Ein fast perfekter Sommer in St. Agnes

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Ein fast perfekter Sommer in St. Agnes
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Bettina Reiter

Ein fast perfekter Sommer in St. Agnes

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorwort

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

Danksagung

Weitere Veröffentlichungen

Liste der Musiktitel

Liste der Filme, Serien …

Impressum neobooks

Vorwort

© Bettina Reiter

Lektorat: Edwin Sametz, Titelbildgestaltung: © Bettina Reiter

Titelbilder: Fotolia: © graphixchon/Fotolia.com, Pixabay: lillaby, mandjregan und Alexas_Fotos

Innenseite: Fotolia: © Hetizia/Fotolia.com, © Schlierner/Fotolia.com, © nuzza11/Fotolia.com, © Vasyl/Fotolia.com,

Pixabay: alex80, Silentvoice

Website der Autorin: http://www.bettinareiter.at

Alle Rechte liegen bei der Autorin.

Sämtliche Texte sowie das Cover sind urheberrechtlich geschützt.

Eine Nutzung in jeglicher Form (Fotokopie, Mikrofilm, Verbreitung, Textauszug, Vervielfältigung oder anderes)

ist ohne die schriftliche Genehmigung des Rechteinhabers/Urhebers nicht zulässig und daher strafbar!

Für meine Tochter

Glaub immer an Wunder,

aber vor allem glaube an dich selbst.

Special thanks to the Breakers Beach Café, the St. Agnes Hotel,

the St. Agnes Bakery and Ian Lewis Photography for the nice support.

Likewise for the pictures.


Zuerst habe ich mein Buch geschrieben und dann Kontakt zu Personen aufgenommen, die zu den realen Schauplätzen gehören.

Alle waren sehr hilfsbereit und haben mir sogar Bilder gesendet. Für mich war es etwas Besonderes, mit Menschen zu sprechen, die tatsächlich

in St. Agnes wohnen. Obwohl die Geschichte und die darin handelnden Personen fiktiv sind, wurde sie dadurch für mich um vieles persönlicher.

Liebe Grüße nach St. Agnes und es ist durchaus möglich, dass ein zweiter Teil kommt.

Ein Winter in St. Agnes“, mal sehen …

Mein Schauplatz: St. Agnes/Cornwall

Auf dem Bild zu sehen: Trevaunance Cove

© Ian Lewis Photography


Liebe Leserinnen und Leser,

wie lautet mein Rezept für einen unterhaltsamen Liebesroman? Man nehme eine Geschichte, würze sie mit Menschen unterschiedlicher Charaktere, hier eine Prise Humor, da eine Prise Ernsthaftigkeit und über alles streut man die ganz große Liebe.

Tja, so die Absicht und natürlich hoffe ich sehr, dass Ihnen die Reise nach St. Agnes gefallen wird. Ein wundervolles Küstendorf in Cornwall, das es mir sofort angetan hat. Bereits als ich den Namen las, wusste ich: das ist es! Als ich die Bilder sah, fühlte ich mich bestätigt. Manchmal ist das Bauchgefühl eben goldrichtig, denn St. Agnes ist für Annie wie geschaffen und umgekehrt.

Sie und die vielen anderen Menschen – die sich in meiner Geschichte tummeln – sind mir wirklich ans Herz gewachsen. Selbstredend, dass ich inzwischen zur Clique gehöre (sie werden sie bald kennenlernen) und es fiel mir schwer, St. Agnes wieder zu verlassen. Zwar sind die Menschen alle fiktiv (hier gilt: Alle handelnden Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig) und auch Bars, Restaurants usw. entstammen größtenteils meiner Fantasie – allerdings kommen auch reale Schauplätze in meinem Buch vor. Sollten Sie gern mehr darüber erfahren wollen, können Sie das auf meiner Homepage tun. Sozusagen eine kleine Reise durch mein Setting.

