Читать книгу: «Kein Vater, kein Land», страница 2

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War das Wasser der Sydow im Sommer zu warm und veralgte, lag das an der Tiermehlfabrik auf der anderen Seite der Sydow, in der sie Tiere zu Teer verarbeiteten. War die Luft im Winter zu warm und das Eis schmolz, lag das an den Kraftwerken hinter der Grenze, die noch immer mit Braunkohle befeuert wurden. Es gab immer einen Grund. Es gibt immer einen Grund, hatte der Vater gesagt. Wir sehen ihn oftmals nur nicht.

Der Ofen erkaltete in der Nacht, sie schliefen mit Handschuhen, zugezogenen Jacken und übergestülpten Kapuzen. Am Morgen ging Lee hinaus, schleifte einige Bohlen herbei, die unter dem Vordach des Forsthauses schneegeschützt auf dem Waldboden lagen, entfernte die gröbsten Nägel und Eisenklammern und spaltete die Bohlen dann auf dem Klotz. Er hackte ein paar Birkenscheite klein, trug sie in den Wagen, schälte die weiße Rinde herunter, gab Späne und Scheite hinzu, doch so gut die Rinde auch brannte, der Ofen zog nicht. Das Morgenlicht hatte das Rohr angewärmt, während der Ofen kalt blieb; Lee knüllte einen Bogen Zeitungspapier zusammen, zündete ihn an und hielt das Papier in den Brennraum, bis es durch das Rohr nach oben gesogen wurde, endlich hatte er Zug.

Das Anzünden der Späne überließ er dem Kind.

Er lobte es.

Dann brachte er dem Kind geschmolzenen Schnee in einer Blechkanne und zog es aus. Das Kind umklammerte seinen schlotternden Körper, seine kleinen Lippen bebten.

– Mach schnell, Papa.

– Nein, wir machen das gründlich.

– Mir ist aber kalt.

Er klatschte mit der baren Hand Wasser auf den kleinen Leib, das Kind zuckte zusammen, schrie aber nicht. Er verrieb das Wasser unter den Achseln des Kindes, wo sich schwarzer Dreck abgesetzt hatte, er säuberte die kleinen Buchten zwischen den Zehen.

– Kann ich mich wieder anziehen?

– Gleich.

– Gleich, in hundert Minuten, oder gleich, übermorgen?

– Zwanzig Sekunden, sagte er.

– Wie viel ist das?

– Bis jetzt. Zieh dich an.

Vielleicht hatte Marjuscha recht gehabt, und das Kind war zu klein. Er wusste es nicht. Vielleicht war es das Land, das zu groß war. Das Kind ängstigte sich vor Rehen, und Lee ängstigte sich vor dem Kind. Lee wollte ihm verbieten, sich zu ängstigen, ihm die Angst austreiben, es schütteln, bis es groß genug wäre, sich nicht mehr zu ängstigen, es erwachsenschütteln, es freischütteln. Das Kind zog sich an und kuschelte sich vor den glühenden Ofen.

– Hab keine Angst, sagte Lee.

– Warum? Ist es gefährlich, hier?

Sie frühstückten Würstchen und feucht gewordenes Toastbrot. Sie sprachen nicht, während sie aßen. Sie sahen einander nicht an.

Der Wind kam beständig aus Osten, hatte sich aber um einige Grad erwärmt, ließ die vereisten Äste der Kiefern weniger starr erscheinen, wenn es auch noch nicht taute. Zwei Zapfen, die vom Wagendach herabwuchsen, rahmten das Fenster wie Walrosszähne, der Wind trug einen stechenden Hausbrandgeruch von der Grenze herüber, Braunkohle, Plastik; was immer Lee draußen abstellte, den Plastikeimer voll Wasser, eine Bierflasche, drohte bei den Minusgraden in zwei Hälften zu zerspringen.

– Was machen wir jetzt mit ihr?, fragte das Kind, nachdem es sich die letzten Krümel aus den Mundwinkeln gerieben hatte.

– Wir nehmen ihr die Haut runter.

– Damit die Seele in den Himmel kann?

– Ja, schau her.

– Warum hast du mich nicht mitgenommen? Du hast mir versprochen, dass du mich nicht mehr allein lässt.

– Ich war keine Stunde weg.

– Das ist lang, eine Stunde, wenn man nicht schläft.

– Du hast geschlafen.

– Nicht eine Minute.

– Das sagst du jede Nacht. Und nun schau her. Oder willst du nicht wissen, wie’s geht?

