter war Hebamme. Eigentlich weiss ich bis jetzt nicht genau, was am Ende den Ausschlag gegeben hat.

In der Schule merkte ich bald, dass viele meiner Kolleginnen anders dachten als ich, sie lebten für den Beruf, ich machte die Arbeit zwar gern und mit viel Herzblut, aber ich wusste auch immer, dass mir anderes ebenso wichtig war. In der Lehrerinnenrolle habe ich mich gleich viel wohler gefühlt. Mein Vater war übrigens Berufsschullehrer.

Sie kombinieren also die Berufe Ihrer Mutter und Ihres Vaters ...

Genau. Interessant ist vielleicht auch dies: In den Pflegeberufen spielt das Thema Burn-out eine grosse Rolle, viele sind betroffen, das Risiko «auszubrennen» ist gross. Bei den Lehrpersonen ist es ähnlich. Und das ist eines meiner grossen Themen: Leistungsdruck und der Umgang damit.

Meine Mutter habe ich im Beruf nicht mitbekommen, sie war damals Hausfrau und hat zu uns Kindern geschaut, später arbeitete sie im Drogeriebereich, erst jetzt ist sie wieder in der Pflege tätig. Beruflich war meine Mutter in diesem Sinne nicht Vorbild, allerdings im Menschlichen – von ihrer Art her beide Eltern, ihre Güte, Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit. Meine Eltern würden jederzeit hinter mir stehen, egal, was ich tun würde. Sie würden sich kritisch äussern, aber trotzdem hinter mir stehen. Das war schon immer so. Als Jugendliche war ich nicht einfach. Ich war rebellisch. Ich befolgte Regeln nicht immer, war manchmal unanständig, frech, ging immer an die Grenzen ... Das war bestimmt recht streng für meine Eltern. Ich fiel gegenüber den andern beiden Geschwistern wohl auch ein wenig ab.

 

Es ist ein Vorteil, wenn man so etwas aus eigener Erfahrung kennt, falls man sich daran erinnert: Wenn ich Studierende habe, die «Querschläger» sind, über die im Lehrerkollegium diskutiert wird, kann ich viel mehr Verständnis aufbringen als andere, weil ich weiss: So ähnlich war ich selber mal. Allerdings: Wenn es um Drogen geht oder um Regelwidrigkeiten, die auch für andere Folgen haben, dann habe auch ich kein Verständnis. Ansonsten bin ich tolerant, vielleicht auch deshalb, weil ich vom Alter her «näher» bei ihnen bin. Insofern kann ich vielleicht mehr Verständnis entwickeln als jemand, der älter ist. Ich weiss noch ungefähr, was die Jungen beschäftigt.

Und sie sind heute bestimmt nicht wesentlich anders als zu meiner Zeit. Früher war einfach das Klima autoritärer. Die Gesellschaftsnormen waren vielleicht besser verankert. Es war für Jugendliche einfacher, sich zu orientieren. Auch die Religion hat heute einen anderen Stellenwert, hat ihre frühere orientierende Funktion verloren. Heute darf man alles sagen, alles ist offener. Es steht alles zur Verfügung. Früher musste man sich fragen, ob man eine Weiterbildung überhaupt finanzieren konnte. Heute lässt sich das regeln.

Es kann schon sein, dass sich die Jugendlichen wegen der permanenten Reizüberflutung nicht mehr so gut konzentrieren können, wie oft gesagt wird. Man muss aber zugeben, dass es heute auch viel schwieriger ist, die Richtung zu halten, vor lauter Trends, Einflüssen von aussen, auch aus andern Ländern, alle diese schnell sich ändernden Vorbilder.

Wenn ich mich mit meinen Studierenden vergleiche, sind die Unterschiede im Verhalten aber klein. Natürlich ist manches anders als früher, die Studierenden schreiben zum Beispiel direkt auf ihren Laptops. Aber am Montag wird übers Wochenende diskutiert, ab Donnerstag übers kommende Weekend usw. Das war schon bei uns nicht anders. Die Themen sind ähnlich.

Ein richtiger Querschläger war ich allerdings nie, dazu war ich wohl zu respektvoll. Und dann war da ja auch mein Vater, der mich mit seiner bestimmten Art immer wieder auf den richtigen Weg geführt hat. Er war sehr streng, sogar autoritär. Das war für mich damals wohl schwierig, in der Rückschau würde ich sagen, dass es das auch gebraucht hat.

Als Lehrerin bin ich recht kooperativ, aber inzwischen wohl selbst auch etwas autoritär geworden. Ich habe mich seit den Anfängen gewandelt. Zwischendurch muss man Grenzen aufzeigen. Das ist wichtig.

Grenzen zeigen, das ist ja eines, sie durchsetzen ein anderes ...

