Berufsbildung in der Schweiz - Gesichter und Geschichten

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Kann man so etwas in einer Ausbildung vermitteln? Hast du das in den siebenunddreissig Stunden Ausbildung pro Woche gelernt? Anders gefragt: Von dem, was du dort gelernt hast, was konntest du nachher brauchen?

Einiges. In all meinen Ausbildungen, durch meine ganze Schulzeit eigentlich, hatte ich Lehrer, bei denen ich dachte: So wie der! Einer von ihnen war der damalige Direktor der Gewerbeschule Bern. Er sagte uns, wir könnten jederzeit bei ihm im Unterricht vorbeischauen. Also besuchten wir an einem Montag um acht seine Lektionen: die verletzlichste Zeit für einen Lehrer (am Freitag um fünf hielt er keinen Unterricht, das wäre auch so eine Zeit). Es war vor einer Abstimmung, und er arbeitete damals schon in einer Art mit seinen Jugendlichen, die heute noch top wäre. Er moderierte: Herr Soundso – er sprach seine Lernenden mit Nachnamen an, und immer respektvoll –, Sie leiten diese Diskussion, ich weiss, Sie können das. Es geht jetzt um die und die politische Frage, alle mit dieser Meinung setzen sich auf diese Seite, die mit der andern Meinung auf die andere Seite, die ohne Meinung nach hinten. So, Herr Soundso, ihr habt ja bei mir einiges über Gesprächsführung erfahren, Sie leiten jetzt dieses Streitgespräch. Es waren Hochbauzeichner, blitzgescheite Jugendliche. Aber es ging gar nicht darum, sondern um die Art und Weise, wie er mit der Klasse arbeitete. So muss man mit Jugendlichen umgehen. Man muss ihnen etwas zutrauen.

Als ich etwa fünfundfünfzig war, begann ich mir bei den jährlichen Pensionierungsfeiern immer zu überlegen: Will ich so in Pension gehen? Der muss gehen, weil er krank ist. Nein, so nicht! – Der, weil er mit den Schülern nicht mehr klarkommt. So schon gar nicht. – Alle drei Jahre war einer dabei, bei dem ich dachte: Okay, so wie der!

Vorbilder waren für mich immer wichtig, wie du siehst. Wir lernen im sozialen Kontext ...

Gut, wenn man sagt, am meisten lernt man an Vorbildern, was kann dann eine Ausbildungsstätte wie unsere, die PH, bieten?

Was die Lehrerausbildung angeht, so bin ich, ich gebe es zu, etwas erschüttert. Inzwischen geschieht ja sehr viel im Selbststudium. Bei den einen Studierenden ist das fruchtbar, bei andern weniger: Im sozialen Kontext würden sie wesentlich mehr lernen. Und das Zweite: In allen meinen Praktika, in der Primarlehrerausbildung, aber auch später bei der Ausbildung zum Allgemeinbildungslehrer, habe ich sehr viel von erfahrenen Lehrpersonen gelernt. Und diese Praktika sind ja zurückgefahren worden. Aber die Dinge, die ich bei älteren Lehrern gesehen habe, nicht nur das Gute, auch Fehler, davon habe ich profitiert. Die Lehrerausbildung ist heute wohl etwas zu kognitiv – obwohl bekannt ist, dass eine wichtige Basis des Lernens Emotionen sind.

An der PH Zürich sind die Praktika ja wichtig und machen rund ein Viertel der Ausbildung aus ...

Bei mir war es noch so: In diesem ganzen Ausbildungsjahr waren wir jeweils einen halben Tag pro Woche zu dritt bei einem erfahrenen Praktikumslehrer, erst sahen wir ihm beim Unterrichten zu, dann mussten wir selbst Unterricht erteilen. Du konntest also beobachten, wie der erfahrene Lehrer unterrichtete, aber jeder stand auch in Konkurrenz mit den Kollegen, mit denen man die Stunden vorbereitete. Das war das Laboratorium des Denkens und Handelns. Heute machen zwar viele Leute ihr Studium berufsbegleitend, aber nach meiner Auffassung werden sie dabei selbst zu wenig begleitet.

Das andere, was für mich nicht aufgeht, ist die Frage der Weiterbildung. Meine ganze Berufslaufbahn hindurch habe ich Weiterbildungen besucht, so ging meine Ausbildung ständig weiter. Die Weiterbildungspflicht ist heute aber, zum Teil aus finanzpolitischen Gründen, auf ein Minimum heruntergefahren worden. Aber es kann doch nicht sein, dass jemand zwanzig, fünfundzwanzig Jahre lange unterrichtet, höchstens da mal einen Kurs, dort mal einen besucht. Auch da besteht die Gefahr eines Burn-outs: wenn man sich nicht weiterentwickelt.

