So Gut Wie Vorüber

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Kapitel sieben

Cassie rannte tiefer in den Wald hinein und im Slalom durch die Baumreihen. Sie rief Ellas Namen wieder und wieder und betete für eine Antwort. Ella könnte überall an, schließlich gab es keinen eindeutigen Weg, dem sie gefolgt sein könnte. Der Wald war dunkel und unheimlich, der Wind wurde immer stärker und die Bäume schienen ihre Rufe zu dämmen. War Ella in eine Schlucht gefallen, gestolpert oder mit dem Kopf gegen einen Stein gestoßen? Hatte ein Landstreicher sie mitgenommen? Die Möglichkeiten waren endlos.

Cassie rutschte moosbewachsene Pisten hinunter und stolperte über Wurzeln. Ihr Gesicht war überall zerkratzt und ihr Hals schmerzte vom Schreien.

Schließlich blieb sie keuchend stehen. Ihr Schweiß fühlte sich im Wind kalt und feucht an. Was sollte sie nun tun? Es wurde langsam dunkel. Sie konnte nicht weitersuchen, wenn sie sich und die Kinder nicht allesamt in Gefahr bringen wollte. Die Gärtnerei war ihre nächste Anlaufstation, wenn sie denn überhaupt noch geöffnet war. Sie konnte dort anhalten, dem Ladenbesitzer erzählen, was geschehen war und ihn bitten, die Polizei zu rufen.

Sie brauchte eine Ewigkeit und mehrere falsche Abbiegungen, um den Weg zurückzufinden, den sie gegangen war. Sie betete, dass die anderen in Sicherheit auf sie gewartet hatten. Und sie hoffte, wo es keine Hoffnung mehr gab, dass Ella vielleicht ihren Weg zurückgefunden hatte.

Aber als sie die Lichtung erreichte, fädelte Antoinette gerade Blätter aneinander und Marc schlief tief und fest auf einem Bett aus Jacken.

Keine Ella.

Sie stellte sich vor, was sie bei ihrer Rückkehr auf dem Gutshof erwartete. Pierre würde wutentbrannt sein – zu Recht. Margot vermutlich einfach nur grausam. Sie stellte sich die Taschenlampen vor, die durch die Nacht leuchteten, während die Gemeinde nach einem Mädchen suchte, das verloren, verletzt oder schlimmer war. Ein Ergebnis ihrer Fahrlässigkeit. Es war ihre Schuld und ihr Versagen.

Das Entsetzen der Situation war zu viel für sie. Sie sank an einem Baum zu Boden, vergrub ihr Gesicht in ihren Händen und versuchte verzweifelt, ihr Schluchzen zu kontrollieren.

Und dann sagte Antoinette mit heller Stimme: „Ella? Du kannst jetzt rauskommen!“

Cassie blickte auf und beobachtete ungläubig, wie Ella hinter einem umgefallenen Baumstamm hervorkletterte und sich das Laub von ihrem Rock wischte.

„Was …“ Cassies Stimme war rau und zitternd. „Wo warst du?“

Ella lächelte glücklich.

„Antoinette sagte, dass wir Verstecken spielen und dass ich nicht rauskommen darf, wenn du mich rufst – sonst habe ich verloren. Mir ist jetzt kalt, kann ich meine Jacke haben?“

Cassie fühlte sich blind vor Schock. Sie hatte nicht geglaubt, dass sich jemand aus purer Bosheit solch ein Szenario ausdenken konnte.

Es war nicht nur Antoinettes Grausamkeit, die Cassie am meisten erstaunte, sondern ihre Berechnung. Was brachte Antoinette dazu, sie so zu foltern? Und wie konnte sie das in Zukunft verhindern? Von den Eltern war keine Unterstützung zu erwarten. Nettigkeit hatte nicht funktioniert und Wut würde Antoinette nur in die Hand spielen. Antoinette hatte die Kontrolle und das wusste sie.

Unverzeihlich spät machten sie sich auf den Nachhauseweg – und das, nachdem sie keiner Menschenseele gesagt hatte, wo sie waren. Die Kinder waren schmutzig, hungrig, durstig und erschöpft. Cassie fürchtete, dass Antoinette mit ihrem Tun für Cassies sofortige Kündigung gesorgt hatte.