Lee war unsicher, ob er das Reh vor dem Zerlegen auftauen sollte, oder ob er es besser gefroren zerhackte. Im gefrorenen Zustand wären die Körperteile sauber zu trennen, würden dann aber beim Auftauen umso stärker wässern und bluten. Schließlich entschied er sich dafür, das Tier aufzutauen, er holte die Wanne in den Wagen.

Bald lag ein kalter Geruch in der Luft, buttrig, metallen. In der roten Plastikwanne hatte sich Flusswasser gesammelt, das aus dem Fell ausgetreten war. Die Läufe und der Schädel hingen nun, biegsam geworden, über dem Wannenrand. Lee kniete sich vor das Tier und berührte es am Hals, strich ihm über das Fell.

– Werd dir mal’n bisschen die Haut runternehmen, sagte er.

– Sie ist tot, sagte das Kind.

– Ja.

– Warum sprichst du mit ihr?

– Kann sein, sie hört uns noch.

– Man kann hören, wenn man tot ist? Woher weißt du das? Warst du schon mal tot?

– Nein, noch nicht.

Sein erstes Reh hatte Lee zerlegt, als er dreizehn geworden war. Der Vater hatte seine Handgriffe angeleitet, die Mutter hatte da schon im Obergeschoss auf der Couch gelegen und den ganzen Tag an die Decke gestarrt.

Er nahm das Messer vom Boden, mit dem er zuvor einige Späne von den Scheiten geschnitzt hatte, rieb es an seiner Hose blank, wollte die Liege als Unterlage raustragen, doch es fiel neuer Schnee.

– Sie will scheints im Wagen zerlegt werden, sagte er zu dem Kind.

– Sie ist tot. Ich glaub, sie will gar nichts.

Lee hob das Reh aus der Wanne, bettete es rücklings auf das geriffelte Bodenblech und brach es auf, indem er das Messer zum Brustbein führte. Er trennte das Geschlecht ab und weitete die Bauchhöhle, entfernte das halbgefrorene Herz, die Lungen und das Zwerchfell und das Gekröse. Organe und Geschlecht warf er in die Plastikwanne, hängte die Hinterläufe des aufgebrochenen Rehs an das Ofenrohr, bis der Kadaver frei vor Lee in der Luft hing, die Bauchseite ihm zugewandt.

– Alles in Ordnung?, fragte er das Kind.

– Ich denk mal, schon.

– Gruselst dich nich’?

– Gruseln würd ich nicht sagen.

– Sie tut dir leid.

– Sie tut mir nicht leid. Ich denke, du hast alles richtig gemacht.

Lee durchtrennte die Sehnen unter dem Kiefer, löste das Bindegewebe, drehte den Kopf scharf zur Seite, das Genick war bereits beim Bergen aus dem Fluss gebrochen. Mit einem letzten Schnitt hinter den Lauschern nahm er den Kopf vom Leib. Er griff an den Hinterläufen unter die Haut und trennte sie vom Knochen, setzte beidseitig an den Sehnen des Gelenks einen Schnitt, umrundete den Knorpel mit dem Messer und brach die Gelenke auseinander.

– Oweia, sagte das Kind.

– Was ist?

– Es hat geknackt.

– Hat es? Hab ich gar nicht gehört.

– Doch, hat es. Nicht ganz laut, eher so mittellaut. Hast du’s wirklich nicht gehört?

– Nein.

– Verrückt. Dass ich was höre, was du nicht hörst. Vielleicht seh ich auch was, was du nicht siehst?

– Und das ist rot?

– Nein, ich mein, vielleicht siehst du was andres als ich. Vielleicht ist bei dir alles rot, was bei mir gelb ist. Oder grün?

Er wollte das Kind in die Arme schließen, doch seine Hände, seine Ellen waren zu blutig. Er warf die Hufe zum Rest in die Wanne, schnitt rechts und links in die Ellenbogen und bog die Hufe der Vorderläufe nach hinten, legte sie ab, dann schabte er das Bauchfell vom Fleisch. Er fuhr mit der Klinge zwischen Muskeln und Haut, durchtrennte mit kurzen Schnitten das Gewebe, stülpte die Haut mit halber Kraft über den Hals und über die Vorderläufe nach unten.

Als er die Haut in der Hand hielt, nickte er dem Kind zu, das Kind öffnete für die Seele das Fenster.

– Warum ist ihre Zunge blau?, fragte das Kind.

– Opa sagt, es liegt an Lunewin.

– Was ist mit Lunewin?

– Unten am Fluss.

– Ja, schon. Aber was ist damit?