Sind die Lernenden eigentlich anders als früher?

Sicher sind sie zum Teil anders, sie haben ja auch andere Lebensaufgaben zu lösen. Aber als Jugendliche, als junge Menschen sind sie uns eigentlich sehr ähnlich. Sie beschäftigen sich nur mit anderem, es zeigt sich nicht mehr auf die gleiche Weise.

Als ich 1972 mit dem Unterrichten begann, waren wir mit dem Problem konfrontiert, dass einige Klassen in die Beiz zum Mittagessen gingen und dann mit drei, vier Bier im Kopf zurückkamen. Ganze Klassen kamen leicht alkoholisiert von der Mittagspause. Heute sind sie vielleicht bekifft. Alkohol spielt zwar immer noch eine Rolle, aber in einem andern Mass und anderer Form. Heute geht es darum, dass sich einige am Wochenende oder auf Exkursionen sinnlos betrinken – die bekannten Vorfälle mit Klassen, die ausser Rand und Band geraten.

Es hat immer Wellen gegeben, Dinge, über die sich die Lehrer erregten. Einst war es das Kaugummikauen, dann kamen die langen Haare, jessestroscht, man verlangte von den Stiften, dass sie Haarnetze trugen, weil sich sonst ihre Haare in den Spindeln der Drehbank verfingen, dann kamen die Rollerblades, Stifte, die mit den Rollschuhen im Atrium rundherum fuhren, und die Lehrer drehten im roten Bereich. In der letzten Zeit waren es die Chäppi, die einen tragen sie links, die andern rechts, die dritten verkehrt rum, und das Allerletzte, worüber sich die Lehrer unheimlich aufregen, sind natürlich die Handys. Immer kam wieder etwas Neues, was zum Kristallisationspunkt der Empörung wurde.

Wie warst denn du als Jugendlicher?

Bei uns brauchte es nicht viel, um den Vater in die Sätze zu bringen. Er hörte «Hoch- und Deutschmeisterkapelle» oder Wiener Walzer, ich hörte Louis Armstrong und Presley, das reichte schon. Wenn ich Elvis hörte, rief der Vater, ich solle diese Negermusik abstellen.

Oder es kamen die ersten Jeans auf, und ich ging mit meinen in den Brunnentrog, damit sie eng wurden, auch das reichte schon. Oder wenn die Haare die Ohren noch halb bedeckten. Es brauchte wenig, um sich von der letzten Generation abzuheben. Aber ich war eigentlich nicht sonderlich aufmüpfig, 1968 ging mehr oder weniger an mir vorbei. Ich musste zusehen, dass ich meinen Job machte, ich war schliesslich Lehrer.

Als ich im Oberseminar war, besuchte ich in Bern diese Kellerlokale, wo Sergius Golowin oder Walter Vogt ihre Lesungen hielten. Und im Junkernkeller diskutierten wir nächtelang über gesellschaftliche Veränderungen, was für mein Leistungsvermögen nicht grade förderlich war.

Aber ich war eher angepasst. Mit vierundzwanzig habe ich geheiratet, wir hatten zwei Kinder. Auch die Berufsschule hielt mich in Bahnen. Wenn ich allerdings zurück ins Dorf kam, fühlte ich mich schon ziemlich progressiv.

Und dann doch dein Engagement, zum Beispiel für die Attestlernenden, woher kam das?

Es gibt drei Gründe. Der eine ist, dass ich nicht aus einem behüteten Milieu stamme, ich weiss, wie es in einer Familie zu- und hergehen kann. Das Zweite: Ich interessiere mich für die Frage, warum es bei einem Einzelnen falsch läuft, warum er nicht versteht, nicht lernen kann. Das Dritte ist das Gesellschaftspolitische: Wir haben neunzig Prozent Sekundarstufe-II-Abschlüsse und sprechen von fünfundneunzig Prozent, die wir 2015 oder 2020 erreichen wollen. In der Schweiz haben wir zwar himmlische Zustände, verglichen mit Deutschland (von anderen Ländern gar nicht zu reden). Aber wir müssen achtgeben, dass es so bleibt.

