Die Rückkehr des Sherlock Holmes

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»Nun?« sagte er.

»Gütiger Himmel!« rief ich. »Das ist grandios!«

»Getrost, nicht kann mich Alter4 hinwelken, täglich Sehn an mir nicht stumpfen die immerneue Reizung«, sagte er, und ich bemerkte in seiner Stimme den Stolz und die Freude, die der Künstler über seine Schöpfung empfindet. »Es ist mir wirklich ziemlich ähnlich, nicht wahr?«

»Ich würde jederzeit schwören, daß Sie es seien.«

»Das Lob für die Ausführung gebührt Monsieur Oscar Meunier aus Grenoble, der einige Tage über der Verfertigung der Gußform hinbrachte. Es ist eine Wachsbüste. Das übrige arrangierte ich selbst heute nachmittag bei meinem Besuch in Baker Street.«

»Aber warum?«

»Weil ich, mein lieber Watson, denkbar besten Grund zu dem Wunsche hatte, gewisse Leute möchten glauben, ich sei dort, während ich in Wirklichkeit woanders bin.«

»Und Sie glaubten, die Zimmer würden beobachtet?«

»Ich wußte, sie wurden beobachtet.«

»Von wem?«

»Von meinen alten Feinden, Watson. Von der reizenden Gesellschaft, deren Anführer im Reichenbach-Fall liegt. Sie müssen bedenken, daß sie, und nur sie, wußten, daß ich noch am Leben war. Und sie glaubten, früher oder später würde ich in meine Wohnung zurückkehren. Sie beobachteten sie ununterbrochen, und heute morgen sahen sie mich ankommen.«

»Wie können Sie das wissen?«

»Weil ich ihren Posten erkannt habe, als ich aus dem Fenster blickte. Ein reichlich harmloser Bursche, Parker mit Namen, Straßenräuber von Beruf, ein bemerkenswerter Künstler auf der Maultrommel. Aus ihm machte ich mir nichts. Sehr viel aber machte ich mir aus dem wesentlich bedrohlicheren Menschen hinter ihm, dem Busenfreund Moriartys, dem Manne, der die Steine über den Felsen geworfen hat, dem gerissensten und gefährlichsten Kriminellen Londons. Dies ist der Mann, der heut nacht hinter mir her ist, Watson, und dies ist der Mann, der völlig ahnungslos ist, daß wir hinter ihm her sind.«

Nach und nach enthüllten sich die Pläne meines Freundes. Von diesem günstigen Schlupfwinkel aus wurden die Beobachter beobachtet und die Verfolger verfolgt. Jener kantige Schatten dort drüben war der Köder, und wir waren die Jäger. Schweigend standen wir zusammen in der Dunkelheit und beobachteten die hastenden Gestalten, die vor uns hin- und herliefen. Holmes war stumm und reglos; doch konnte ich erkennen, daß er sehr wachsam war und seine Blicke konzentriert auf den Strom der Passanten gerichtet waren. Es war eine rauhe und stürmische Nacht, und der Wind pfiff schrill die lange Straße hinab. Viele Leute gingen hin und her, die meisten in Mäntel und Krawatten eingemummt. Ein- oder zweimal kam es mir so vor, als hätte ich dieselbe Gestalt schon einmal gesehen, und besonders fielen mir zwei Männer auf, die sich anscheinend im Eingang eines Hauses ein Stück weiter oben auf der Straße vor dem Wind zu schützen suchten. Ich versuchte, die Aufmerksamkeit meines Gefährten auf sie zu lenken; er aber brummte mich unwillig an und starrte weiter auf die Straße hinaus. Mehr als einmal scharrte er mit den Füßen und klopfte fahrig mit den Fingern an die Wand. Mir war klar, daß er unruhig wurde und daß seine Pläne nicht ganz wie gehofft aufgingen. Als schließlich Mitternacht herankam und sich die Straße allmählich leerte, schritt er in unbeherrschter Erregung im Zimmer auf und ab. Gerade wollte ich etwas zu ihm sagen, als ich meinen Blick zu dem beleuchteten Fenster erhob und wieder eine fast so große Überraschung wie vorhin erlebte. Ich packte Holmes beim Arm und zeigte nach oben.