Und da ich dafür bekannt bin, dass ich mich gern verplaudere sobald es um meine Bücher geht (meine Freunde könnten ein Lied davon singen ;-), überlasse ich Sie nun meiner Geschichte und hoffe, dass mein Rezept auch für Sie die richtige Mischung hat. Von Herzen wünsche ich Ihnen ein paar schöne Lesestunden und entführe Sie jetzt nach St. Agnes in den Urlaub. Zumindest gedanklich. Viel Spaß mit Annie und Jack …herzlichst, Ihre Bettina Reiter.


Leben ist das, was passiert, während du fleißig dabei bist,

andere Pläne zu schmieden.

John Lennon


Ende Juli 1997, St. Agnes, Cornwall

„Was ist das für ein Stein, Grandpa?“, fragte Annie, die neben ihm am Werktisch stand. Wann immer sie konnte, besuchte sie ihn in seinem Geschäft am Fuße der Küstenstraße.

„Ein Mondstein.“ Er hielt ihn ins Sonnenlicht, das durch das dreieckige Fenster fiel. Der weiße Stein schimmerte bläulich, bei der nächsten Bewegung zeigten sich alle Farben des Regenbogens. Annie hatte noch nie einen schöneren Stein gesehen. „Wie der Name schon sagt“, hob ihr Großvater zu einer Erklärung an, „hat er eine tiefe Verbindung zum Mond und fördert unsere Intuition. Außerdem steht der Stein für Glück, hilft uns bei Ängsten und einem Neubeginn.“

„Intui… was?“, wiederholte Annie. Ein seltsames Wort.

„Wie soll ich das bloß einer Zehnjährigen erklären?“ Ihr einundsechzigjähriger Grandpa lachte und legte den Mondstein neben das Medaillon, an dem er gerade arbeitete. Seine Hände zitterten leicht. Er hatte schlohweißes Haar und tiefe Falten um die grünen Augen. Sein dicker Bauch streifte den Werktisch, er trug eine Brille mit Silberrand und war kleiner als jeder Mann, den Annie kannte. Dafür war sein Herz umso größer. „Nun ja“, fuhr er fort, „Intuition …“ Sein wettergegerbtes Gesicht erhellte sich. „Was sagen dir die Äpfel auf meinem Tisch?“ Er deutete zu dem geflochtenen Körbchen, das prallgefüllt war.

„Dass du heute einen davon essen wirst“, antwortete Annie wie aus der Pistole geschossen.

„Siehst du“, freute sich ihr Grandpa mit gutmütigem Lächeln, „du ahnst es. Das nennt man Intuition.“

„Du isst jeden Tag einen Apfel. Also weiß ich es ja.“

„Das war nur ein Beispiel.“ Er stupste sie an die Nase. Das tat er oft. „Eines Tages wirst du eine Wissenschaftlerin sein, so viel wie du hinterfragst.“ Herzlich lachte er auf. Annie schaute ein wenig ängstlich auf sein gelbes Gebiss, das ihm schon einige Male beim Lachen aus dem Mund gefallen war. Beim ersten Mal hatte sie laut aufgeschrien, so sehr war sie dabei erschrocken. Doch ihr Grandpa hatte ihr erklärt, was es damit auf sich hat. So, wie er ihr ständig alles erklärte. Er wusste einfach alles.

„Ich möchte keine Wissenschaftlerin werden, wenn ich groß bin“, stellte Annie klar. „Lieber will ich so sein wie du.“

„Das ehrt mich, mein Schatz.“ Er zog sie in seine Arme und drückte sie an sich. „Wenn du groß bist, solltest du jedoch so sein, wie du bist.“

„Kann ich wenigstens das machen, was du tust?“ Sie kuschelte sich an sein Flanellhemd mit dem Karomuster. Seit sie ihn kannte, trug er solche Hemden in allen Farben.

„Dem steht nichts im Weg. Es würde mich sogar unendlich stolz machen, wenn du mein Geschäft eines Tages übernehmen würdest.“ Plötzlich klang seine Stimme, als hätte er Schnupfen.

„Das mache ich, versprochen.“ Annie schaute zu ihm hoch. Seine Augen waren nass. Hatte sie etwas Falsches gesagt? Oder war er traurig, weil sie ihre Zwillingsschwester nicht in ihre Pläne einbezogen hatte? „Sandy und ich werden zu Cornwalls berühmtesten Schmuckmacherinnen, Grandpa“, versicherte sie sogleich.