Die zweijährige Grundbildung hat einen eminent politischen Auftrag. Alles, was wir in diese Jugendlichen hineinstecken, ist gut investiertes Geld. Jugendarbeitslosigkeit wie in Griechenland, Italien, teilweise in Frankreich oder auch Deutschland – das führt zu gesellschaftspolitischen Problemen. Schon aus Vernunftgründen muss man also viel in dieses Segment stecken.

Dazu braucht es auch sozialpolitische Einsicht ...

Bei uns zu Hause war oft ein solches Durcheinander, dass ich gar nicht lernen konnte. Und dass ich mich mit Migrationsfragen beschäftige, ist auch kein Zufall. Ich bin ja Migrant in dritter Generation, ich habe erlebt, was Migration bedeutet. Mein Grossvater ist über Mailand, Savoyen und die Westschweiz ins innere Emmental gekommen, hat dort eine Frau kennengelernt. In der Strasse, in der wir wohnten, waren alles Handwerker, Migranten der ersten oder zweiten Generation, Marazzi, Prato, Peverelli, Grassi ... Bauhandwerker aus Norditalien. Wir wohnten alle dort an dieser schattigen Strasse. Mein Grossvater war noch ein Aussenseiter, mein Vater hat sich herangekämpft, und mein Bruder, der im Dorf geblieben ist, hat es schliesslich zum Gemeinderatspräsidenten gebracht. Drei Generationen hat es gebraucht, um sich zu integrieren. Mein Vater wäre nie in den Gemeinderat gewählt worden, das wäre völlig undenkbar gewesen. Und mein Grossvater konnte noch zu wenig gut Deutsch, der hätte sich auch nicht einfach integrieren lassen.

Anderen fehlt dieser Hintergrund, sie sind nicht durch die eigene Geschichte sensibilisiert. Aber ein grosser Teil der Berufslernenden hat einen solchen Hintergrund, wir haben schon davon gesprochen – vielleicht liegt er nicht einmal so weit zurück wie bei dir. Vielleicht sind die Eltern Migranten ...

Leider ist das ein Thema, mit dem sich die Profis ungern beschäftigen, wie schon gesagt. Es ist eine Art «Unthema». Das ist wohl nicht berufsbildungsspezifisch, das hat auch mit den ganzen politischen Konstellationen zu tun.

Auf der andern Seite gibt es Migrationsthemen, bei denen alle diskutieren und sich ereifern, Minarette, Kopftücher ... Wir sind uns ja nicht einmal bewusst, wie viele «Migranten» wir in unserer eigenen Sprache haben, Tasse, Kaffee, Karaffe usw., alles Wörter aus dem Arabischen ...

 

Meine letzte Klasse hat mir erklärt, warum man die Minarett-Initiative annehmen müsse. Aber sie essen am Mittag einen Döner, am Abend Pizza … Unter den Jugendlichen selbst gibt es auch Ausländerfeindlichkeit, nicht nur Schweizer gegen Immigranten, auch unter Migranten ... Portugiesen, die Jugos beschimpfen und umgekehrt. Manchmal gibt es wirklich schwierige Klassenkonstellationen, in denen auch Spannungen entstehen. Wenn du es aber thematisierst und wenn es dir gelingt, das Thema auf eine menschliche Ebene zu holen, dass sich die Einzelnen begegnen, dann kann es klappen. Solange es auf einer ideologischen Ebene bleibt, ist es schwierig.

Es heisst ja oft, man müsse mit jeder Klasse Regeln aufstellen, möglichst kooperativ, weil es dann besser funktioniert. Aber was, wenn die Regeln nicht eingehalten werden? Wie sanktionierst du, welche Mittel hast du überhaupt?

Ich habe nie im Voraus Regeln aufgestellt. Wenn etwas vorfiel, sagte ich: Das geht hier nicht, begründete und fragte: Habt ihr einen Vorschlag, wie man das regeln kann? Dann wurde die Regel mit der Klasse diskutiert. Und das Ergebnis habe ich aufgeschrieben. Das musst du dann aber wirklich handhaben. Die Jugendlichen werden auf jeden Fall versuchen, die Regeln zu brechen. Das ist ihr gutes Recht: schauen, ob die Regel gilt. Dann musst du eben dafür sorgen, dass sie gilt. Du musst die Jugendlichen damit konfrontieren, dass sie eine Regel gebrochen haben. Meistens gab ich den Ball einfach zurück und fragte: Was würden denn Sie nun tun? Wie wollen Sie das nun wieder hinbiegen? Die meisten Jugendlichen sagen dann irgendwas mit Bestrafen.