Lee spaltete das Rückgrat des Rehs in der Mitte, teilte es in zwei Stücke, löste das Schulterfleisch vom Blatt, halbierte das übrig gebliebene Hinterstück, wobei er den After herausschnitt. Er trennte das Bauchfleisch vom Rücken und durchkniff mit einer Zange die Rippen, entnahm die Filets, löste das Fleisch, führte die Klinge möglichst nah am Knochen, schnitt grobe Steaks aus den Keulen.

– Und? Hast du zugeschaut?

– Einmal hab ich die Augen zugemacht.

– Als es geknackt hat?

– Nein, als du mich in den Arm nehmen wolltest. Du warst voller Blut.

Er stand auf und wischte sich die Hände an der Hose ab, dann nahm er das Kind auf, das den Kopf auf seiner Schulter ablegte. Ein Reh, das krank war, ließ man nicht in der Sydow zurück. Man befreite es und zog ihm die Haut ab und öffnete seiner Seele das Fenster.

So einfach war das.

Als das Kind den Kopf wieder hob, war Lees Parka an der Stelle, wo das Auge des Kindes gelegen hatte, dunkel verfärbt.

In manchen Sommern hatte die Krankheit schlimmer gewütet als in anderen, dann hatte der Vater bis zu einem halben Dutzend Tiere an einem Tag erschossen. Fieber. Schaumiger Speichelfluss. Schwärende Flanken. Ödeme an Lippen und Augenlidern. Blaufärbung der Zunge. Die Symptome passten zu keinem bekannten Krankheitsbild. Die Jagdstrecke der toten Rehe, Marder und Füchse, die im Schatten der Waldlichtung auf den Aufbruch ihrer Kadaver warteten, hatte Lee auf eine Art nervös gemacht, die er zuvor nicht gekannt hatte. Die hilflose Willfährigkeit der toten Glieder, der kalte Geruch. Er hatte die Tiere eines nach dem anderen in die Küche getragen, wo der Vater das Messer wetzte und sagte, am Ende sei es besser so für das Tier.

– Was ist mit Lunewin, unten am Fluss?, wollte das Kind noch immer wissen.

– Dort bringen sie die Tiere hin, die tot sind. In eine große Fabrik. Sie machen Mehl aus ihnen, das Mehl kommt in den Teer. Und was flüssig ist, leiten sie in den Fluss.

– Rehe trinken doch gar nicht aus dem Fluss.

– Rehe nicht, aber Fische.

– Rehe fressen keine Fische.

– Biber tun es.

– Rehe fressen auch keine Biber.

– Nein, aber im Kot der Biber wächst Bockshorn, und den fressen die Rehe, sagte Lee.

Es hängt alles mit allem zusammen, hatte der Vater immer gesagt. Nun war der Vater aus dem Forst verschwunden, nachdem etwas vorgefallen war im Ort. Janusch war tot, Wachters Gaul. Lee nahm den Blick von dem sauberen Gemetzel in der Wanne, stand auf und atmete flach, etwas drückte ihm auf die Lungen. Er zog den Parka an, klemmte sich die Haut des Rehs unter den rechten Arm und ließ das zerlegte Tier unter dem Ofenrohr zurück.

– Wohin gehst du?, fragte das Kind

– Zu Wachter.

– Der Mann von gestern? Aber warum? Er ist böse. Geh nicht zu ihm.

– Ist besser, wenn du hier wartest.

– Lass mich nicht allein.

Das Kind streckte ihm seine Arme entgegen, er nahm es auf. Er drückte seine Wange an die des Kindes. Das Kind beschwerte sich, dass er kratze. Es roch süß und jung und nach Milch.

– Als wir noch zuhause waren, begann das Kind.

– Ja? Er mochte es nicht, wenn das Kind von Marjuschas Wohnung als seinem Zuhause sprach.

– Ich meine, als Mama schon vorgegangen war.

– Vorgegangen? Wohin?

– Na, zu Opa, denk ich?

– Was war da?

– Warum durft ich dann auf einmal auf dem Boden essen? In der Küche?

– In der Küche? Du hast nicht auf dem Boden gegessen.

– Ich hab auf dem Boden gegessen.

– Hast du nicht.

– Du hast es nicht mitgekriegt. Du hast geweint. Ich hab die Krümel dann unter den Tisch gefegt.

– Du hast nicht auf dem Boden gegessen. Niemals. Da war’n keine Krümel.

– Da war’n welche.

– Nein. Und jetzt, bis gleich.

Lee hätte der Braunkohlefahne blind folgen können, um zu Wachter zu finden. Wachter verbrannte die Briketts nicht, er verschmorte sie. Die Wände seines Bungalows trockneten nicht, und sobald die Temperatur im Innenraum über fünfzehn Grad stieg, nannte es Wachter behaglich.

