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2.3 Kompetenzorientierung im Fach Geschichte
2.3.1 Ein langer Weg: Von Inhaltszentrierung über Schlüsselprobleme zu fachlichen Kompetenzen

Die Kritik namhafter Proponenten der Geschichtsdidaktik mag den Anschein erwecken, dass der Paradigmenwechsel überraschend erfolgt ist. Tatsächlich beschleunigte der behördliche Druck zwar das Elaborieren der Kompetenzmodelle, dem war aber eine 40jährige Diskussion vorausgegangen, die um die Frage nach der Ausrichtung des Unterrichts (eher inhaltlich oder kategorial) geführt worden war.93 Im Zuge dieses Diskurses wurden wesentliche Vorarbeiten für die Implementierung der Kompetenzorientierung im Fach Geschichte geleistet. Zur Ausgangslage: In den 1950er- und 1960er Jahren stand das Schulfach Geschichte im Ruf das „Bildungsfach par excellence“94 zu sein. In Österreich war es zudem integraler Bestandteil der staatlich gewünschten Entfaltung einer österreichischen Identität in bewusster Abgrenzung zu deutschnationalen Traditionen des 19. und 20. Jahrhunderts, aber auch zum Habsburger-Mythos.95 Marko Demantowsky spricht von einem etatistisch-intentionalen Paradigma, dessen Ziel die Vermittlung gesellschaftlicher Normen und Werte gewesen ist. „Guter Geschichtsunterricht ist eine Agentur der Herrschenden zur Produktion von MitläuferInnen und MittäterInnen.“96 Die Fachdidaktik jener Jahre sah ihre Rolle in der wissenschaftlichen Methodenlehre und definierte Stoffkataloge, deren Abarbeitung den Lehrer*innen über Bildungspläne aufgetragen wurde, ohne dass man diese Syllabi einer kritischen Reflexion unterzogen hätte, „weil deren durch Tradition und Herkommen ausgewiesene Gültigkeit“97 für unumstößlich gehalten wurde. Es gehörte zum Selbstverständnis der Disziplin, den Transfer der Ergebnisse der Fachwissenschaft auf die Ebene der Schüler*innen in Form einer „Abbilddidaktik“ zu planen und durchzuführen. Der Entwicklungsstand junger Menschen, Resultate der Unterrichtsarbeit und deren Folgen fanden wenig Beachtung.98 Unterrichtsziele befanden sich in den Präambeln der Lehrpläne und wurden kaum wahrgenommen. Diese Verhältnisse erwiesen sich als ausgesprochen stabil, weil Geschichte in der Gesellschaft kaum Emotionen weckte. Der gymnasiale Geschichtsunterricht, abgeleitet von den Nominalfächern der universitären Studiengänge, löste keine kritische Betrachtung gesellschaftlicher Entwicklungen aus, sondern diente der Stabilisierung des errungenen freiheitlich-demokratischen Grundkonsenses in dessen nachkriegszeitlichem Erscheinungsbild. Weder in Deutschland noch in Österreich wurde der die 1950er Jahre kennzeichnende Transfer obrigkeitsstaatlicher Prinzipien in junge Demokratien ernsthaft in Frage gestellt. Alfred Heuß hatte wegen des unkritischen Umgangs mit Geschichte 1959 sogar vom „Verlust der Geschichte“99 gesprochen.