Manchmal sagte ich ihnen auch, dass sie vom Lehrbetrieb bezahlt würden, in die Schule zu kommen, aber sie würden nicht das kalte Wasser verdienen – und schickte sie auch mal zurück in den Betrieb. Wenn einer ständig ohne seine Sachen, sein Material zur Schule kommt und du das als Lehrer akzeptierst, hast du schon verloren. Du sagst also zum Beispiel zu einem Maler: Hallo, wenn Sie zur Baustelle gehen, ohne Pinsel und Farbe, können Sie dann Ihre Arbeit machen? Genauso ist es in der Schule. Hier brauchen Sie die Bücher, Schreibzeug usw., wenn Sie das nicht dabei haben, können Sie hier nicht arbeiten, also gehen Sie zurück in den Betrieb. Das haben sie immer akzeptiert, ich musste nie jemanden handgreiflich aus dem Klassenzimmer bugsieren.

Es gibt wohl Lehrer, die Flexibilität mit Deformierbarkeit verwechseln. Du musst natürlich flexibel sein, es ist ein Tanz auf Messers Schneide, aber du darfst dich nicht deformieren lassen.

Was braucht es denn sonst noch, um ein guter Lehrer zu sein?

Organisatorische Zuverlässigkeit. Du kannst nicht Hausaufgaben erteilen, und beim nächsten Mal weisst du nicht mal mehr, dass du sie aufgegeben hast. Viele scheitern am Organisatorischen, das ist nicht banal, wenn du sieben oder acht Klassen unterrichtest. Du musst dich daran erinnern, was du wo schon erzählt hast, wo du in jeder Klasse stehen geblieben bist, und das heisst auch Nachbereitung, Aufschreiben, Planung.

Die Schüler bemerken sehr genau, ob du vorbereitet bist. Ob du das Vorbereitete immer exakt so durchführen kannst wie geplant, ist eine andere Frage.

Ich hatte einen Kollegen, mit dem die Schüler buchstäblich machen konnten, was sie wollten, sie liessen ihn turnen. Er sagte zum Beispiel: Frau so und so, Sie schulden mir noch eine Arbeit; sie wusste zwar, dass sie die Arbeit nicht abgegeben hatte, aber sie wusste auch, dass der Lehrer turnte, also sagte sie: Oh, die Arbeit haben Sie längst, Sie müssen sie vernuscht haben. Der Kollege musste sich frühpensionieren lassen.

Bei uns galt die Regel: Einmal pro Semester darf einer zu spät kommen, man entschuldigt sich, verschlafen, den Zug verpasst usw., und dann ist gut. Aber die Lehrperson muss sich erinnern, dass es schon mal vorgekommen ist. Du brauchst ein System, das absolut zuverlässig ist, sonst bist du nicht glaubwürdig. Auch das hat mit Organisation zu tun.

Dabei kannst du von Jugendlichen nichts verlangen, was du selbst nicht einhalten kannst. Wenn du selbst nicht zuverlässig bist, kannst du Zuverlässigkeit, Termintreue usw. von ihnen genauso wenig verlangen.

Auch in solchen Dingen hat der Lehrer eine Vorbildfunktion.

Was ist das Schwierigste, was man als Lehrer erlebt?

Wenn ein tödlicher Unfall passiert. Oder wenn man einer Klasse sagen muss, dass einer ihrer Kollegen Selbstmord begangen hat. Das habe ich dreimal erlebt. Beim einen hatte niemand vorher etwas geahnt. Der Lehrmeister fand ihn im Labor, er hatte sich mit Zyankali umgebracht. Eine junge Frau aus ländlichen Verhältnissen, Bauerstochter, nahm Schwefelsäure, aus Liebeskummer, und einer brachte sich um, weil er eine unheilbare Krankheit hatte. – Das sind die wirklich schwierigen Dinge. Der Tod ist für Jugendliche ja kein Thema, wird es erst in solchen Momenten. Heute bekommen Lehrer professionelle Hilfe, das ist aber erst seit zehn oder fünfzehn Jahren so.