Die Doggen jaulten bei jedem Schritt, den Lee sich näherte, lauter. Sie sprangen durcheinander, warfen sich mit Kraft gegen das Gatter des Zwingers, glitten zu Boden, bellten, nahmen Anlauf, sprangen erneut.

Wachter stand auf seiner windigen Veranda und rauchte eine neue Zigarette an der alten an.

– Kannste nich’ mal die Doggen –?

– Was kann ich die Doggen nich’ mal?

– Ich versteh kein Wort, Wachter.

– Rauslassen kann ich se, falls de das meinst? Vielleicht mögen se dich ja? Wenn nich’, dann gnade dir Gott.

Er pfiff durch die Finger.

Prompt war es still.

– Kommste jetzt täglich zum Plaudern?

– Ich hab dir was mitgebracht, sagte Lee.

– Kummer und Sorgen, ich weiß.

– Ich hab ne Haut für dich.

– Das schmuddelige Zeug is’ ne Haut?

– Von ner Ricke. Hat in der Sydow gelegen.

– Ach, dafür der Kahn.

– Ich dachte, ne Haut kannste immer gebrauchen.

– Weißte was? Ich will nix mehr hören davon. Häute, Rehe, das ganze Zeug. Wird mir nur übel von. Wär nich’ schlecht, wenn de einfach wieder verschwindest.

– Dann nehm ich die Haut wieder mit?

– Warte. Ne Haut würd ich unter Umständen schon nehmen. Was willste dafür?

– Nichts. Ist ein Friedensangebot.

– Sind wir im Krieg?

– Hättest nichts dagegen gehabt, wenn ich in der Stadt geblieben wär, nehm ich mal an.

– Nee, hätt ich nicht. Habt ihr euch getrennt?

– Ich brauchte nur frische Luft. Verstehste? Luft, die man atmen kann.

– Hab nie geglaubt, dass das was wird mit euch. So eine kannste nicht halten, Junge. Du nicht. Gibt immer einen, der nen besseren Anzug trägt.

– Soll ich die Haut jetzt dalassen, oder nicht?

– Ach, häng se mal da unter den Unterstand. Zu Janusch, in den Koben.

– Was ist passiert, mit Janusch?

– Das fragt der Richtige.

– Wachter, ich hab keine Ahnung davon.

– Du nicht, aber dein Vater könnt schon was wissen, wenn de mich fragst.

– Seit wann ist er fort?

– Seit nem halben Jahr. Seit Janusch nicht mehr ist. Was das heißt, überlass ich deiner schmutzigen Fantasie. Geilste dich auf an den Zeichnungen? Sind die von dir oder von ihm?

– Von mir sind se jedenfalls nicht.

– Sag ich ja. Er war nich’ der, für den du ihn hältst.

– Hör auf, Wachter. Er hat keiner Spinne was zuleide getan.

– Ner Spinne nicht, nee, da haste recht.

Das Kind drückte seine Stupsnase am Fenster des Bauwagens platt. Lee sah das Gesicht von Weitem im fahlen Nachmittagslicht. Das Kind winkte hektisch, sobald es ihn erkannte. Die Heftigkeit versetzte Lee einen Stich.

– Ich hab die ganze Zeit Schritte gehört. Und Stimmen, im Wald!

– Meine Schritte. Meine Stimme. Wachter wohnt kaum dreihundert Meter von hier. Beruhige dich.

– Ist das ungefähr ein Kilometer?

– Nicht mal ein halber. Ich bin bei dir. Beruhige dich.

Das Kind atmete heftig und klammerte sich an Lees Schienbein, setzte sich auf Lees Fuß. Wenn er einen Schritt machte, zum Ofen, zur Liege, zum Fenster, ließ sich das Kind mitschleifen. Er nahm es hoch und setzte es auf der Bettkante ab.

– Geh ich morgen wieder nicht in den Kindergarten?

– Nein, morgen bleibst du zuhause.

– Ist das jetzt unser Zuhause?

– Jetzt, ja.

– Und dann?

– Ab jetzt ist Zuhause, wo ich bin.

Auf dem Vorplatz, zwischen Bauwagen und Forsthaus, entzündete Lee ein Lagerfeuer aus Ästen und Bauholz. Der Ostwind half, es zügig zu entfachen. Etwas abseits vom Feuer grub er einen Trichter in den Schnee, klopfte die Ränder mit dem Spaten fest und entnahm der Plastikwanne den Schädel des Rehs. Er schnitt das verbliebene Ohr ab und stellte den Schädel auf den Trichterboden, bedeckte mit der Ohrmuschel einen hässlichen Blutfleck im Schnee. Aus den Hufen bildete Lee eine Raute, gab die Innereien hinzu und zuletzt das Geschlecht.