Es war ein langer, kalter und unbequemer Weg zurück zum Schloss. Ella bestand darauf, den gesamten Weg über getragen zu werden und Cassies Arme waren dabei, aufzugeben, als sie endlich das Anwesen erreichten. Marc bildete murrend das Schlusslicht, zu müde, um etwas anderes zu tun, als hin und wieder einen Stein auf die Vögel in den Hecken zu werfen. Selbst Antoinette schien in ihrem Sieg keine Freude zu finden und trottete missmutig nebenher.

Als Cassie an der einschüchternden Haustür klopfte, wurde diese sofort aufgezogen. Vor ihr stand Margot, rot vor Wut.

„Pierre!“, schrie sie. „Sie sind endlich zuhause.“

Cassie begann zu zittern, als sie ärgerliches Stampfen hörte.

„Wo zum Teufel seid ihr gewesen?“, bellte Pierre. „Wie konntest du nur so unverantwortlich sein?“

Cassie schluckte schwer.

„Antoinette wollte in den Wald gehen. Also haben wir einen Spaziergang gemacht.“

„Antoinette – was? Den ganzen Tag? Warum hast du ihr das erlaubt und meine Anweisungen missachtet?“

„Welche Anweisungen?“ Cassie duckte sich unter seinem Zorn und wollte am liebsten wegrennen und sich verstecken, wie sie es als Kind immer getan hatte, wenn ihr Vater einen seiner Wutausbrüche an ihr ausgelassen hatte. Als sie hinter sich blickte, konnte sie sehen, dass die Kinder sich genauso fühlten. Ihre gebeutelten, ängstlichen Gesichter gaben ihr den Mut, den sie brauchte, um Pierre ins Gesicht zu sehen. Und das obwohl ihre Beine zitterten.

„Ich habe eine Notiz an deiner Schlafzimmertür hinterlassen.“ Er gab sich Mühe, mit normaler Stimme zu sprechen. Vielleicht hatte auch er die Reaktion der Kinder bemerkt.

„Ich habe keine Notiz vorgefunden.“ Cassie sah Antoinette an, doch ihre Augen waren gen Boden gerichtet und ihre Schultern gebeugt.

„Antoinette hätte heute in Paris einige Klavierstücke zum Besten geben sollen. Ihr Bus kam um acht Uhr dreißig, aber sie war unauffindbar. Und Marc hatte um zwölf Uhr Fußballtraining in der Stadt.“

Ein kalter Knoten formte sich in Cassies Magengegend, als sie realisierte, wie ernst die Konsequenzen ihrer Handlungen waren. Sie hatte Pierre und auch andere auf schlimmste Weise enttäuscht. Dieser Tag hätte ein Test ihrer Fähigkeiten in der Organisation der Tagespläne der Kinder sein sollen. Stattdessen hatten sie einen ungeplanten Ausflug ins Nirgendwo unternommen und wichtige Aktivitäten verpasst. An Pierres Stelle wäre sie auch wütend gewesen.

„Es tut mir so leid“, murmelte sie.

Sie traute sich nicht, Pierre von den Tricksereien seiner Kinder zu erzählen, auch wenn sie sich sicher war, dass er seine eigenen Vermutungen anstellte. Sie wollte die Kinder davor bewahren, die volle Wucht seiner Wut abzubekommen.

Ein Gong erschallte aus dem Esszimmer und Pierre sah auf seine Armbanduhr.

„Wir werden später darüber sprechen. Bereite jetzt die Kinder fürs Essen vor. Schnell, sonst wird es kalt.“

Schnell war leichter gesagt als getan. Über eine halbe Stunde und weitere Tränen waren notwendig, um Marc und Ella zu baden und in ihre Pyjamas zu stecken. Glücklicherweise zeigte sich Antoinette von ihrer besten Seite und Cassie fragte sich, ob die Konsequenzen ihrer Handlungen sie überforderten. Sie selbst hatte ein Gefühl der Taubheit eingenommen, nachdem der Tag sich zu einer wahren Katastrophe entwickelt hatte. Sie war beim Baden der Kinder klatschnass geworden, hatte aber keine Zeit, selbst zu duschen. Stattdessen zog sie sich ein trockenes Oberteil über und die Quaddeln auf ihren Armen leuchteten wieder auf.