Auch der Umgang mit Jugendlichen mit Problemen ist eine grosse Herausforderung. Wir sind ja keine Therapeuten; es braucht ein Netz von Stellen, an die du sie verweisen kannst, und ein solches Netz musst du dir als Berufsschullehrer erst aufbauen. Aber auch Dranbleiben, Nachhaken ist wichtig. Ich hatte einmal eine junge Frau in meiner Klasse, die magersüchtig war. Ich teilte ihr meine Beobachtungen mit. Erst stritt sie ab, ich sagte, okay, mag sein, dass ich mich irre – sind Sie einverstanden, wenn ich auch den Turnlehrer frage, was er meint? Eine Woche später sagte ich zu der Frau: Ich möchte, dass Sie zum Hausarzt gehen und das abklären ... Dann und wann fragte ich nach. Drei Monate später sagte die junge Frau: Jetzt war ich beim Hausarzt. Sie hatten recht ... Der Arzt konnte sie an eine Fachstelle im Inselspital verweisen.

Das ist ja wohl das Schwierige: ansprechen – und dass sie dann nicht einfach abwehrt, sondern sich einlässt. Das setzt voraus, dass Beziehung besteht ...

… ja, aber auch, dass sie letztlich selbst entscheiden kann, ob sie auf deine Ansprache eingehen will. Es ist alles eine Frage des gegenseitigen Respekts.

«Ein nährender Beruf» - Mine Dal


«Ein nährender Beruf»

Mine Dal, promovierte Germanistin, Übersetzungswissenschaftlerin, Lehrerin für Allgemeinbildung an der Berufsschule für Gestaltung, Zürich

Mine Dal kam 1999 von Istanbul nach Zürich. Nicht aus politischen Gründen, wie sie betont: «Ich wurde weder gefoltert noch verfolgt – der Grund ist einfach: die Liebe.»

Nach verschiedenen beruflichen Stationen in der Schweiz, als Kulturmanagerin, als Leiterin der Abteilung «Deutsch als Fremdsprache» an einer Fachhochschule, als Lerntherapeutin in einem Schulheim, stieg sie 2007 in die Berufsbildung ein und beschloss, sich an der Uni Zürich zur Lehrerin für allgemeinbildenden Unterricht (damals noch ein Master-Studium) ausbilden zu lassen.

Mine Dal ist auch eine begabte Fotografin. In ihrem derzeitigen Langzeitprojekt porträtiert sie Menschen an der Südwestküste der Türkei, vor allem das Leben der Bootsbauer, Imker und Olivenbauern.

In Istanbul hatte sie Germanistik und Kunstgeschichte studiert und dann zunächst eine akademische Laufbahn eingeschlagen. Sie arbeitete als Dozentin an der Istanbuler Marmara-Universität und spezialisierte sich im Bereich der Übersetzungswissenschaft. Mit einer Arbeit zum Thema «Verständlichkeitsorientierte Textoptimierung bei der Übersetzung von Gebrauchsanweisungen» hat sie auch promoviert. Dieser Hintergrund, der Sinn für die Verständlichkeit von Texten, nütze ihr jetzt noch im Unterricht, fast täglich greife sie auf den Erfahrungsschatz aus jener Zeit zurück, wenn sie ihre Arbeitsblätter gestalte oder mit der Klasse einen Text angehe. Mit Fachwissen sei es ja nicht getan, aber auch mit Methodik und Didaktik allein nicht. Wenn man «zusätzliche Pfeile im Köcher» habe, sei das sehr hilfreich.


Wird aus Ihrer Sicht im Unterricht an Berufsfachschulen zu wenig Wert auf verständliche Texte gelegt?

Wenn ich mir die Berufskundebücher anschaue, würde ich sagen: ja. Oft kommen die Lernenden mit Lehrmitteln an, die ich selbst manchmal zwei- oder dreimal lesen muss, bis ich sie verstanden habe. Für den allgemeinbildenden Unterricht und die ABU-Lehrmittel gilt das weniger.

Allerdings kann ich mit einer Klasse auf der Basis eines einzigen Lehrmittels ohnehin nicht den ganzen Schullehrplan durcharbeiten, das weiss jeder, das wissen auch die Autoren. Ich sehe die Lehrmittel inzwischen als eine Art Steinbruch, aus dem ich mich bediene. Je nach Thema kann man sie nicht eins zu eins für jede Stufe verwenden, das würde nicht funktionieren. Man muss die Inhalte «herunterbrechen» und der Stufe, auch der Berufsgruppe anpassen. Mit Grafikern, Fotofachleuten oder Werbetechnikern arbeite ich anders als mit Malern. Vierjährige Lehren unterscheiden sich oft vom Niveau her stark von den dreijährigen. Und auch dort gibt es wiederum Stufungen. Selbst innerhalb einer Klasse sind die Unterschiede manchmal beträchtlich. Einzelne Lernende könnten ohne Weiteres ein Studium bewältigen, für andere ist Deutsch eine Zweitsprache, die sie nicht unbedingt auf einem hohen Level beherrschen. – Da sind wir gefordert, das ist auch der Grund, weshalb wir mit einem Lehrmittel nicht auskommen. Man muss modifizieren, differenzieren; man muss, wenn man die Klasse kennt und die Abstufungen erkannt hat, diese Differenzierungen selbst vornehmen. Das ist sehr zeitaufwendig und gelingt nicht immer.