– Warum tust du das?, fragte das Kind.

– Wir bieten sie den Wildtieren an.

– Damit sie auch was zu essen kriegen?

– Sie hat gelebt. Was einmal gelebt hat, wirft man nicht einfach weg.

– Auch, wenn es tot ist?

– Auch dann.

Vor dem Bauwagen grub Lee ein zweites Loch, fast eine Elle tief. Er kleidete die Kammer mit Schnee aus, gab die Lenden, den Kamm, die Blätter und den Rücken des Rehs hinein und deckte sie mit einer Schicht Eis ab. Dann trug er die Plastikwanne, in der nur noch das zerkleinerte Suppenfleisch und einige vorgeschnittene Koteletts in blutigem Flusswasser lagen, zur Feuerstelle.

Die Holzscheite waren inzwischen durchgeglüht. Lee richtete die Backsteine, auf denen der Vater ihren Anteil des Fleischs gebraten hatte, gab Schnee in einen Teflontopf und stellte ihn auf den heißen Steinen ab. Der Schnee schmolz, das Teflon warf hässliche Blasen, Lee gab das Suppenfleisch ins Wasser und legte die vier Koteletts auf den Steinen zum Garen aus.

Während das Wasser kochte und die Koteletts zu zischen begannen, nahm er das Handy aus seiner Parkatasche.

Neun neue Nachrichten, die er nicht abhörte.

Gefahr durch Handystrahlung überschätzt.

Kein einziger schwarzer Kandidat ins Rennen um die Oscars geschickt.

Am übernächsten Tag stiegen die Temperaturen angeblich über Null.

Ein verbrannter Fleischgeruch stieg von den Rehkoteletts auf, Lee wendete sie, die Unterseite war schwarz, herb, verdorben. Er nahm das Fleisch von den Brandsteinen und legte es auf einem Findling außerhalb der Feuerstelle ab.

– Du hast es verkohlt, sagte das Kind.

– Man kann’s essen, wenn man Hunger hat.

– Ich glaub, dann hab ich keinen Hunger.

– Hilf mir, es einzuwickeln. Wir nehmen es mit. Hier, nimm eine von den Plastiktüten.

– Wir nehmen es mit? Heißt das, wir geh’n bald los?

– Ja, übermorgen.

– Weiß Mama, dass wir kommen?

– Sie freut sich auf uns.

Gemeinsam löschten sie die Glut und gingen mit dem verkohlten Fleisch in den Wagen. Lee nahm die blecherne Visitenkartenschatulle aus der Brusttasche seines Parkas und zählte sein Bargeld. Zweihundertachtzig Euro. Zwanzig schon weg für Milch und Brot von der Tankstelle. Er zögerte. Die Zeichnung da unten, links, neben der Liege? War die nicht neu? Eine verknappt gezeichnete Stute, sanft ansteigender Widerrist, volle Rundung der Kruppe, dahinter ein auf zwei Läufen stehender Hengst. Im Hintergrund zwei kleine Fohlen. Lee strich mit dem Finger darüber, als könne er so prüfen, ob die Farbe noch frisch war.

– Meinst du, sie ist noch böse auf mich?

– Nein. Es war besser so für sie. Glaub mir. Außerdem war ich es, der geschossen hat. Du kannst ganz beruhigt sein.

– Ich mein nicht die Ricke.

– Wen dann? Wer sollte böse auf dich sein?

– Mama.

– Mama? Aber warum?

– Wegen der Nacht, bevor sie gegangen ist. Wir haben gestritten.

– Ich glaub nicht, dass sie sich noch daran erinnert.

– Sie hat mir ein Überraschungsei geschenkt, mit einem Happy Hippo drin. Und sie hatte noch ein Ei in der Hand, das wollte sie mir geben, wenn ich von Julian zurück komm. Aber ich wollte es gleich, falls noch ein Happy Hippo drin ist, damit ich Julian eins schenken kann. Ich wollte, dass wir jeder eins haben.

– Aber sie hat dir das zweite Happy Hippo nicht gegeben?

– Nein. Und dann hab ich sie in den Bauch geboxt.

– Du hast sie geboxt?

– Und dann ist sie gegangen, und am nächsten Morgen ist sie nicht wiedergekommen, sondern zu Opa.

– Sie ist nicht mehr böse, glaub mir.

– Sicher?

– Du kannst ganz beruhigt sein. Und nun versuch, ein wenig zu schlafen. Wir werden alle Kräfte brauchen, wenn wir aufbrechen.