»Der Schatten hat sich bewegt!« rief ich.

In der Tat war uns jetzt nicht mehr das Profil, sondern der Rücken zugewandt.

Drei Jahre hatten offenbar nicht genügt, die Schroffheit seines Wesens zu glätten oder seine Ungeduld mit einer weniger regen Intelligenz als der seinen zu mildern.

»Natürlich hat er sich bewegt«, sagte er. »Als ob ich ein so lächerlicher Stümper wäre, Watson, eine offensichtliche Attrappe aufzustellen und zu erwarten, einer der scharfsinnigsten Männer Europas würde sich davon täuschen lassen! Wir sind jetzt zwei Stunden in diesem Zimmer, und Mrs. Hudson hat jene Gestalt achtmal umgerückt, das heißt, alle Viertelstunden einmal. Sie macht das von vorne, so daß ihr Schatten nie gesehen werden kann. Ah!« Er machte einen heftigen aufgeregten Atemzug. In dem trüben Licht sah ich seinen Kopf nach vorne gereckt, seine ganze Haltung starr vor Konzentration. Die Straße draußen war vollkommen verlassen. Jene beiden Männer mochten noch immer in dem Eingang kauern, doch konnte ich sie nicht mehr sehen. Alles war ruhig und finster, bis auf die eine strahlend gelbe Fensterscheibe vor uns mit der schwarzen Silhouette in der Mitte. Wieder vernahm ich in der absoluten Stille jenen dünnen zischenden Laut, der von äußerster unterdrückter Aufregung kündete. Einen Augenblick später zog er mich in die schwärzeste Ecke des Zimmers zurück, und ich spürte seine warnende Hand auf meinen Lippen. Die Finger, die mich umklammert hielten, zitterten. Nie hatte ich meinen Freund in erregterem Zustand gekannt, und doch lag die dunkle Straße noch immer einsam und bewegungslos vor uns.

Plötzlich aber gewahrte ich, was seine schärferen Sinne schon längst bemerkt hatten. Ein leises verstohlenes Geräusch drang an meine Ohren, und zwar nicht von der Baker Street her, sondern aus dem hinteren Teil eben des Hauses, in welchem wir uns verborgen hielten. Eine Tür ging auf und wieder zu. Einen Augenblick darauf schlichen Schritte den Gang entlang – Schritte, die leise sein sollten, die aber laut durch das leere Haus hallten. Holmes kauerte sich mit dem Rücken zur Wand, und ich tat desgleichen; meine Hand schloß sich um den Griff meines Revolvers. Ich starrte in das Dämmerlicht und sah den verschwommenen Umriß eines Mannes, der noch einen Hauch schwärzer war als die Schwärze der offenen Tür. Dort blieb er kurz stehen, um dann gebückt und bedrohlich in das Zimmer zu schleichen. Seine finstere Gestalt war keine drei Yards von uns entfernt, und ich hatte mich gewappnet, seinem Ansprung zu begegnen, bis ich erkannte, daß er von unserer Anwesenheit keine Ahnung hatte. Er ging dicht an uns vorbei, stahl sich zum Fenster und schob es sehr sachte und geräuschlos einen halben Fuß hoch. Als er sich auf die Höhe dieser Öffnung niederbeugte, fiel das nun nicht mehr von dem verstaubten Glase getrübte Licht der Straße voll auf sein Gesicht. Der Mann schien außer sich vor Erregung. Seine Augen glommen wie zwei Sterne, und krampfhaft arbeiteten seine Züge. Er war ein älterer Mann mit einer dünnen hervorspringenden Nase, hoher kahler Stirn und einem gewaltigen grauen Schnauzbart. Seinen chapeau claque hatte er auf den Hinterkopf geschoben, und aus seinem offenen Mantel schimmerte ein Frackhemd hervor. Sein Gesicht war hager, dunkelhäutig und von tiefen wilden Furchen durchzogen. In einer Hand trug er etwas, das ein Stock zu sein schien; doch als er es auf den Boden legte, ertönte ein metallisches Geräusch. Dann zog er einen sperrigen Gegenstand aus seiner Manteltasche und machte sich damit zu schaffen, was mit einem lauten, scharfen Klicken endete, als ob eine Feder oder ein Bolzen eingeschnappt wäre. Noch immer auf dem Boden kniend beugte er sich vor und drückte mit seinem ganzen Gewicht und aller Kraft auf irgendeinen Hebel, worauf ein langgezogenes, wirbelndes knirschendes Geräusch entstand, das wiederum mit einem kräftigen Klicken endete. Dann richtete er sich auf, und ich sah, daß er eine Art Gewehr mit sonderbar unförmigem Kolben in der Hand hielt. Er öffnete den Verschluß, steckte etwas hinein und ließ das Schloß zuschnappen. Dann kauerte er sich nieder und legte das Ende des Laufs auf den Sims des offenen Fensters, und ich sah seinen langen Schnauzbart über den Schaft fallen und sein Auge funkeln, als er durch das Visier spähte. Ich hörte einen kurzen Seufzer der Befriedigung, als er den Kolben an seine Schulter drückte und jene erstaunliche Zielscheibe, den schwarzen Mann auf gelbem Hintergrund, deutlich über dem Korn stehen sah. Einen Augenblick lang verharrte er starr und reglos. Dann spannte sich sein Finger um den Abzug. Es folgte ein seltsames lautes Schwirren, dann das langgezogene silbrige Klirren von splitterndem Glas. In diesem Moment sprang Holmes wie ein Tiger dem Schützen in den Rücken und warf ihn flach aufs Gesicht. Der aber kam gleich wieder hoch und packte Holmes mit krampfhafter Kraft bei der Kehle. Doch ich hieb ihm den Kolben meines Revolvers auf den Kopf, und er fiel wieder auf den Boden. Ich stürzte mich auf ihn, und während ich ihn festhielt, stieß mein Genosse ein gellendes Pfeifsignal aus. Auf dem Pflaster ertönte das Getrappel heraneilender Füße, und dann kamen zwei Polizisten in Uniform und ein Detektiv in Zivil durch den Vordereingang und ins Zimmer gerannt.