Sie unterrichten im ABU-Rahmen in einem gewissen Sinne auch Deutsch. War das nie ein Problem, dass Deutsch, selbst wenn Sie es studiert haben und ausgezeichnet beherrschen, für Sie eine Fremdsprache ist?

Im Gegenteil. Die Schüler lassen sich so schnell überzeugen, dass Hochdeutsch die Unterrichtssprache ist, nicht Dialekt. Die Akzeptanz kommt viel natürlicher. Ich kann kein Schweizerdeutsch, ich kann keine Mundart, auch wenn ich alles verstehe. Dass ABU nach dem pädagogischen Konzept in der Standardsprache unterrichtet werden soll, ist eine Erleichterung für mich.

Ich habe dieses Jahr zum ersten Mal eine Schülerin in der Klasse, die ebenfalls Türkin ist. In schwächeren Klassen, in denen ich Stellvertretungen übernommen habe, zum Beispiel bei den Malern oder Carossierlackierern, hat es aber oft Türken. Wenn sie erfahren, dass auch eine Türkin gut Deutsch sprechen kann, ist das für sie motivierend: Gut Deutsch zu sprechen, ist machbar. Dass Deutsch nicht meine Muttersprache ist, war also nie ein Problem.

In Klassen mit hohem Migrantenanteil finde ich meist schnell den Draht zu den Schülern. Manchmal geht es so weit, dass sie mich beknien, etwas auf Türkisch zu sagen, weil sie nicht glauben wollen, dass ich Türkin bin. Das mache ich dann, das ist immer sehr lustig.

Ich hatte mit solchen Klassen auch nie disziplinarische Probleme, es gab keine Widerstände. Obwohl ich viel fordere, machen die Lernenden mit. Das sind Indizien für mich, dass die Akzeptanz da ist. Es gibt kein Misstrauen, im Gegenteil.

Es gibt nicht viele ABU-Lehrpersonen mit Migrationshintergrund ...

Das ist richtig. Allerdings ist es in der Schweiz schwer zu erkennen, ob jemand einen Migrationshintergrund hat, es könnte auch ein Tessiner sein oder eine Welschschweizerin. Es kommt auch darauf an, wen man dazuzählen will. Deutsche gelten in diesem Diskurs ja kaum als Migranten? Deutschen bin ich im Studium einigen begegnet. Ich habe mit ihnen aber nie über ihre Schwierigkeiten hinsichtlich der Akzeptanz gesprochen. Dieses Thema existiert für mich auch eigentlich gar nicht.

Im Ernst?

Als ich in die Schweiz kam, studierte ich zuerst an der Hochschule Luzern Kulturmanagement, dann arbeitete ich beim Forum Claque in Baden, besorgte dort die Öffentlichkeitsarbeit, Presse usw. Im Kulturbetrieb fragte niemand, woher ich kam. Das fand ich sehr angenehm, die Herkunft war bedeutungslos, Hauptsache, man machte seine Arbeit gut. Das ist auch mein Arbeitsverständnis. Mit dieser Kulturalisierung, Ethnisierung kann ich nichts anfangen. Ich enttäusche in der Schweiz oft mein Gegenüber, wenn ich mich nicht als Kurdin oute. Dieses Kokettieren mit dem Ethnischen ist ein Zeichen des Zeitgeistes, das ist nicht mein Ding. Ich möchte einfach gute Arbeit leisten.

 

Es ist ja vielleicht der Impuls, verstehen zu wollen, warum die Menschen so sind, wie sie sind, warum sie sich auf eine bestimmte Art verhalten. Die Verhaltensweisen, die Denkweisen sind ja doch oft spürbar unterschiedlich, sie unterscheiden sich natürlich von Mensch zu Mensch, aber man überlegt sich, ob es vielleicht auch mit der Herkunft zu tun haben könnte. Und ich möchte’s ja verstehen ...