 

„Schmuckdesignerinnen“, verbesserte er sie und blickte aus dem Fenster. Von hier aus hatte man einen weiten Blick auf die Bucht und die Klippen. „Sandy wird vermutlich eine Surfschule eröffnen. Es wäre nicht verwunderlich, wenn sie mit dem Brett irgendwann zusammenwachsen würde.“

Annie stellte sich das bildlich vor. „Geht das denn?“

Lachend küsste er sie auf die Stirn. „Das war nur eine Metapher.“ Auch das zeichnete ihren Grandpa aus. Er kannte Worte, die diese Welt mit Sicherheit noch nie gehört hatte. Annie sparte sich jedoch eine genaue Nachfrage, weil es sich wahnsinnig kompliziert anhörte. „Ich möchte dir gerne etwas zeigen, Annie. Ein Versteck, das nur deine Grandma kannte“, wurde er plötzlich ernst und ließ sie los. Sie trat einen Schritt zurück. Ihr Großvater erhob sich und schob den Sessel weg. Dann bückte er sich ächzend und beugte sich unter den Werktisch hinein. Annie setzte sich auf die Knie und schaute gespannt dabei zu, wie er ein loses Dielenbrett anhob. Eine kleine Holzkiste mit einem Herzschloss kam zum Vorschein, die er herausnahm und vor sie hinstellte. Andächtig blickte Annie darauf und war stolz, dass er dieses Geheimnis mit ihr teilte. Umso neugieriger war sie, was sich darin befand. Vielleicht ein Schatz?

Ihr Grandpa zog die Schublade neben sich auf, holte einen roten Schlüssel heraus und kurz darauf entfernte er das Schloss. Als er den Deckel des Kästchens öffnete, hielt Annie die Luft an – um sie gleich darauf förmlich aus sich heraus zu pusten.

„Da ist ja gar nichts drin“, stellte sie enttäuscht fest.

„Richtig. Trotzdem ist sie wertvoller als alles andere. Das gilt ebenso für das Herzschloss. Weißt du, beide Dinge haben eine große Bedeutung für mich.“ Sein Blick wurde abwesend, als wäre er auf einmal woanders. „Vor vielen Jahren besuchte ich einen Markt in Redruth. Auf einmal sah ich bei einem Stand etwas leuchten, das mich förmlich angezogen hat. Es war dieses Herzschloss.“ Mit seiner von Adern durchfurchten Hand glitt er vorsichtig darüber, als hätte er Angst, es kaputt zu machen. „Die Verkäuferin behauptete, dass das Herzschloss magische Kräfte hätte und ich kaufte es, obwohl ich nie an sowas geglaubt habe. Bis ich mich umdrehte und es mir aus der Hand fiel. Eine junge Frau mit blonden Zöpfen bückte sich, hob es auf und streckte es mir lächelnd entgegen. Es war deine Großmutter Olivia, in die ich mich sofort verliebte.“ Annie hörte diese Geschichte zum ersten Mal. Wie verzaubert saß sie da und dachte an Grimms Märchenbuch, aus dem ihr die Mutter manchmal vorlas. „Daraufhin schrieb ich deiner Grandma einige Briefe, die sie in diesem Kästchen aufbewahrte. Wie einen Schatz, den man hüten muss.“ Er wischte sich mit dem Hemdsärmel über die Augen. „Du hast sie nie kennengelernt, Annie. Das ist sehr schade. Deine Granny war eine wundervolle Frau, die mir die schönste Zeit meines Lebens geschenkt hat.“

Annie schaute auf die Kiste. „Wo sind die Briefe, Grandpa?“

Er seufzte. „Olivia wollte sie bei sich haben, als sie uns für immer ver…, ach, lassen wir das. Für solche Dinge bist du zu klein. Jedenfalls ist das Kästchen leer und wartet darauf, dass es erneut gefüllt wird. Vielleicht liegt irgendwann wieder ein Brief darin. Für dich und Sandy, der ich das Versteck natürlich ebenfalls zeigen werde.“