Den Anstoß zu einer Diskussion über Sinn und Ziele des Geschichtsunterrichts hatte 1964 Georg Picht gegeben. Bezüglich der Inhalte und Ziele des Geschichtsunterrichts hatte er von einer „deutschen(n) Bildungskatstrophe“ gesprochen100 und damit eine Debatte angeregt, die die Sinnhaftigkeit des Faches grundsätzlich in Frage stellte.101 Damit wurde der Geschichtsdidaktik die „Chance (zu) disziplinärer Modernisierung und fachautonomer Lernzielsetzung“102 eröffnet, die durch die kurz darauf mit Vehemenz einsetzende 1968er Bewegung und die daraus erwachsene Auflehnung gegen die Bildungsvorstellungen der damaligen Eliten an Dynamik gewann.103 Theoriebildung war in Bewegung geraten. Während die konservative Geschichtsdidaktik vom Nutzen des Umgangs mit Geschichte an sich überzeugt war (Rohlfes, Jeismann), betonte die linke Geschichtsdidaktik dessen soziale Emanzipationsaufgabe (Bergmann, Kuhn).104 Thomas Hellmuth beschreibt den fachdidaktischen Diskurs der 1960er Jahre105 als Prozess einer allmählichen Hinwendung des Geschichtsunterrichts zum Individuum (Erich Weniger, Karl Dietrich Erdmann). Der Bogen reichte vom Wunsch nach „[...] Herausbildung des ‚Citoyen‘ (als) emanzipierten, gesellschaftlich sowie handlungs- und partizipationsfähigen Individuums […]“106 (Schulz-Hageleit) bis zur Anerkennung der Bedeutung der Gegenwarts- und Zukunftsgebundenheit schulischen Umgangs mit Geschichte (Kuhn) reichte.107 Zur Krise des Geschichtsunterrichts gehörte aber auch, dass Konzepte entwickelt wurden, die ihn entweder durch sozialwissenschaftliche Fächer (Z. B. „Staatsbürgerkunde“,108 „Politik“, „Gesellschaftsbildung“) ersetzt oder in Fächerbündel (z. B. Geografie mit Geschichte) integriert wissen wollten.109 Erstes Ergebnis der Debatte war ein Konsens über die Umkehrung der Perspektive. Das Planen von Unterricht aus dem Blickwinkel der Politik wurde zu Gunsten eines Denkens von Unterricht aus Schüler*innenperspektive abgelöst, für Schönemann et all. „eine veritabel didaktische Revolution“, die in die Lernzielorientierung der Bildungsarbeit münden sollte.110 Von da an war die Auswahl von Inhalten und deren Bearbeitung zu begründen, Schwierigkeitsgrade hatten überlegt und die Bedeutung des Unterrichtsgegenstandes in seiner Relation zur Wissenschaft kritisch hinterfragt zu werden. Unterricht war an Konzepte, Überlegungen und Planungen zu binden. Es galt, die Leistung des Fachs Geschichte mit Blick auf Weltverstehen und Lebenspraxis der Schüler*innen neu zu definieren. Demantowsky sieht im Kant’schen Diktum vom „mündigen Bürger“ die Kompromissformel der Debatten jener Jahre.111 Das geänderte Selbstverständnis von Geschichtsunterricht fand seinen Ausdruck aber auch in der Berücksichtigung von Taxonomien, die Lernziele beschrieben und operationalisierten,112 in der Planung von Unterricht und in dessen Wahrnehmung als komplexem einem Vorgang, den es zu analysieren und zu verstehen galt. Die auch diskutierte Konstruktion eines Gesamtcurriculums für alle Fächer scheiterte jedoch,113 und „damit hatte die Stunde der Fachdidaktik geschlagen“.114 Ihrem Selbstverständnis nach sollte sie die Anordnung von Lehr- und Lerninhalten, deren Vermittlung und Grenzen so gestalten, „dass die Fachwissenschaften auf pädagogisch formulierte Fragen antworten“115 zu liefern in der Lage sein würden. Damit war der Paradigmenwechsel von der Beschränkung des Unterrichts auf Wissensvermittlung durch „Meistererzählung“ zur Lernzielorientierung und didaktischer Arbeit erfolgt. Die aus der existenziellen Bedrohung des Fachs Geschichte resultierende Theoriearbeit der Fachdidaktik mündete in einen Grundkonsens über Ziele und