Das Kind krabbelte auf seinen Schoß, umschlang Lees Rumpf, die Arme zu kurz, als dass sich die Hände hinter Lees Rücken berührt hätten, das Kind drückte immer fester zu.

– Du tust mir weh, sagte er. Und lachte.

– Das ist, weil ich dich so lieb hab.

– So lieb hast du mich?

– Ja, so lieb. Schau!

Das Kind drückte noch einmal fester zu. Dann ließ es von ihm ab, senkte den Kopf in Lees Schoß. Er streichelte es, bis sich die kleine Stirn glättete, bis sich der Atem des Kindes beruhigte. Er erzählte dem Kind zum Einschlafen eine Fantasiegeschichte, wie es die Mutter des Kindes immer getan hatte. Die Geschichte eines Hirschkäfers, der zu einem Baum wurde. Sein Panzer, sein Kopf, seine Beine, alles verholzte. Erst weinte der Hirschkäfer, weil er nicht mehr fliegen konnte, doch dann war er stolz, wie groß und wie stark er geworden war. Lee erzählte ausführlich, schmückte jedes Detail aus; doch dann fiel ihm nichts mehr ein.

– Es hat nicht geklappt, sagte das Kind.

– Was meinst du?

– Ich hab die ganze Zeit an Mama gedacht.

Auch Lee schlief nicht. Dass sein Vater schon ein halbes Jahr fort war, würde die Suche erschweren. Er konnte in einem benachbarten Weiler oder schon kurz vor Ostende, an der Mündung der Sydow, sein. Lee wusste es nicht. Er nahm an, dass sein Vater dem Damm der alten Sydower Bahn nach Osten gefolgt war, ins Luch. Es gab dort eine alte Schnitterkaserne, von der ihm sein Vater erzählt hatte. Lee würde ihm auf die Spur kommen. Der Vater hatte ihn das Lesen von Spuren gelehrt. Lee sah auf den dunklen Vorplatz hinaus, er hörte nagende Geräusche. Ein Scharren, ein Graben von Krallen, gefolgt von Beute verteidigendem Fauchen. Die ersten Wildtiere hatten die Überreste des Rehs entdeckt.

Die Frau hatte ihn gefragt, ob er zurechtkäme. Sie hatte ihre Nummer dagelassen. Sie hatte das Bad sehen wollen. Seltsamerweise nur das Bad. Sie hatte Häkchen auf einem Papier gesetzt. Und gerade in dem Moment, als Lee das Klemmbrett etwas altmodisch erschien, hatte sie die Daten mit ihrem Handy eingescannt.

Das Kind kauerte während ihres gesamten Besuchs in der Ecke im Flur.

– Es ist nicht immer so, sagte Lee.

– Wie ist es sonst?

– Ich weiß nicht. Es spricht. Es singt.

– Auch jetzt noch? Ich meine, noch immer?

– Davon reden wir nicht. Es ist fünf.

– Was sagen Sie ihm?

– Es hat einen Freund, mit dem es spricht. Julian.

– Julians Eltern wissen Bescheid?

– Ich kann Ihnen sagen, wie’s läuft. Sobald Sie die Tür hinter sich zumachen, springt es wieder und lacht.

– Ich weiß. Es sind kleine Teufel.

– Nein. Es ist kein kleiner Teufel. Es wär nur besser, wenn Sie jetzt gehen.

Die Frau hatte ihm die Adresse von einer Einrichtung gegeben, er kannte die Straße, sie war vierspurig und lag am anderen Ende der Stadt.

Niemals würde er das Kind einer vierspurigen Straße aussetzen, dem Lärm, dem Gestank.

Kaum hatte er sich in Marjuschas Wohnung schlafen gelegt, das Kind aus dem kleinen Bettchen zu sich auf die Matratze gehoben, klingelte das Telefon. Die Frau hatte gefragt, wann er das Kind wieder in die Tagesstätte schickte. Am Morgen meldete sich das Gesundheitsamt. Eine Vorsorgeuntersuchung war nicht als erfolgt gemeldet worden. Sie würden das Jugendamt informieren müssen. Irgendwann hatte er nicht mehr abgenommen.

Aber er hatte Marjuschas Spülmaschine stets ausgeräumt. Und wenn eines der Gläser nach dem Spülgang noch voller Spülwasser war, hatte er es trockengerieben, bevor er das Glas verkehrt herum in Marjuschas Einbauschrank stellte. Er hatte stets einen Karton Milch für das Kind im Kühlschrank. Drei Komma fünf Prozent Fett, damit es gut wuchs. Er hatte das alles unter Kontrolle gehabt.