„Ein Brief?“ Mit großen Augen schaute Annie ihn an. „Nur für uns?“

„Ja, Kleines, nur für euch und bevor du fragst: Ich verrate dir nicht, warum, wieso, weshalb und überhaupt. Manches muss man erwarten können. Und falls es dich tröstet: Ich habe selbst keine Ahnung, was ich euch schreiben werde. Nur, dass ich es mache ist so sicher wie das Amen im Gebet.“ Stürmisch umarmte sie ihn, sodass er beinahe das Gleichgewicht verlor. Lachend drückte er sie an sich, bis sie schließlich das Kästchen versperrten und ins Versteck zurücklegten. Danach arbeitete ihr Grandpa wieder am Medaillon weiter.

Fasziniert schaute Annie ihm dabei zu, wie er den Stein in die erhabene Fassung einsetzte, die von Muschelornamenten umgeben war. Sie konnte sich kaum sattsehen. Nachdem er es neben den Brennofen gelegt hatte, kümmerte er sich um den Silberring für Minnie. Seine Skizze dazu hatte er Annie vor ein paar Tagen gezeigt. Die gefiel ihr eindeutig besser als das, was ihr Grandpa jetzt machte, denn Minnie hatte den gesamten Entwurf geändert. Nachdem sie das Geschäft verließ, hatte ihr Grandpa mit sich selbst geschimpft. Annie konnte ihn kaum verstehen. Nur Wortfetzen wie Nullachtfünfzehn und Der Kunde ist leider König. Jetzt bildete ein ovaler blauer Saphir den Mittelpunkt. Rundherum setzte er blätterförmig Zirkonia-Steine. Dabei schaute er ständig auf seine antike Armbanduhr mit dem beigen Gehäuse und dem braunen Lederband. Ob er sie gleich nach Hause schicken würde? Eigentlich hätte sie sich längst um ihre Hausaufgaben kümmern müssen, doch die konnten warten. Zur Not würde sie morgen vor der Schule von Lance abschreiben. Das taten sie und ihre beste Freundin Josie öfter.

„Sollen wir ein Eis essen gehen?“, erkundigte sich ihr Grandpa und betrachtete grimmig sein Werk. „Mit viel Schokolade? Das ist gut für die Nerven.“

„Au ja!“ Annie klatschte in die Hände und spazierte kurz danach mit ihrem Großvater entlang der Quay Road zum Breakers Beach Café hinunter. Die Trevaunance Bucht war gut besucht. Am Strand und im Wasser tummelten sich viele Touristen und Einheimische. Weiter draußen einige Surfer. Unter ihnen befand sich ihre Zwillingsschwester Sandy, die so viel mehr Mut hatte als Annie. Ihre Schwester kletterte auf die höchsten Bäume, während sie von unten dabei zusah und um Sandy bangte. Auch vom Karussellfahren vor einigen Tagen hatte ihre Zwillingsschwester nicht genug bekommen können. Annie hingegen hatte sich nach nur einer Fahrt vor allen Leuten übergeben. Roger aus der Nebenklasse machte sich seitdem ständig darüber lustig!

„Wie schön, unser Tisch ist frei“, meinte ihr Grandpa, als sie das Breakers betreten hatten und über die Stufen hinaufgingen. Meistens saßen sie am ersten Tisch gleich links mit dem großen Fenster. Von hier aus konnte man den Strand und das Meer sehen. Heute wirkte es türkisblau und ruhiger als sonst. Das würde Sandy weniger gefallen, die keine Ahnung hatte, was sie versäumte. Ein Eis war allemal besser, als von Wellen verfolgt zu werden und wie üblich ließ es sich Annie schmecken. Ihr Grandpa trank einen Cappuccino und starrte in sich vertieft aus dem Fenster. Wie so oft wirkte er bedrückt. Sicher vermisste er ihre Grandma. Das sagte zumindest Annies Mom häufig, die ihn ständig einlud. Zum Essen, zu Ausflügen oder Sonstigem. Er wohnte gleich neben ihnen, im kleinen Cottage, in dem ihre Mom und deren Bruder Jeremy aufwuchsen. Annies Dad war ihr unmittelbarer Nachbar und Spielkamerad gewesen, in den sich ihre Mom irgendwann verliebte. Nach der Hochzeit zog sie in dessen Elternhaus um.