Methoden des Geschichtsunterrichts. Nahm man das übergeordnete Bildungsziel einer Vorbereitung auf die selbstständige Bewältigung des Lebens ernst, musste Schule das Erreichen von „Einsichts-“ und „Fähigkeitszielen“ anstreben. Der methodische Ansatz dazu wurde, Piaget und Bruner folgend,116 in den Verfahren eines konstruktivistisch konzipierten, explorativen Lernens (entdeckender Unterricht117) identifiziert. Es entstanden bedeutende Initiativen, die dem Fach Geschichte Wege in Richtung Kompetenzorientierung wiesen. Hans Döhn legte bereits 1968 einen „Lernzielkatalog“ vor, dessen zentrale Aussagen als Kompetenzen gelten könnten (z. B. Zeitsinn entwickeln, Zusammenhänge sehen lernen, Verständnis für soziale, politische, wirtschaftliche Gegebenheiten der Gegenwart wecken etc.).118 1974 schlug Anette Kuhn einen Paradigmenwechsel in der Begrifflichkeit vor und sprach nicht mehr von „Zielen“, sondern von „Qualifikationen“. Sie definierte fünf Fähigkeiten, die eine soziale Emanzipation der Individuen bewirken sollten: Kommunikation, ideologisches Denken, gesellschaftliche Analyse, Parteinahme und Identitätserweiterung.119 Kuhn strebte zwar einen „historisch-kritischen Lernprozess“120 bei Schüler*innen an, historisierte die zu entwickelnden Fähigkeiten jedoch nicht, sondern wollte sie als „überhistorisch“ verstanden wissen, sodass sie in der Domäne nur am Rande wahrgenommen wurden. Demgegenüber hatte Hans Süssmuth 1972 die Beachtung der Aspekte „Lebenswelt“ und „Handlungsorientierung“ für Geschichte eingefordert, eine Klassifikation der Lernziele gemäß der Bloom’schen Taxonomie vorgenommen und sie in ihrer historischen Tiefe gestaffelt.121 Damit hatte er de facto Kompetenzen formuliert. Eine vielversprechende Initiative mit ähnlichen Zielen wurde 1973 von der Bildungspolitik des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen gesetzt.122 In Form einer Empfehlung wurden zehn „Qualifikationen“ für die gymnasiale Oberstufe formuliert, die von der Idee getragen waren, mit Hilfe von Methodennutzung Einsichten in die Geschichte zu ermöglichen und Fähigkeiten zum Umgang mit ihr zu evozieren. Die Hinwendung zu analytischer Arbeit mit Materialien blieb zwar auf Quellen beschränkt, markierte aber erstmals den Versuch, im Unterricht die Spannungen zwischen Zeitgebundenheit und Gegenwartsbezug zur Erkenntnisgenerierung und zur Reflexion zu nutzen. Sogar eine Graduierung war ersichtlich. Noch fehlten jedoch die Aspekte Geschichtsbewusstsein und Kommunikation. Einen Schritt dorthin setzte Joachim Rohlfes, der die Substituierung der von Klafki propagierten Hierarchisierung der Lernziele in Richt-, Grob-, Fein- und Feinstziele123 zu Gunsten von „Qualifikationen“ verlangte,124 um Schüler*innen dazu zu befähigen, „[…] sachgemäß, kritisch und selbstständig mit historischen Sachverhalten umzugehen und der Bedeutung der Geschichte […] für die Gegenwart gerecht zu werden.“125 Damit wurde erstmals die Kategorie „Geschichtsbewusstsein“ als Bildungsziel in die Diskussion eingebracht. In Summe schuf die Curriculumsdebatte der 1970er Jahre kein befriedigendes Theoriekonzept, denn die inhaltliche Neubestimmung des Geschichte-Lernens in Form der entwicklungslogischen Erarbeitung von Sinnbildungsmuster war noch nicht erkannt worden. Noch dominierten politische Parameter – u. a. die Polarisierung zwischen einem von der Frankfurter Schule (Anette Kuhn) beeinflussten Denken und dem des vom französischem Strukturalismus (Hans Süssmuth) angeleiteten – die Theoriedebatte.126 Wichtige Vorarbeiten zur Klärung des Verständnisses von Kompetenzorientierung im Geschichtsunterricht waren jedoch geleistet worden.