Niedergeschlagen marschierten sie nach unten.

Pierre und Margot warteten in der kleinen Lounge neben dem Esszimmer. Margot nippte an einem Weinglas, während Pierre sich einen weiteren Brandy mit Soda einschenkte.

„Endlich können wir essen“, bemerkte Margot knapp.

Zum Essen gab es eine Fisch-Kasserolle und Pierre bestand darauf, dass die zwei älteren Kinder sich selbst bedienten, während Cassie Ella helfen durfte.

„Sie müssen schon früh die richtige Netiquette lernen“, sagte er und fuhr während dem gesamten Essen fort, sie anzuweisen, wie das richtige Protokoll anzuwenden war.

„Lege deine Serviette auf deinen Schoss, Marc. Nicht zerknüllt auf den Boden. Und deine Ellbogen müssen nach innen gerichtet sein. Ella will nicht von dir in die Seite gestoßen werden, während du isst.“

Der Eintopf war reichhaltig und köstlich und Cassie hatte einen Bärenhunger. Doch Pierres Tiraden reichten, um jedem den Appetit zu verderben. Sie begnügte sich mit kleinen, grazilen Bissen und beobachtete Margot, um zu überprüfen, ob sie selbst auf korrekt französische Art und Weise aß. Die Kinder waren erschöpft und nicht in der Lage, zu verstehen, was ihr Vater ihnen einzutrichtern versuchte. Cassie wünschte sich, Margot würde Pierre erklären, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für Pingeligkeit war.

Sie fragte sich, ob Abendessen anders abgelaufen waren, als Diane noch am Leben war. Wie sehr war die Familiendynamik durch Margots Ankunft verändert worden? Ihre eigene Mutter hatte auf stille Weise Konflikte unterbunden, aber mit ihrem Tod waren diese unkontrollierbar ausgebrochen. Vielleicht hatte Diane hier eine ähnliche Rolle gespielt.

„Wein?“ Zu ihrer Überraschung füllte Pierre ihr Glas mit Weißwein, bevor sie ablehnen konnte. Vielleicht war auch das Teil des Protokolls.

Der Wein war wohlriechend und fruchtig und nach nur wenigen Schlucken spürte sie, wie der Alkohol ihre Blutbahnen durchflutete und sie mit Wohlgefühl und gefährlicher Entspannung erfüllte. Schnell stellte sie ihr Glas ab; sie wusste, dass sie sich keine Ausrutscher mehr erlauben konnte.

„Ella, was tust du da?“, fragte Pierre entnervt.

„Ich kratze mein Knie“, erklärte Ella.

„Und warum benutzt du dafür einen Löffel?“

„Meine Fingernägel sind zu kurz, um dranzukommen. Wir sind durch Brennnesseln gelaufen“, sagte Ella stolz. „Antoinette hat Cassie eine Abkürzung gezeigt. Mich haben die Nesseln am Knie erwischt, Cassie in ihrem ganzen Gesicht und an den Armen. Sie hat geweint.“

Margot stellte abrupt ihr Weinglas ab.

„Antoinette! Du hast es wieder getan?“

Cassie blinzelte überrascht, als sie erfuhr, dass dies nicht Antoinettes erste Aktion dieser Art gewesen war.

„Ich …“, begann Antoinette trotzig, doch Margot war unaufhaltsam.

„Du bösartiges, kleines Biest. Du machst doch nur Ärger. Du hältst dich für unglaublich schlau, dabei bist du lediglich ein dummes, fieses, kindisches Mädchen.“

 

Antoinette biss sich auf die Lippe. Margots Worte hatten ihre kühle Beherrschung aufgebrochen.

„Es ist nicht ihre Schuld“, sagte Cassie plötzlich laut und fragte sich zu spät, ob der Wein möglicherweise eine schlechte Idee gewesen war.