Das kann ich nachvollziehen. Tatsächlich reagieren die Schüler oft auf besondere Weise, je nachdem, woher sie kommen. Schüler aus Ex-Jugoslawien reagieren auf bestimmte Aussagen oder Inhalte anders als Schweizer, das verstehe ich, darauf kann ich mir einen Reim machen.

Von «Migrationshintergrund» zu sprechen, ist ohnehin sehr unpräzise.

Heutzutage bedeutet es nichts, wir sollten wegkommen davon ... Anderseits bedeuten Unterschiede ja auch eine Bereicherung. Aber ich möchte gar nicht darüber reden.

Wie sind Sie denn zum Unterrichten gekommen?

Neben meinem Hauptstudium in Germanistik hatte ich in Istanbul auch Zusatzzertifikate in Pädagogik, Didaktik und «Psychologie der Pubertät», wie es damals so schön hiess, erworben.

So ganz ohne pädagogischen Background bin ich also nicht ins Unterrichtsgeschäft eingestiegen. In der Schweiz arbeitete ich parallel zu meiner Tätigkeit im Kulturmanagement in einem Schulheim auch schon lerntherapeutisch und heilpädagogisch, mit verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen, aber immer im Einzelunterricht.

Ich hatte mir, als ich in die Schweiz kam, überlegt, ob ich in meinem Forschungsgebiet weiterarbeiten wollte. Aber da ich mich in Istanbul stark auf das Sprachenpaar Deutsch-Türkisch spezialisiert hatte, konnte ich damit hier nicht viel anfangen. Natürlich hatte ich nie daran gedacht, dass ich einmal in der Schweiz leben würde, ich war davon ausgegangen, dass ich in Istanbul leben und im Laufe meiner akademischen Karriere irgendwann Professorin werden würde. Meine Kollegen sind es geworden, und vom Alter her wäre ich inzwischen auch so weit.

Bereuen Sie es, dass es nicht so gekommen ist?

Auf keinen Fall. In der Schweiz hatte ich die Möglichkeit, in verschiedenen Gebieten zu arbeiten und neue Einblicke zu gewinnen. Ich sehe das als grosse Bereicherung.

Und ABU zu unterrichten, ist etwas vom Vielfältigsten, was es gibt, ich bin immer noch erstaunt, mit welcher Vielfalt von Fragen und Themen ich mich täglich auseinandersetze.

Wie sind Sie denn zum ABU gekommen?

Das war Zufall. Nach jahrelanger Arbeit mit Verhaltensauffälligen wollte ich etwas anderes machen, ich hatte das Gefühl, ich hätte die Relation zum «Normalen» verloren, diese Eins-zu-eins-Situationen mit Kindern und Jugendlichen waren mir allmählich zu nah, die Einzelschulung dauerte immer ein Jahr, da ergibt sich eine sehr enge Beziehung zu einem Menschen, und ich empfand es als auslaugend, es war mir allmählich zu viel Auffälligkeit, ich brauchte wieder die Distanz – zur Klasse, zur Gruppe. Im Kulturmanagement wollte ich auch nicht mehr arbeiten, wollte nicht mehr wegen jedem Rappen streiten (Sponsoring und Fundraising gehörten auch in meinen Aufgabenbereich). Kulturmanagement ist ein hartes Pflaster. Es ist ein Überlebenskampf, gerade in der freien Szene. Und die Gelder werden ständig gekürzt ... Von einem bestimmten Punkt an kann man die Qualität nicht mehr bieten, die von einem verlangt wird. Kurz: Es hat mich zu wenig genährt, innerlich.

So habe ich mich auf die Suche gemacht und bin auf ein Zeitungsinserat gestossen, in dem eine ABU-Stelle angeboten wurde. Ich habe mich beworben.

Wussten Sie denn, was ABU ist?

Ich hatte keine Ahnung, hatte noch nie davon gehört – wirklich nicht. Ich machte mich dann im Internet kundig und fand, das klinge vielfältig, das könnte spannend sein.

Ich wollte unterrichten. Ich arbeite gerne mit jungen Menschen zusammen und begleite sie gern ein Stück weit, es ist im Gegensatz zu dem, was ich im Kulturmanagement erlebt habe, eine sehr nährende Sache.