2.3.2 Sinnkonstruktion und Bewusstseinsbildung: Kompetenzen als „Denkinstrument“

Angelpunkt der Weichenstellung für die Hinwendung der fachdidaktischen Theorie zur Kompetenzorientierung war die Akzeptanz der Erkenntnis, dass historisches Lernen das Bewusstsein des Individuums beeinflusst und dass daher das Lernen verändert werden muss. Eingeleitet wurde die Entwicklung durch Proponenten der „analytischen Geschichtsphilosophie“.127 Die Überlegung, Geschichtsbewusstsein mittels Reflexion und Kommunikation – also narrativierend – zu bilden, ermöglichte die Überwindung der aus dem politischen Links-Rechts-Denken erwachsenen Gegensätze, obwohl Wissenschaftler aus beiden „Lagern“ massive Einwände gegen das Konzept der Narrativierung von Geschichte erhoben.128 Trotzdem ersetzten die Modelle Rüsens und Jeismanns die bisherigen Konzepte, was zunächst an der Implementierung neuer didaktischer Termini sichtbar wurde: Statt von „Lernzielebenen“ war nun von „Kompetenzstufen“ die Rede, und der Ausdruck „Qualifikation“ wurde durch „Standards“ substituiert. Wesentlich war jedoch die Änderung der zentralen Kategorie des Geschichtelernens: Es sollte nicht mehr um die Vermittlung von Inhalten und von Geschichtsbildern, sondern um die Förderung der Entwicklung von „Geschichtsbewusstsein“ gehen. Vorrangig war die Klärung des Verständnisses von „historischem Bewusstsein“. Vorhanden waren zwei wissenschaftstheoretische Angebote: Folgt man Wilhelm Dilthey, beschreibt der Begriff die selbstständige Integration von Erfahrungen in die vorhandene Vorstellungswelt des Individuums und deren autonome Vernetzung zu einem neuen Geschichtsverständnis („Selbstverstehen“). Nach Charles S. Cooley bedeutet Bewusstseinsbildung die Übernahme von Vorgängen des Verstehens anderer Individuen, sogenannte „Spiegelungsprozesse“ („Fremdverstehen“). Im Alltag dürften beide Vorgänge ineinander verschränkt verlaufen.129 Konsens herrscht darüber, dass sie sich in sprachlichen Äußerungen manifestieren, wodurch Erkenntnisse dargestellt oder Standpunkte erklärt und begründet werden.130 Mit der Formel, bei Geschichtsbewusstsein handle es sich um das mentale Realisieren von Identitäten und Alteritäten, die mittels sinnbildender Narrationen wahrnehmbar werden, war eine einigermaßen klare und konsensfähige Vorstellung dessen, was der Begriff meint, gefunden. Jeismann schlug zur systematischen Entwicklung historischen Bewusstseins ein Drei-Stufen-Modell vor. Es umfasst die Fähigkeit zur Analyse (historische Wahrnehmung), zur Bildung von Sachurteilen (historische Deutung) und von Werturteilen (historische Orientierung).131 Rüsen formte daraus ein Regelkreismodell,132 das von Wolfgang Hasberg und Andreas Körber zu einem „prozesshaften Modell der historischen Erkenntnis“133 weiterentwickelt wurde.134 Rüsens Theorie von „Sinnbildung durch Zeiterfahrung“, wurde zur richtungsweisenden Grundlage für geschichtsdidaktische Konzeptionen. Eine prinzipielle Kritik am kognitionslastigen Umgang mit Geschichte stammt von Bärbel Völkel, die „[…] einen inklusiven, historisch-kulturelle wie auch geistig kommunikative Andersheit einschließenden Geschichtsunterricht […]“ durch die Fixierung der Theoriebildung auf Rüsen hintangehalten sieht.135