Nachdem Annie aufgegessen hatte, bezahlte ihr Grandpa und sie verließen das Café. Die Sonne hämmerte regelrecht gegen die Mauern der Häuser, als sie wieder zum Geschäft hochgingen. Wie meistens am Nachmittag setzten sie sich auf die Bank, die er an den Stamm des Apfelbaumes gezimmert hatte, dessen Äste sich über die Fassade seines Ladens hochschlängelten. Ihr Grandpa hatte ihn selbst gepflanzt. Cornish Gilliflower, die Sorte mochte er am liebsten und verschenkte ständig welche, wenn Kunden in Randalls Silbermine kamen. In den vielen Vitrinen glänzte und funkelte es. Meistens fertigte er Silberschmuck an, weil er dieses Metall lieber mochte als Gold, obwohl er damit ebenfalls arbeitete. Je nachdem, was die Kunden wollten, zu denen viele Einheimische gehörten, die sich nicht selten nur bei ihm trafen, um einen Kaffee zu trinken. Ihr Grandpa war sehr beliebt in St. Agnes, doch niemand liebte ihn so sehr wie sie, davon war Annie überzeugt, als sie sich an ihn kuschelte. Lächelnd legte er seinen Arm um sie. In seiner Nähe fühlte sie sich, als könnte ihr nichts passieren. Hoffentlich lebte er ewig. So wie sein Schmuck.

„In einem Monat habt ihr Geburtstag“, erinnerte er sie unnötigerweise an das Ereignis des Jahres. Annie zählte bereits die Tage. Sandy und sie hatten die Einladungen schon vor zwei Wochen ausgeteilt. Die Mutter wollte wieder ihren legendären Kirschkuchen machen und nur beim Gedanken daran lief ihr das Wasser im Mund zusammen. „Ich bin gespannt, wie euch mein Geschenk gefällt.“.

„Was ist es denn?“ Annie blinzelte gegen die Sonne an und schaute zu ihm auf. Witzig. Sie spiegelte sich in seinen Brillengläsern. Ihr langes dunkelblondes Haar wehte im Wind und die Schmetterlingsärmel ihres geblümten Sommerkleides flatterten, als wären es tatsächlich Flügel.

„Das werdet ihr früh genug sehen.“ Er stupste mit dem Zeigefinger an ihre Nase. „Jetzt solltest du nach Hause gehen und Hausaufgaben machen, sonst schimpft mich deine Mom.“

„Muss das sein?“, maulte Annie.

„Keine Widerrede“, blieb er dabei, wenngleich mit nachgiebigem Ton. „Wir sehen uns ja abends zur Party.“ Plötzlich grinste er. „Ein wenig mehr Ehrgeiz würde dir wirklich nicht schaden. Schon komisch, wie unterschiedlich ihr Schwestern seid.“ Sandy war Klassenbeste und schien fürs Lernen geboren zu sein. Annie hingegen mühte sich mit schlechten Noten ab und zog ständig den Tadel von Mrs. Wilde auf sich. Die Lehrerin schien sich ohnehin auf sie eingeschossen zu haben. Bloß, weil sie ein bisschen fauler war als die anderen und Mathe hasste wie Minnies Weihnachtskekse, die nach Lakritze schmeckten. Noch dazu hatten sie Annie einen Milchzahn gekostet, so hart waren die. Seitdem machte sie um Minnies Stahlkekse einen großen Bogen. Bei den Hausaufgaben ging das leider nicht so einfach und nur eine halbe Stunde später brütete Annie am Esszimmertisch neben Sandy über unlösbare Rechnungen. Wer brauchte Divisionen? Neuerdings sogar teilbar durch zweistellige Zahlen. Dabei hatte sie erst vor kurzem das Teilen mit einer Zahl kapiert. Wenigstens war auf Sandy Verlass, von der sie abschreiben konnte, nachdem diese mit sämtlichen Erklärungsversuchen scheiterte. Sie war eben kein Genie wie ihre Schwester, trotzdem hingen sie aneinander wie Pech und Schwefel. Oft wusste die eine sofort, was die andere sagen wollte. Sogar in Gestik und Mimik waren sie eins. Nur ihre Gehirne schienen unterschiedlich zu arbeiten …