„Es muss sehr schwer für sie sein, mit …“ Sie hielt inne. Sie war kurz davor gewesen, den Tod ihrer Mutter zu erwähnen. Doch Ella glaubte an eine andere Version und sie hatte keine Ahnung, was dahintersteckte. Dafür war nun nicht der richtige Zeitpunkt.

„… so vielen Veränderungen umzugehen“, sagte sie. „Wie auch immer, Antoinette hat mich nicht angewiesen, den Weg zu nehmen. Das habe ich selbst entschieden. Ella und ich waren müde und es sah nach einer guten Abkürzung aus.“

Sie traute sich nicht, Antoinette anzusehen, während sie sprach, für den Fall, dass Margot ein geheimes Einverständnis vermutete. Doch sie schaffte es, Ellas Blick zu erwischen. Sie sah sie verschwörerisch an und hoffte, dass sie verstand, warum Cassie sich auf die Seite ihrer Schwester stellte. Sie wurde mit einem kleinen Nicken belohnt.

Cassie fürchtete, dass diese Verteidigung ihre eigene Situation erschwerte, aber sie hatte etwas sagen müssen. Schließlich wusste sie, wie es war, in einer kaputten Familie aufzuwachsen, wo jederzeit Krieg ausbrechen konnte. Sie verstand die Wichtigkeit eines älteren Vorbilds, das in solchen Situationen Schutz bieten konnte. Wie hätte sie ohne Jacqui die schlimmen Zeiten überstehen können? Antoinette hatte niemanden, der ihr den Rücken stärkte.

„Du stellst dich also auf ihre Seite?“, zischte Margot. „Vertrau mir, das wirst du bereuen – genau wie ich es selbst getan habe. Du kennst sie nicht, wie ich sie kenne.“ Sie zeigte mit einem blutrot lackierten Fingernagel auf Antoinette, die zu schluchzen begonnen hatte. „Sie ist genau wie ihre …“

„Aufhören!“, brüllte Pierre. „Ich dulde keine Streitereien am Esstisch – Margot, halt nun die Klappe, du hast schon genug gesagt.“

Margot sprang so schnell auf, dass ihr Stuhl krachend nach hinten fiel.

„Ich soll die Klappe halten? Dann werde ich gehen. Aber glaube nicht, dass ich nicht versucht habe, dich zu warnen. Du wirst bekommen, was du verdienst, Pierre.“ Sie marschierte zur Tür, drehte sich dann aber noch einmal um und starrte Cassie mit unverschleiertem Hass an.

„Ihr werdet alle bekommen, was ihr verdient.“

Kapitel acht

Cassie hielt den Atem an, während Margots sich mit wütenden Schritten zurückzog. Als sie die anderen betrachtete, erkannte sie, dass sie nicht die einzige war, die durch den boshaften Ausbruch der blonden Frau in schweigende Stockstarre verfallen war. Marcs Augen waren aufgerissen und seine Lippen eng zusammengepresst. Ella nuckelte an ihrem Daumen und Antoinette blickte mit wortloser Wut in die Leere.

Leise fluchend schob Pierre seinen Stuhl zurück.

„Ich kümmere mich darum“, sagte er und marschierte zur Tür. „Bring die Kinder ins Bett.“

Cassie, erleichtert über die Aufgabe, betrachtete die Teller und Gläser auf dem Tisch. Sollte sie den Tisch abräumen oder die Kinder um Hilfe bitten? Die Spannung im Raum war so dick wie Rauch. Sie sehnte sich nach einer normalen, alltäglichen Familienaktivität wie dem Abspülen von Geschirr, um die Gereiztheit aufzulösen.

Antoinette sah die Richtung ihres Blicks.