Trotz seiner ebenfalls kritischen Haltung zu Rüsen als Grundlage der Theoriebildung fachspezifischer Kompetenzorientierung, war und ist Pandel von der Notwendigkeit des Paradigmenwechsels überzeugt. 2005 würdigt er die weitgehende Akzeptanz einer Abkehr vom Primat der Vermittlung von Faktenwissen zugunsten einer Förderung der Entwicklung von Geschichtsbewusstsein als „archimedischen Punkt der ganzen Kompetenzdiskussion“,136 denn Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht hätten sich dabei schwerer getan als andere Fächer, weil die „orthodoxe“ Fachdidaktik stets die Dominanz historischen Wissens betont habe.137 Der Konsens zwischen Fachwissenschaft und Fachdidaktik über die Arbeit am Geschichtsbewusstsein als Ziel des Geschichtsunterrichts sei bemerkenswert.138 Erzielt wurde Kongruenz im Verständnis von Geschichtsbewusstsein als einem Teil menschlicher Wahrnehmung und Erkenntnis. Da Erkenntnis durch individuelle Handlungen gesteuert wird, verlangt Bewusstseinsbildung nach einer Förderung von individueller Kritikfähigkeit. Während Jeismann die analytische Zerlegung eines Geschichtsbildes mittels Extrahierung der Fakten, deren Deutung und Bewertung vorschlägt, sodass das Ziel von kritischem Umgang mit Geschichte darin besteht, die „[…] Identifikations- und Legitimationsmechanismen erkennbar und bewertbar zu machen“,139 wünscht die Gruppe FUER Geschichtsbewusstsein nicht nur die Ausbildung von Urteilsfähigkeit, sondern propagiert die Förderung der Entwicklung eines „reflektierten“ und „(selbst-)reflexiven Geschichtsbewusstseins“. Das Forscherteam geht von der Annahme aus, dass den meisten Individuen die Existenz ihres historischen Bewusstseins nicht klar ist. Sie müssten mit dessen Bedeutung für ihr Leben erst vertraut gemacht werden.140 Alexander Schöner definiert Geschichtsbewusstsein daher als „[…] intentionale Herstellung eines Bezugs zwischen Subjekt und Geschichte“.141 In seiner idealtypischen Form solle es reflektiert und (selbst-)reflexiv sein.142 Das umfasst auch den Wunsch nach Identitätsstiftung, nach Legitimation und allgemeiner Orientierung, denn das sei eine Form von Sinnbildung: „Individuen definieren sich und ihren Platz in der Gesellschaft, gewinnen an sozialer Signifikanz“.143 Pandel teilt grundsätzlich sein Verständnis von historischem Bewusstsein mit dem der Gruppe FUER. Allerdings versucht es auszudifferenzieren, beschreibt acht Dimensionen und folgt hierin Jean Piaget, demzufolge Bewusstsein auf zwei Wegen gebildet werden kann. Entweder geschieht das durch kognitive Assimilation, also durch Aufnahme neuer Erkenntnisse in bestehende Begriffsmuster oder durch kognitive Akkomodation, i. e. die Neuausrichtung bestehender Strukturen als Konsequenz der Weigerung des Individuums, neue Erkenntnisse in bestehende Muster zu integrieren.144 Für beide Varianten ist es hilfreich, Bescheid darüber zu wissen, was man wahrnimmt. Nach Pandel sind das: das „Temporalbewusstsein“ (Fähigkeit, sich mit Hilfe von Zeit zu orientieren), das „Wirklichkeitsbewusstsein“ (Fähigkeit, zwischen Realität und Fiktion zu unterscheiden); das „Wandelbewusstsein“ (Erkenntnis, dass sich Ereignisse, Personen und Dinge permanent verändern); das „Identitätsbewusstsein“ (die Fähigkeit, die Ich/Wir-Identität im Wandel als etwas Dauerhaftes zu begreifen); das „politische Bewusstsein“ (Erkenntnis, dass gesellschaftliche Verhältnisse von Machtausübung geprägt sind); das ökonomische Bewusstsein (Verstehen von Mechanismen sozialer Ungleichheit); das „moralische Bewusstsein“ (Fähigkeit, Gut und Böse zu unterscheiden; Erkenntnis, dass Wertvorstellungen Wandlungen unterworfen sind); das „individuelle Geschichtsbewusstsein“ (Erkenntnis eine „Einheit von Gegenstands- und Selbstbewusstsein“145).146 Bodo v. Borries betont, dass allfällige Unsicherheiten im Umgang mit dem Begriff Geschichtsbewusstsein der Bedeutung des Paradigmenwechsels keinen Abbruch tun. Das Prinzip der Kompetenzorientierung im Geschichtsunterricht sei eine notwendige Reaktion auf Versäumnisse aus der Vergangenheit gewesen. Die bewusste Herausarbeitung der Fachspezifik, der Fokus auf Narrativität und reflektierendes bzw. (selbst-)reflexives Geschichtsbewusstsein, die Lenkung des Blicks auf Geschichtskultur und Vermarktung von Geschichte als Lehr- und Lerninhalte sowie die Vorbereitung stimmiger Konzepte zur Diagnose und Leistungsmessung würden auf Dauer angelegte Fortschritte sein. Es sei unabdingbar, dass die Geschichtsdidaktik diesen Weg wissenschaftlich begleite, denn würde die Kompetenzorientierung als fachdidaktisches Prinzip scheitern, wären die Alternativen entweder eine Verkürzung des Fachs Geschichte auf (standardisiertes) Kanonwissen oder sein Aufgehen in Fächerbündeln. Beides wäre nicht wünschenswert.147 Auch Andreas Körber weist darauf hin, dass der Entschluss, dem Auftrag der KMK nachzukommen, nicht nur wissenschaftlichen Interessen geschuldet war, sondern auch der Überlegung, dem Fach die Abiturfähigkeit zu erhalten, damit es nicht in die schulische Bedeutungslosigkeit abgleitet.148