Unsere Klientel, zumindest die Mehrheit, ist sehr angepasst. Einzelne, die aus der Reihe tanzen, haben gar nicht die Macht, alles durcheinanderzubringen. Und wenn ich erkläre, dass ich etwas nicht akzeptiere, und sage, wie ich es haben will, läuft es nächstes Mal auch wirklich besser. Das hält zwar vielleicht nicht an, dann muss man es eben noch einmal sagen. Und sonst spreche ich Einzelne an, frage sie nach den Gründen für ihr Verhalten, das nützt dann meistens. Ich habe noch nie eine Situation erlebt, in der ich mit einer Klasse keinen Ausweg mehr gewusst hätte. Es gab Klassen, in denen es weniger Spass machte zu unterrichten, weil offensichtlich die Motivation fehlte, aber keine, bei der ich dachte, es laufe aus dem Ruder – und das wohl nicht, weil ich «so gut unterrichte», sondern weil wir sehr angepasste Studierende haben. Das sagen auch Personen, die bei uns hospitieren. Es hat sicherlich mit dem Alter zu tun, aber auch damit, dass unsere Studierenden sich bewusst für den Beruf, die Pflege, entschieden haben. Dazu braucht es Selbstverantwortung und Willen. Man erlebt dabei auch heftige Sachen, das ist nicht jedem gegeben. Es gibt deshalb auch etliche, die wieder aussteigen.

Was macht denn guten Unterricht aus? Gute Führung?

Wichtig finde ich vor allem, dass man als Person authentisch bleibt und dass man angekündigte Sanktionen umsetzt, selbst mit dem Risiko, dass man Kritik zu hören bekommt. Am Ende sind eher die Strengeren, die sich aber «gerecht» verhalten, die guten Lehrer.

Authentizität, wie lernt man das? Es braucht wohl auch eine gewisse Souveränität, Vertrauen in die eigene Person?

Man kann keine Vorgehensweisen von andern unbesehen übernehmen, die dort funktionieren, aber nicht zur eigenen Person passen. Es muss für mich stimmen, vom Thema und vom Ablauf her. Ich selbst nutze die Spielräume, die unser System uns lässt, heute besser als früher.

Aber Authentizität, das ist ja eher auf die Person gemünzt, weniger auf Methoden, Unterrichtsaufbau usw.

Für mich gehören diese Dinge zusammen. Ich kann nicht eine Methode verwenden, die nicht zu mir und nicht zur Klasse passt. Dann wäre ich auch nicht authentisch.

Das andere ist klar: Ich höre auf mich und auf meine Gefühle. Ich hake zum Beispiel nach, wenn auf Fragen keine Antworten kommen, warum die Lernenden nicht reagieren. Ich lasse nicht zu, dass sich im Unterricht Irritationen oder Zorn aufstauen.

Persönliche Dinge, Privates lasse ich allerdings «draussen». Natürlich bin ich in der Lehrerrolle jemand anderes als im Privaten. Das muss auch so sein. Ich muss vom Beruf Abstand nehmen können. Im Privaten spreche ich umgekehrt auch nicht so häufig von Schulischem, höchstens wenn ich eine Situation erlebt habe, die mich stärker beschäftigt. Aber im Ausgang zum Beispiel will ich nicht nur von der Arbeit reden. In einem anderen Umfeld sage ich nur, ich sei Berufsfachschullehrerin, und manchmal sage ich auch, ich sei in der Pflege tätig oder auch, ich arbeite im Verkauf. Man erfindet sich ja bis zu einem gewissen Grad immer neu, wenn man mit andern Menschen spricht ...

Das klingt recht distanziert. Was macht denn die Attraktivität Ihres Berufs aus?

Dass ich anhand der Reaktionen meiner Studierenden eine recht schnelle Bestätigung bekomme, wie gut ich meine Sache gemacht habe. Und die Arbeitszeiten sind interessant, ich habe kein Wochensoll, sondern Jahresarbeitszeit; zuweilen ist das natürlich auch problematisch, weil es Spitzenbelastungen gibt.

Spass macht mir vor allem die Arbeit mit jungen Leuten, mit Erwachsenen, es gibt manchmal auch Studierende von vierzig und älter, schon relativ geformte Persönlichkeiten. Die Zusammenarbeit, dass man gemeinsam einer Frage auf der Spur bleiben kann. Die Freiheit, über die wir in unserer Position verfügen.

Was steht denn für Sie eher im Vordergrund: das Fachliche, das Vermitteln? Oder etwas anderes?

In erster Linie die «Wissensvermittlung», weil es ja bei mir um prüfungsrelevanten Stoff geht. Um Erziehung geht es bei uns weniger, weil ja unsere Studierenden schon erwachsen sind; eher um Haltungsaspekte, Fragen des Umgangs. Solche Dinge sind in unserem Beruf zentral.

Wichtig ist mir, dass ich die Lernenden dazu bringen kann, selber zu erkennen, weshalb sie etwas lernen – und was dieses Etwas ist, das sie lernen wollen – und dass sie dran bleiben. Wenn sie nachher im Beruf stehen – die drei Ausbildungsjahre sind schnell vorbei –, müssen sie grosse Verantwortung übernehmen. Es ist mir wichtig, ihnen diese Verantwortung schon früher zu übergeben, dann, wenn sie noch in der «Obhut» einer Ausbildungsinstitution sind.

Woran merken Sie, dass Ihr Unterricht «angekommen» ist? Nach «konstruktivistischem» Verständnis, das in unseren Kreisen ja verbreitet ist, machen die Lernenden ja letztlich alles selbst: Sie lernen, sie konstruieren ihr Wissen, sie bauen Kompetenzen auf. Und die Lehrperson macht eigentlich «nichts». Wie können Sie also eine Wirkung «messen», für die Sie gar nicht verantwortlich sind?

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