„Lass es stehen“, keifte sie. „Jemand wird nachher abräumen.“

Mit gezwungener Heiterkeit sagte Cassie: „Nun, dann ist es Zeit fürs Bett.“

„Ich will nicht ins Bett“, protestierte Marc und schaukelte mit seinem Stuhl nach hinten. Als der Stuhl das Gleichgewicht verlor, schrie er mit vorgetäuschter Furcht auf und hielt sich an der Tischdecke fest. Cassie hechtete zu seiner Rettung. Sie war schnell genug, um den Stuhl vor dem Umkippen zu bewahren, aber zu spät, um Marc daran zu hindern, zwei Gläser umzuwerfen und einen Teller krachend zu Boden zu befördern.

„Nach oben“, befahl sie und versuchte, streng zu klingen. Aber ihre Stimme war durch die Anstrengung hoch und ungleichmäßig.

„Ich will nach draußen gehen“, kündigte Marc an und sprintete auf die Glastür zu. Cassie, die sich daran erinnerte, wie er ihr im Wald ausgebüxt war, sprintete ihm nach. Als sie ihn einholte, hatte er bereits die Tür aufgeschlossen, doch sie war in der Lage, ihn festzuhalten und daran zu hindern, sie zu öffnen. Sie sah ihr Spiegelbild im dunklen Glas. Ein Junge mit rebellischem Haar und einem eigensinnigen Gesichtsausdruck – und sich selbst. Ihre Finger hielten ihn an den Schultern gepackt, ihre Augen groß und nervös, das Gesicht so weiß wie Schnee.

Sich in diesem unerwarteten Moment selbst zu sehen, machte ihr klar, wie gewaltig sie in ihren Pflichten bisher versagt hatte. Seit ihrer Ankunft war ein voller Tag vergangen und sie war nicht eine einzige Minute in Kontrolle gewesen. Sie würde sich selbst etwas vormachen, wenn sie anders denken würde. Ihre Erwartungen, in die Familie hineinzupassen, von den Kindern geliebt oder zumindest gemocht zu werden, hätte nicht unrealistischer sein können. Sie hatten keinen Funken Respekt vor ihr und sie hatte keine Ahnung, wie sie das ändern konnte.

„Schlafenszeit“, wiederholte sie müde. Mit der linken Hand fest auf Marcs Schulter entfernte sie den Schlüssel aus dem Schloss. Sie befestigte ihn an einem Haken, den sie hoch oben an der Wand entdeckt hatte. Dann ging sie mit Marc nach oben, ohne ihn loszulassen. Ella trottete neben ihnen her und Antoinette folgte ihnen bedrückt. Ohne gute Nacht zu sagen knallte sie ihre Schlafzimmertür hinter sich zu.

„Möchtest du, dass ich dir eine Geschichte vorlese?“, fragte sie Marc, doch der schüttelte den Kopf.

„Na schön. Dann ab ins Bett. Wenn du gleich schläfst, kannst du morgen früher aufstehen und mit deinen Soldaten spielen.“

Es war die einzige Motivation, an die sie denken konnte, aber es schien zu funktionieren. Oder die Müdigkeit hatte den Jungen doch endlich eingeholt. Jedenfalls tat er, zu ihrer Erleichterung, wie ihm geheißen. Sie deckte ihn zu und bemerkte, dass ihre Hände vor reiner Erschöpfung zitterten. Wenn er einen weiteren Ausbruchsversuch unternahm, würde sie in Tränen ausbrechen, das wusste sie. Sie war nicht überzeugt, dass er im Bett bleiben würde, aber fürs erste zumindest war ihr Job getan.

„Ich will eine Geschichte.“ Ella zog an ihrem Arm. „Liest du mir eine vor?“

„Natürlich.“ Cassie ging mit in ihr Zimmer und suchte ein Buch aus dem mäßig bestückten Regal aus. Ella sprang ins Bett und hüpfte aufgeregt auf der Matratze herum. Cassie fragte sich, wie oft ihr in der Vergangenheit vorgelesen wurde, da es kein normaler Teil ihrer Routine zu sein schien. Aber vermutlich war nichts ans Ellas Kindheit bisher normal verlaufen.

Sie las die kürzeste Geschichte, die sie finden konnte, doch natürlich Ella forderte eine zweite. Die Worte verschwammen vor ihren Augen, als sie das Ende erreichte und sie klappte das Buch zusammen. Zu ihrer Erleichterung sah Cassie, dass sich Ella durch das Vorlesen beruhigt hatte und eingeschlafen war.