2.3.3 Zur Funktion von Kompetenzmodellen im Fach Geschichte: bildungspolitische und fachliche Ziele

Die bildungspolitischen Entscheidungen der Jahre 2002 bis 2005 führten zu einer intensiven Arbeit an domänenspezifischen Kompetenzmodellen. Laut Modelltheorie handelt es sich dabei um Konstrukte, die die fachspezifischen Kompetenzbeschreibungen, deren Arrangement untereinander (Strukturen) und deren erwartete Ergebnisse (Entwicklungsziele fachlicher Lernprozesse) in vereinfachter Weise veranschaulichen. Sie können, je nach Komplexitätsgrad der Modellierung, auch die Abbildung von Kompetenzentwicklungsstufen samt Niveaudefinition beinhalten. Die Modelle transferieren allgemeine Prinzipien der Standardisierung in das jeweilige Fach und machen den Prozess des Kompetenzaufbaus sichtbar. Abhängig von Ziel und Funktion, differenziert die Theorie zwischen drei verschiedenen Modelltypen: „Strukturmodelle“ geben dem Gefüge der Kompetenzen, Teilkompetenzen, Niveaustufen und Inhalte eine Ordnung und einen Rahmen. „Entwicklungsmodelle“ leiten aus den Strukturmodellen Wege des Kompetenzaufbaus und der Kompetenzentwicklung für die Bildungsarbeit ab und beschreiben diese. „Konfigurationsmodelle“ bilden das Zusammenwirken der Kompetenzen, mitunter auch die deren Interaktion aus verschiedenen Modellen, ab. Fachspezifische Modelle schaffen somit die Grundlage für fachliche Lernprozesse, leiten Vorgänge zum spezifischen Kompetenzerwerb an und weisen Bildungsplänen und Curricula, Wege, wie die Modellierungen in die praktisch umzusetzen sind. Die Kompetenzmodelle haben demnach eine didaktische, keine evaluierende Funktion.149 Während des Modellierungsprozesse galt es, zwei Aufgaben zu bewältigen. Einerseits sollten die Modelle so konstruiert werden, dass sie dem zentralen Anliegen der historischen Bewusstseinsbildung gerecht würden. Andererseits war die Wissenschaft gefordert, vorhandene Forschungsergebnisse zu systematisieren und idealtypische Konzepte und Kategorien in eine für die Schule operationalisierbare Theorie zu verarbeiten.150 Angesichts des Zeitdrucks151 und der Notwendigkeit, den Unterricht neu zu denken, erwies sich die Bewältigung dieser Aufgabe als ambitioniertes Projekt.