Am Abend fuhr Krystof mit dem Pick-up vor, durchpflügte den Schnee und den Waldboden, riss Äste der Kiefern mit, gab Gas und bremste, schlitterte in den Stand. Der Motorblock dampfte in der kalten Winterluft, die Scheinwerfer ließ Krystof eingeschaltet.

Lee nahm das Gewehr, legte es an, und zielte durch die beschlagene Scheibe.

Peng.

Peng.

Das Gewehr war noch gesichert.

Krystof riss die Autotür auf, Technobass hallte über den verschneiten Vorplatz. Er warf den Kopf in den Nacken, um sich die langen Haare aus dem Gesicht zu schütteln, warf die Tür ins Schloss, der Bass verstummte.

Krystof stapfte durch den Schnee, prüfte mit einem kurzen Handgriff, ob die Backsteine der Feuerstelle noch heiß waren, umrundete seinen Pick-up, zog die Sicherungsbolzen aus den Ösen, ließ sie an den kleinen Ketten herabbaumeln und klappte dann die Seitenteile nach unten, auf der Ladefläche lag ein totes Tier.

Lee legte das Gewehr ab.

Ein Hirsch, wenn ihn nicht alles täuschte, das Geweih bereits abgeworfen, früh für die Jahreszeit.

Krystof fasste das Tier an den Hinterläufen und zog es derb in den Schnee herab, dann ging er auf den Bauwagen zu, Lee öffnete ihm. Sofort roch er den Alkoholdunst, der Krystof jederzeit umgab.

– Dann stimmt es also, was Wachter gesagt hat? Ihr seid zurück?

– Ich. Ich bin zurück.

– Kleines Feuerchen gemacht? Spuren beseitigt?

– Was soll das? Warum kippste mir nen Stück Wild in den Hof?

– Gestern sagt Wachter, dass ihr zurück seid. Und was find ich heut auf dem Weg hierher? Keine fünfhundert Meter weiter im Forst? Schau genau hin!

– Krystof. Was soll das?

Krystof packte Lee am Unterarm und zog ihn aus dem Bauwagen, er riss ihn die beiden Stufen herunter und schubste ihn dann vor sich her, durch den Schnee, zu dem toten Hirsch.

Der Hirsch hatte Schaum vor dem Maul, die Augen lagen trüb in den Höhlen, der breite Kopf wirkte wie ausgetrocknet, wie eingefallen, die Haut lag welk am Schädel, alle vier Läufe waren gebrochen und unnatürlich zur Seite geknickt.

– Und?

– Was, und?

– Kennste das Vieh?

– Natürlich nicht. Ich mein, woher auch?

– Aus dem Forst, zum Beispiel. Was haste denn gemacht, heut Nacht?

– Geschlafen.

– Hat dich einer mit nem Kahn auf dem Fluss gesehen.

– Heut Nacht? Auf keinen Fall. Das war gestern.

– Was war gestern?

– Ich hab nen Reh aus dem Fluss befreit.

– Also, doch.

– Also, was?

– Geht das jetzt alles von vorne los? Die Tiefkühltruhen? Das Gemetzel? Die Felle?

– Ich hab’s befreit, Krystof. Es war krank. So krank, wie dein Hirsch hier.

– Du klingst schon wie dein Vater.

– Was habt ihr mit ihm gemacht?

– Er hat Wachters Gaul abgestochen, mitten am Tag. Kommt an, bricht auf die Koppel hinterm Bungalow, sticht dem Wachter den Gaul ab. Spielt sich auf wie Gott, faselt, der Gaul wär krank und dass es so besser für ihn ist. Dass er ihn erlösen will. Hat ihm Brandmale ins Fell gesetzt, was weiß ich.

– Ich hab ihn nicht mehr geseh’n, seit ich zu Marjuscha bin.

– Biste noch mit Marjuscha?

– Ja. Also nein.

– Ja oder nein?

– Nein.

– Dann werd ich sie mal besuchen.

– Vergiss es, Krystof. Und deinen Hirsch, nimm ihn wieder mit. Ich hab damit nichts zu tun.

– Ihn? Is’ ne Kuh.

– Sag ich ja, ich hab das Tier noch nie gesehen.

– Ach, Scheiße, Lee, was für ein verdammter Scheiß. Und jetzt pack mal an. Kannste das noch?

– Was kann ich noch?

– Anpacken.

– Weil ich in der Stadt war, meinste?

– Weil de weg warst, ja.

– Ich denk mal, das geht schon noch.

Sie hoben die Hirschkuh auf die Ladefläche zurück. Sie blieb nicht liegen wie ein sauber erlegtes Tier, sie hatte jede Spannkraft verloren, Schädel und Glieder schienen eher zu zerfließen, als zum Liegen zu kommen. Krystof klappte das seitliche Ladeteil nach oben, verschloss die Öse mit dem Bolzen und spreizte die Sicherungsfeder.