Sie schaltete das Licht aus und schloss die Tür. Als sie den Gang entlanglief, sah sie so leise sie konnte nach Marc. Zum Glück war das Zimmer noch immer dunkel und sie hörte weiches und gleichmäßiges Atmen.

Als sie Antoinettes Tür öffnete, war das Licht noch an. Antoinette saß auf ihrem Bett und schrieb in ein pinkfarbenes Buch.

„Du klopfst, bevor du reinkommst“, schalt sie Cassie. „Das ist eine Regel.“

„Es tut mir leid. Ich verspreche, mich in Zukunft daran zu halten“, entschuldigte sich Cassie. Sie fürchtete, Antoinette würde die gebrochene Regel in eine Diskussion ausweiten, aber stattdessen wandte sie sich wieder ihrem Notizbuch zu und schrieb noch ein paar Worte, bevor sie es schloss.

„Machst du noch Hausaufgaben?“, fragte Cassie überrascht, da ihr Antoinette nicht als jemand vorkam, der Dinge bis zur letzten Minute herauszögerte. Ihr Zimmer war makellos. Die Kleidung, die sie zuvor ausgezogen hatte, lag gefaltet im Wäschekorb und ihr ordentlich gepackter Schulranzen stand unter einem perfekt aufgeräumten, weißen Schreibtisch.

Sie fragte sich, ob Antoinette das Gefühl hatte, dass ihrem Leben Kontrolle fehlte und sie deshalb versuchte, diese in ihrer direkten Umgebung selbst auszuüben. Oder vielleicht versuchte das dunkelhaarige Mädchen zu beweisen, dass sie niemanden brauchte, der sich um sie kümmerte. Schließlich hatte sie klargemacht, die Anwesenheit eines Au-Pairs ganz furchtbar zu finden.

„Meine Hausaufgaben sind fertig. Ich habe in mein persönliches Tagebuch geschrieben“, erklärte Antoinette.

„Machst du das jeden Abend?“

„Nur, wenn ich wütend bin.“ Sie setzte ihrem Stift den Deckel auf.

„Tut mir leid, was heute Abend passiert ist“, meinte Cassie mitfühlend. Sie hatte das Gefühl, sich auf Eis zu bewegen.

„Margot hasst mich und ich hasse sie“, sagte Antoinette und ihre Stimme bebte ein bisschen.

„Ich glaube nicht, dass das stimmt“, protestierte Cassie, aber Antoinette schüttelte den Kopf.

„Das tut es. Ich hasse sie. Ich wünschte, sie wäre tot. Sie hat Dinge wie heute schon öfter zu mir gesagt. Es macht mich so wütend, ich könnte sie umbringen.“

Cassie starrte sie schockiert an.

Es waren nicht nur Antoinettes Worte, sondern die Ruhe, mit der sie diese aussprach. Sie hatte keine Ahnung, wie sie darauf reagieren sollte. War es normal für eine Zwölfjährige, solch mörderische Gedanken zu hegen? Sicherlich wäre es sinnvoll für Antoinette, jemanden zu haben, der ihr dabei helfen konnte, mit ihrem Ärger umzugehen. Eine qualifizierte Person wie einen Berater, einen Psychologen oder gar einen Gemeindepfarrer.

Da aber keine kompetentere Person anwesend war, musste Antoinette eben mit ihr vorliebnehmen.

Cassie durchsuchte ihre eigenen Erinnerungen und versuchte, sich daran zu erinnern, was sie in dem Alter gesagt oder getan hatte. Wie hatte sie reagiert, wenn sie das Gefühl hatte, dass ihr Leben außer Kontrolle geriet? Hatte sie je den Wunsch verspürt, jemanden umzubringen?

Plötzlich erinnerte sie sich an eine der Freundinnen ihres Vaters. Elaine, eine Blondine mit langen, roten Fingernägeln und einem hohen, kreischenden Lachen. Sie hassten einander auf den ersten Blick. Während den sechs Monaten, die Elaine in ihrem Leben verbrachte, hatte Cassie sie mit ganzem Herzen verabscheut. Sie konnte sich nicht daran erinnern, sie totgewünscht zu haben, aber sie wollte auf jeden Fall, dass sie aus ihrem Leben verschwand.