Nachdem sie endlich fertig waren, spielten sie mit ihren Barbies in Annies Zimmer. Durch das offene Fenster hörte man Meeresrauschen. Deswegen beschlossen sie, an den Strand zu gehen, um Muscheln zu sammeln. Ihre Mom war zu beschäftigt mit den Party-Vorbereitungen, um es ihr auf die Nase zu binden und ihr Dad noch nicht zuhause. Als Baumeister hatte er immer viel zu tun, was in Situationen wie diesen von Vorteil war. Er war ziemlich streng. Trotzdem redete er nicht stundenlang auf sie ein wie es ihre Mom tat, wenn sie etwas angestellt hatten, sondern begnügte sich mit ein paar knappen Worten – die es allerdings in sich hatten. Auf der anderen Seite tobte er oft mit ihnen herum, zeigte ihnen bei vielen Wanderungen ihre Heimat und erzählte ihnen gerne Spukgeschichten. Wenn sie danach nicht mehr einschlafen konnten, freute er sich wie einer der Jungs in der Schule, dem ein besonders guter Streich gelungen war.

„Oh, wie schön!“, rief Sandy aus und bückte sich nach einer weißen Jakobsmuschel, ohne Annies Hand loszulassen. Als sich ihre Schwester wieder aufrichtete, tat sie so, als würde sie wie eine feine Dame einen winzigen Fächer halten. „Es ist fürchterlich heiß, findet Ihr nicht auch, Prinzessin Annie?“ Ihr beider Lachen hallte über die Bucht, bis sie ihre Mutter entdeckten, die vor dem Cottage stand. Mit den Händen in die Hüften gestemmt und mit ihrem Dad neben sich. Ahnend, was das hieß, liefen sie schnurstracks nach Hause und erhielten den üblichen Vortrag von wegen, dass Eltern immer wissen müssten, wo ihre Kinder seien. Als wären sie Babys! Dementsprechend schlechtgelaunt legten sie danach die Muschel in eines der Gläser auf der Küchenfensterbank, wie im ganzen Haus ähnliche standen, die sie mit Sand, Muscheln und Seesternen gefüllt hatten.

Nur eine halbe Stunde später wurden sie von der Clique ihrer Eltern geherzt und geküsst. Dazu gehörten Minnie und ihr Mann Duncan. Harold mit seiner Frau Harriet sowie dessen zwölfjährigen Sohn Mason, der ihnen in einem unbeobachteten Moment die Zunge herausstreckte. Sofort zeigten Annie und Sandy ihm fast zeitgleich den Mittelfinger. Angeblich war das etwas ganz Schlimmes. Es musste stimmen, weil Mason sie empört anblickte. Ähnlich wie ihr Onkel Jeremy. Er war Pfarrer und wurde vor kurzem hierher versetzt. Auch ihr Großvater kam – der eine Flasche Wein dabei hatte – sowie Hermes mit seiner Frau Beth. Letzterer war der beste Freund ihres Vaters und sah aus wie der Weihnachtsmann. Heute jedoch wie ein braungebrannter, denn er und Beth waren gerade von ihrem Thailand-Urlaub zurückgekehrt.

 

Annie mochte diese Abende, weil sogar ihr Dad mehr sprach als sonst. Außerdem gab es jede Menge Süßigkeiten, bei denen sie allerdings schnell zugreifen mussten, weil Minnie ordentlich zulangte. Ihr Bauch war ähnlich groß wie der des Großvaters, der sich angeregt mit Harold unterhielt. Dessen Antiquitätenladen befand sich direkt neben Minnies Souvenirgeschäft am Town Hill.

Nachdem die Gäste versorgt waren, holte die Mutter ihr erstes selbstgemaltes Aquarell-Bild, um es mit gespanntem Blick zu präsentieren. Alle klatschten begeistert und überhäuften sie mit Komplimenten. Nur Annies Dad lächelte müde, während er an seiner Zigarette zog.