– Und, was machste jetzt mit ihr?, fragte Lee.

– Rüber nach Lunewin.

– Kannste nicht machen.

– In dem Zustand? Ich ess sie nich. Und das Fell is’ auch total hinüber.

– Dann lass sie lieber hier. Ich will nicht, dass sie zu Teer wird. Ich kümmer mich drum.

– Weißte was, Lee? Weißte, was ich glaub? Ich glaub, du bist noch viel, viel bekloppter als die hier alle denken, im Forst.

– Lass sie hier, Krystof. Was willste dafür?

– Ne zweite Chance, vielleicht?

– Vergiss es.

– Ich hoff mal, sie hat’s endlich kapiert?

– Marjuscha? Was soll sie kapiert haben?

– Dass sie die falsche Wahl getroffen hat.

Krystof setzte sich zwischen die zerdrückten Bierdosen auf die Fahrerbank, startete den Motor, die Technomusik sprang an, Schnee spritzte unter den vier Reifen hervor, Krystof riss das Lenkrad zur Seite, kurbelte und gab Gas, holperte über Schnee und Wurzeln und gekippte Kiefernstämme davon.

Lee blieb in einer beißenden Wolke aus Dieselabgasen auf der Lichtung zurück.

Nachts ging etwas zu Boden, Lee war augenblicklich wach. Das Kind war heruntergestürzt, robbte im Schlaf über das Bodenblech, Lee hob es auf die Liege zurück. Es schlief auf dem Rücken, streckte die Arme von sich wie eine kleine Gliederpuppe, unter den Lidern zuckten die Träume. Er berührte das Kind an den Wangen, die ihm deutlich zu kalt erschienen, die kleine Nase war Tag und Nacht nass und gerötet.

Er verharrte über das Kind gebeugt und beobachtete, wie es schlief. Er sah nichts von Marjuscha in dem Kind, nicht dieselbe Nase, nicht denselben Mund, er hielt das alles für Kitsch. Er bedauerte nicht, dass er keine Fotos von ihr auf dem Handy hatte, bei Facebook und Instagram nicht angemeldet war; die Mühe, die es ihn kostete, ihre Gesichtszüge aufzurufen, ihrer Gegenwart nachzuspüren, war er ihr schuldig.

Er lag im Halbschlaf. Er vermisste die Zeit, in der das Kind in ihr gewesen war. Das dünne Trägerhemdchen. Der pralle Bauch, der das Kind barg. Der flache Schoß, in den sie ihn aufnahm. Sein Drang, nackt mit ihr zu sein, sie nackt zu sehen, ihren Busen, ihren Mund, für ihn bereit; als es Tag wurde, blieb eine verstörend klare Erinnerung daran zurück.

Sein Vater hatte ihnen keine Privatsphäre zugestanden; er hatte es nicht ertragen, dass Lee im Forsthaus mit ihr schlief, auf seinem Grundstück, auch dann noch, als er achtzehn geworden war, dass er sich vereinte, womöglich ein Kind zeugte, seinerseits Vater wurde, den ganzen Zirkel am Laufen hielt, oder wie auch immer, was wusste Lee schon davon.

Draußen über den Kiefern kündigte sich ein weiterer blasser Tag an.

– Guten Morgen, sagte er zu dem Kind.

– Ich hab nicht geschlafen.

– Du hast geschlafen wie ein Stein.

Die Reihe riss nicht ab. Nach der kranken Ricke und der toten Hirschkuh lag am Morgen des dritten Tages eine Stute auf dem Deich.

Rund um das Tier war der Schnee geschmolzen, der Kadaver dampfte im trüben Morgenlicht. Der Fundort war mit rot-weißem Baustellenband gesichert, ein Streifenwagen stand mit geöffneter Beifahrertür am Deich, beleuchtete die Szenerie mit Scheinwerferlicht. Krystof kniete vor der Stute, tätschelte den Hals, den Widerrist, kämmte mit den Fingern die Mähne. Krystof. Ausgerechnet. Karlsson fotografierte, und eine Polizeischülerin, die Lee nicht kannte, machte Notizen. Beide steckten in einer Art Seuchenschutz, weißer Ganzkörperanzug, blaue Füßlinge, blauer Mundschutz, Krystof wirkte daneben, als habe er eine strenge Kleiderordnung nicht befolgt.

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Возрастное ограничение:
0+
Объем:
153 стр. 6 иллюстраций
ISBN:
9783966390422
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
18+
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