Vermutlich war es das gleiche. Antoinette war lediglich direkter.

„Was Margot gesagt hat, war absolut nicht fair“, stimmte Cassie ihr zu, denn das war die Wahrheit. „Aber Menschen sagen, wenn sie wütend sind, Dinge, die sie nicht meinen.“

Natürlich waren Worte, die aus Wut gesprochen wurden, auch meistens wahr, aber in diese Richtung wollte sie jetzt nicht gehen.

„Oh, sie hat es gemeint“, versicherte Antoinette ihr. Sie spielte mit ihrem Stift und drehte den Deckel gewaltsam von links nach rechts.

„Und Papa ist nun immer auf ihrer Seite. Er denkt nur an sie und niemals an uns. Es war ganz anders, als meine Mutter noch am Leben war.“

Cassie nickte mitfühlend. Sie hatte dieselbe Erfahrung gemacht.

„Ich weiß“, sagte sie.

„Woher?“ Antoinette sah sie neugierig an.

„Meine Mutter ist gestorben, als ich noch klein war. Mein Vater hat ebenfalls neue Freundinnen – ähm, ich meine Verlobte – mit nach Hause gebracht. Das hat für viel Streit und Abneigung gesorgt. Sie mochten mich nicht, ich mochte sie nicht. Zum Glück hatte ich eine ältere Schwester.“

Hastig korrigierte Cassie sich.

„Ich habe eine ältere Schwester. Ihr Name ist Jacqui. Sie hat meinem Dad Paroli geboten und mich beschützt, wenn es Streit gab.“

Antoinette nickte zustimmend.

„Du hast heute Abend meine Seite ergriffen, das hat noch niemand vorher getan. Danke.“

Sie sah Cassie mit ihren großen, blauen Augen an und Cassie fühlte, wie sie aufgrund dieser unerwarteten Dankbarkeit einen Kloß im Hals bekam.

„Dafür bin ich hier“, sagte sie,

„Tut mir leid, dass ich dich durch die Brennnesseln geschickt habe.“ Sie schielte auf die Quaddeln an Cassies Händen, die noch immer dick und entzündet waren.

„Das ist in Ordnung. Ich verstehe, dass es nur ein Witz war.“ Ihre Augen füllten sich nun mit Tränen, als sie von Verständnis und Mitgefühl überrollt wurde. Sie hatte von Antoinette nicht erwartet, ihre Schutzmauer zu öffnen und verstand genau, wie einsam und verletzlich sie sich fühlen musste. Es war furchtbar, zu denken, dass Antoinette zuvor schon verbal von Margot misshandelt worden war und niemanden gehabt hatte, der ihr den Rücken stärkte. Selbst ihr Vater hatte sich bewusst gegen sie gestellt.

 

Aber jetzt hatte sie jemanden – Cassie stand hinter ihr und würde sie unterstützen, egal was es kostete. Der Tag war kein völliges Desaster gewesen, wenn es bedeutete, dass sie es geschafft hatte, diesem schwierigen und problembehafteten Kind näherzukommen.

„Versuche jetzt zu schlafen. Ich bin mir sicher, dass morgen früh alles besser aussieht.“

„Ich hoffe es. Gute Nacht, Cassie.“

Cassie schloss die Türe hinter sich, schniefte heftig und wischte sich dann die Nase am Ärmel ab. Sie war überanstrengt und merkte jetzt, wie die Gefühle sie übermannten. Sie eilte den Gang entlang, nahm sich ihren Schlafanzug und begab sich dann zur Dusche.

Als sie unter dem dampfenden Wasserstrahl stand, erlaubte sie sich endlich, die Tränen fließen zu lassen.