Die Mutter stellte ein wenig betrübt das Bild beiseite und machte sich am Plattenspieler zu schaffen. Als die ersten Töne erklangen, drehte sie sich erwartungsvoll zu ihm um und fuhr sich glättend über das gelbe ärmellose Kittelkleid, das sie oft trug. „Wie lange ist es jetzt her, Joseph? Drei, vier Jahre?“ Ein verträumter Ausdruck lag in ihrem Gesicht. Das war immer so, wenn sie sich die Lieder der Band Chicago anhörte. „Erinnerst du dich? Im Greek Theatre hat die Luft förmlich gebrannt. Es war ein wundervolles Konzert in Los Angeles.“ Vor einigen Jahren waren sie extra dorthin geflogen und hatten gleichzeitig ein paar Tage Urlaub gemacht. Seitdem hörte die Mutter ihre Lieblingslieder rauf und runter. Will you still love me – das gerade lief – und Hard to Say I`m sorry. Annie konnte die Texte inzwischen fehlerfrei mitsingen. Da sollte Mrs. Wilde noch einmal sagen, sie könne sich nichts merken! „Tanz mit mir, Joseph“, bat die Mutter und nahm seine Hände, um ihn zu sich hochzuziehen. Annies Dad schüttelte den Kopf und blieb hartnäckig sitzen. Enttäuscht ließ sie ihn los und setzte sich neben Minnie, die ihr aufmunternd zulächelte. Annies Mom zuckte die Schultern und wirkte nicht mehr so fröhlich wie zuvor. Um neun schickte sie Annie schließlich ins Bett. Sandy war bereits schlafen gegangen, weil sie über Bauchschmerzen geklagt hatte. Vermutlich zu viel Süßes, mutmaßten die Erwachsenen.

Kaum im Bett schlief Annie sofort ein, wurde aber irgendwann durch ein Geräusch munter. Es war fast stockfinster im Zimmer. Nur die Straßenlaternen des Dorfes waren schemenhaft durch die luftigen Vorhänge zu erkennen. Von unten erklang leises Murmeln. Da, schon wieder! Annie horchte angestrengt, bis ihr bewusst wurde, dass ihre Schwester im angrenzenden Zimmer weinte. Schnell sprang sie aus dem Bett, lief zu ihr hinüber und schaltete das Licht ein. Sandy lag im Bett, die Decke halb auf dem Boden. Das Haar war nass, als würde sie fürchterlich schwitzen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht blickte sie Annie an und hielt sich die Hände an den Bauch. Immer wieder krümmte sie sich zusammen.

„Was ist mit dir?“, rief Annie aus, die sich hilflos fühlte. Gleichzeitig kroch Angst in ihr hoch.

„Mein Bauch tut so weh. Hol bitte Mom und Dad!“

Annie nickte und lief panisch nach unten, wo ihre Eltern nach wie vor mit der Clique im Wohnzimmer zusammensaßen. Kaum zu Ende gesprochen hasteten ihre Mom und ihr Dad nach oben. Annies Grandpa folgte ihnen. Dann ging alles ganz schnell. Im Nu war ein Krankenwagen da. Zeitgleich verließ die Clique das Haus. Kurz danach brachen ihre Eltern zum Krankenhaus auf. Nur Annies Großvater blieb da, an den sich Annie die ganze Zeit über weinend klammerte. Irgendwann schlief sie schließlich erschöpft an seiner Brust ein. Bis sie neuerlich aus dem Schlaf gerissen wurde. Als Erstes nahm sie den schnellen Herzschlag ihres Grandpas wahr, der in ihrem Ohr pulsierte. Seine Arme, die sie förmlich an ihn pressten. Das schnelle Atmen, als bekäme er kaum Luft. Annie löste sich von ihm und bemerkte ihre Mom, die am Türrahmen lehnte. Wachsbleich und weinend. Ihr Dad stand daneben. Mit rotgeweinten Augen. Er hob die Hand, als ob er ihre Mutter streicheln wollte. Sie machte eine abwehrende Geste, bevor sie schluchzend nach oben lief …

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