2003/04 beschloss die KMK die Einführung von Bildungsstandards in Deutschland.152 Das war für die Geschichtsdidaktik der Anstoß dafür, die Kompetenzmodellierung auf ihre Agenda zu setzen. Zwar hatte sich die „Konferenz für Geschichtsdidaktik“ dem Ansinnen, fachspezifische Kompetenzmodelle zu erarbeiten und Standards zu formulieren, lange verweigert. Jene Wissenschaftler, die sich der Aufgabe stellten, konnten aber auf die Vorarbeiten ebenso zurückgreifen153 wie auf internationale Erfahrungen. Als unstrittig erwies sich von Beginn an die Grundsatzentscheidung, die Reformdynamik dafür zu nutzen, das Fach Geschichte im schulischen Kontext neu zu positionieren, um dessen Marginalisierung in Fächerbündeln oder seine Absorbierung durch Nachbardisziplinen hintanzuhalten. Zugleich wurde mit der Erarbeitung von Kompetenzmodellen innerdisziplinär die Erwartung verknüpft, bei Vorlage plausibler Konzepte die Position der Fachdidaktik im Diskurs mit der Fachwissenschaft zu stärken. Und es bot sich die seltene Gelegenheit, Innovationen auf Dauer in den Unterricht zu implementieren und so als Wissenschaft wirkmächtig zu werden. Schließlich erwartete man sich Gelegenheiten zum Austausch mit Bildungsforschung, Bildungspädagogik und anderen Fachdidaktiken, die der Klärung der Zusammenhänge und der Wechselwirkungen der Kompetenzvorstellungen dienen sollten. Eine Hürde stellte die Frage von Bildungsstandards dar, deren Einführung von der KMK mit dem Ziel einer „Output-Steuerung“ verknüpft worden war. Standards sollten sichtbar machen, „welche Kompetenzen Schülerinnen und Schüler bis zur einer bestimmten Jahrgangsstufe in den wesentlichen Inhalten erworben haben sollten.“154 Die Systemfokussierung der Messung der Lernergebnisse erachtete die Geschichtsdidaktik als unbefriedigend. Sie hätte Standards in einem engeren Sinn präferiert, um aus den Messungen fachspezifische Diagnose- und Förderinstrumente entwickeln zu können. Da dies die intendierte Systemüberprüfung („Bildungsstandards im weiteren Sinn“155) nicht zuließ, sollte es eine zusätzliche Aufgabe sein, die eigenen Modelle so zu gestalten, dass sie sowohl den Interessen des Bildungsmonitorings als auch dem Anliegen der Entwicklung einer Diagnose- und Förderkompetenz entsprachen. Andreas Körber meint 2007, der Reformprozess sei ein günstiges Momentum, um mit Hilfe einer „Vergewisserung über Grundkonzepte“156 einen Rückschritt in einen bloß inhaltszentrierten Kanon-Unterricht, wie er durch eine Standardisierung ohne Mitwirkung der Fachdidaktik befürchtet worden war, nachdrücklich hintanzuhalten. Schlussendlich hatte der Fachdidaktik auch die „Anschlussfähigkeit an eine bildungspolitische Entwicklung“157 ein Anliegen zu sein.158

Die Idee, Kompetenzen zu modellieren, ist ab den 1980er Jahren in den USA und in Großbritannien entstanden. Nach dem Jahr 2000 erreichte dieser Trend Deutschland, die Schweiz und Österreich. Alle wesentlichen Initiativen waren vom Bestreben geleitet, Unterricht weiterzuentwickeln. Es entstand ein buntes Potpourri von Modellen und Begriffen, die die kontroversen Strömungen des fachdidaktischen Diskurses widerspiegelten. Für Körber ist es durch die Kompetenzdiskussion und der Erarbeitung der Modelle erstmals gelungen, die meisten Theoriebildungsprozesse auf den Unterricht zu fokussieren, und er hält das für eine gelungene Annäherung fachdidaktischer Wissenschaften an das schulische Geschehen.159 Demgegenüber findet Thomas Hellmuth, dass es die Vielzahl an Modellen den Lehrer*innen erschweren würde, Unterrichtsplanung an ihnen auszurichten.160 Die wirkmächtigsten waren:

• The National Curriculum (1980er Jahre) in Großbritannien161

• Content- and Performance-Standards (1996) in den USA162

• Kompetenzvorstellungen der Lehrplanentwürfe aus Mecklenburg-Vorpommern (2002) und Berlin (2006/09)163

• Kompetenzdefinition Michael Sauers und die Bildungsstandards des „Verbands der Geschichtslehrer Deutschlands“ (2002 und 2005)164

• Kompetenzmodell Hans-Jürgen Pandels (2005)165

• Kompetenzmodell der „Einheitlichen Prüfungsordnung für die Abiturprüfung Geschichte“ (2005)166

• Kompetenzmodell „Hinschauen und nachfragen von Peter Gautschi, Jan Hodel und Hans Utz (2006)167

• Kompetenzstrukturgitter-Modell des Werner Heil (2010)168

Darüber hinaus gibt es u. a. Kompetenzmodelle von Jannet van Drie und Carla van Boxtel (2008) oder von Wolfgang Hasberg (2010).169 Pandel meint, die Akkumulation des Prinzips der Kompetenzorientierung zu einem unterrichtsleitenden (Wissens-)Bildungsbegriff sei als „archimedischer Punkt der Kompetenzdiskussion“170 anzusehen. An ihm würden sich fachdidaktische Modelle festmachen, an ihm orientiere sich Unterricht in allen Schulstufen und aus ihm würden Mess-Systeme und Prüfungsverfahren erwachsen, von der Primarstufe bis zur Reifeprüfung und darüber hinaus.171

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