* * *

Obwohl das heiße Wasser ihre Emotionen beruhigt hatte, bemerkte Cassie bald, dass ihre Haut erneut in Flammen aufgegangen war. Die Nesselstiche begannen, unerträglich zu jucken. Sie rieb sich hart mit dem Handtuch ab, um dem Jucken Herr zu werden, sorgte aber dadurch lediglich dafür, dass der Ausschlag sich ausbreitete.

Endlich im Bett, fühlte sie sich so unwohl, dass sie nicht einschlafen konnte. Ihr Gesicht und ihre Arme klopften und brannten. Kratzen brachte nur temporäre Besserung und verschlimmerte den Schmerz langfristig sogar.

Nach einer gefühlten Ewigkeit, in der sie ohne Erfolg versucht hatte, zu schlafen, gab sich Cassie schließlich geschlagen. Sie brauchte etwas, um ihre Haut zu beruhigen. Das Schränkchen im Duschraum hatte nur einige essentielle Dinge enthalten, aber im Badezimmer hinter Ellas Schlafzimmer hatte sie einen größeren Medizinschrank gesehen. Vielleicht fand sie dort etwas zur Linderung.

Sie lief leise zum Badezimmer, öffnete den Holzschrank und war erleichtert, zu sehen, dass er mit Tuben und Fläschchen gefüllt war. Es musste etwas für Ausschläge geben. Sie las die Labels und kämpfte mit den komplizierten Fremdworten – sie war nervös, mit der falschen Arznei ihre Symptome nur noch zu verschlimmern.

Galmei Lotion. Sie erkannte die Farbe und den Geruch, obwohl das Label anders aussah. Das würde ihre Haut beruhigen.

Sie schüttete sich etwas Flüssigkeit in die offene Hand und rieb sich großzügig damit ein. Sofort spürte sie die kühlende Erleichterung. Sie stellte die Flasche zurück und schloss den Schrank.

Als sie sich umdrehte, um zu ihrem Zimmer zurückzugehen, hörte sie ein Geräusch und blieb stehen.

Ein derber Schrei, dann ein dumpfes Rufen.

Das musste Marc sein. Er war aus dem Bett gestiegen und stiftete in Ellas Zimmer Unruhe.

Sie eilte den Gang entlang, realisierte aber nach nur wenigen Schritten, dass diese Seite des Hauses ruhig war. Die Kinder schliefen.

Da hörte sie es erneut – ein Krachen, ein Stoßen und ein weiterer Schrei.

Cassie erstarrte. Brach jemand in das Haus ein? Ihr Kopf arbeitete auf Hochtouren, als sie an all die Schätze dachte, die sich hier befanden. Zuhause in den USA hätte sie sich in einem Zimmer eingeschlossen und die Polizei gerufen. Aber es gab kein Telefonnetz. Sie musste Pierre alarmieren, die Geräusche schienen sowieso aus dessen Richtung zu kommen.

Mit einer Waffe würde sie sich mutiger fühlen. Sie betrachtete ihr Zimmer. Vielleicht konnte sie den eisernen Schürhaken, der neben dem Kamin stand, verwenden. Es war nicht viel, aber besser als nichts.

Mit dem Schürhaken fest in der Hand lief Cassie auf Zehenspitzen den Gang entlang. Sie ging um die Ecke und stand schließlich vor einer geschlossenen Holztür.

Das musste das Elternschlafzimmer sein – und die Geräusche kamen aus dem Inneren.

Cassie lehnte den Schürhaken gegen die Wand, sodass er leicht zu erreichen war, wenn sie ihn brauchte. Dann beugte sie sich nach vorne und schielte durch das Schlüsselloch.

Das Licht war an. Ihr Blickfeld war eingeschränkt, aber sie konnte eine Person sehen – nein, zwei. Da war Pierre. Sein dunkles Haar glänzte im Licht. Aber was tat er mit seinen Händen? Er hatte sie um etwas gelegt, das er gewaltsam schüttelte. Ein weiterer klagender, würgender Schrei ertönte und sie atmete scharf ein, als ihr klar wurde, dass er den Hals einer Frau umklammert hielt.

Cassies Herz klopfte, als sie die Szene übersetzte, die sie durch das kleine Loch in der Tür beobachten konnte: Pierre war dabei, Margot umzubringen.

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