Ich kenne Schweizer, die nichts mit der Berufsbildung zu tun haben, die auch nicht wissen, was ABU ist. Wenn man sagt «allgemeinbildender Unterricht», stellen sie sich etwas Uferloses vor, ein grenzenloses Feld: «Wie kann man denn so etwas unterrichten?»

Es ist tatsächlich uferlos, drei, vier Jahre braucht es schon, bis man sich einigermassen eingearbeitet hat. Am Anfang ist man erschlagen, mir jedenfalls ging es so, man sieht vor lauter Meer den Horizont nicht und versucht, sich eben über Wasser zu halten, und dieses Sich-über-Wasser-Halten ist eine extrem zeitaufwendige Sache. Natürlich gibt es das System des Mentorats. Trotzdem, auch wenn der Mentor, die Mentorin einem zum Beispiel Arbeitsunterlagen oder Bücher in die Hand drückt, muss man sich in die Materie erst einmal einarbeiten. Ich hatte doch keine Ahnung von Kauf-vertrag oder von den Dingen, die man als Schweizer Konsument wissen muss, oder von den Pflichten eines Lehrlings, und diese Liste von Themen und Fragen ist sehr, sehr lang. Sich in diese Materie so weit einzuarbeiten, bis man vor der Klasse stehen kann mit einer inneren Sicherheit, dem Gefühl, sich den Stoff einigermassen erarbeitet, die eigenen Wissenslücken so weit geschlossen zu haben, dass man glaubwürdig ist, das braucht Zeit. Es kommt immer noch vor, dass ich eine Frage nicht beantworten kann. Aber ich habe heute einen guten Umgang mit Lücken gefunden. Ich bin kein wandelndes Lexikon, auch ein ABU-Lehrer weiss nicht alles, aber ich kann sagen: Ich gehe dieser Frage nach. Diese Offenheit, diese Kultur des Auch-nicht-wissen-Dürfens, das akzeptieren die Schüler, wenn man es selbst nicht als Defizit darstellt. Aber in der nächsten Unterrichtsstunde muss die Information geliefert werden. Die Schüler vergessen vielleicht, dass da eine offene Frage war, die Lehrperson darf es nicht vergessen, sie muss darauf zurückkommen.

Sie können ihre Fragen auch auf einem Flipchart notieren, einen Fragenpool sammeln. Und manchmal wissen die Schüler auch mehr zu einem Thema, sodass sie dann selbst Antworten geben können, das ergibt ein sehr befruchtendes, sehr natürliches Lernklima.

Die Breite des Stoffs ist bestimmt eine Herausforderung, aber eine andere liegt bei den Lernenden, nehme ich an.

Absolut. Ich hatte ja schon fast alle Alterskategorien unterrichtet – bis hin zur Tertiärstufe. Die einzige Stufe, die fehlte, war die Sekundarstufe II, die Jugendlichen. Aber das ist etwas vom Herausforderndsten, was man sich denken kann.

Es ist ein anspruchsvolles Alter – das Erwachsenwerden, der Übergang ins Berufsleben. Die Schüler kommen zum Teil mit 15, werden gerade 16. Für den Einstieg ins Berufsleben ist 16 früh, sehr früh. Die jungen Menschen entwickeln sich schnell, sie verändern sich schnell. Ich werde im nächsten Juni meine erste vierjährige Klasse verabschieden, am Anfang hatte ich Kinder vor mir, heute sind es Erwachsene. Natürlich entwickeln sie sich auch in der Primarstufe, aber hier kommt die Eigenverantwortung für ihr Leben hinzu, sie gehen von der Schule ab mit einem Diplom, einem Zeugnis, um sich dann im Leben selbstständig, auf eigenen Füssen zu behaupten. Das gibt es in keiner anderen Schulstufe. Primarschüler stehen nach der Schule nicht «im Leben».

Es sind ganz andere Themen, die die Berufsschüler beschäftigen. Zusammenziehen mit Partner oder Partnerin, Wohnungssuche, Ausziehen von zu Hause. Es ist eine Phase, die grosse Umwälzungen mit sich bringt. Oft haben die jungen Leute die Schule gar nicht in ihrem Fokus, verständlicherweise, aber sie müssen da durch. Es ist eine sehr spannende Lebensphase, und sie darin zu beobachten – nicht immer können wir sie begleiten –, das ist oft faszinierend. Das ist etwas, was eine Lehrperson auch nach langer Zeit im Beruf noch begeistern kann, Zeuge dieser Entwicklung zu sein. Wenn ich sie auf diesem Weg sogar begleiten darf, ist es noch spannender.

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