»Sind Sie es, Lestrade?« fragte Holmes.

»Ja, Mr. Holmes. Ich habe die Sache selbst in die Hand genommen. Schön, Sie wieder in London zu sehen, Sir.«

»Ich denke, Sie benötigen ein wenig inoffizielle Hilfe. Drei unentdeckte Morde in einem Jahr – das geht nicht, Lestrade. Aber das Molesey-Rätsel haben Sie nicht mit der Ihnen eigenen – soll heißen, Sie haben es recht ordentlich behandelt.«

Wir hatten uns alle erhoben, unser Gefangener stand schwer atmend zwischen zwei stämmigen Polizisten. Schon hatten sich auf der Straße ein paar Bummelanten zu sammeln begonnen. Holmes trat ans Fenster, machte es zu und zog die Jalousien herunter. Lestrade hatte zwei Kerzen hervorgeholt und die Polizisten ihre Lampen enthüllt. Endlich war ich in der Lage, mir unseren Gefangenen eingehend zu betrachten.

Es war ein äußerst männliches und doch finsteres Gesicht, das sich uns zuwandte. Mit der Stirn eines Philosophen oben und dem Kinn eines Lüstlings unten, mußte der Mann mit großen Talenten für das Gute oder das Böse begonnen haben. Doch konnte man seine grausamen blauen Augen mit ihren hängenden zynischen Lidern oder seine böse aggressive Nase und die bedrohliche gefurchte Stirn nicht ansehen, ohne darin die deutlichsten Gefahrensignale der Natur zu erblicken. Er nahm von keinem von uns Notiz, sein Blick war einzig auf Holmes' Gesicht geheftet, mit einem Ausdruck, in dem Haß und Erstaunen zu gleichen Teilen gemischt waren. »Sie Teufel!« murmelte er fortwährend. »Sie schlauer, schlauer Teufel!«

 

»Ah, Colonel!« sagte Holmes, indem er seinen verknüllten Kragen ordnete. »›Wie sich mal wieder Herz zum Herzen findet5‹, wie es in dem alten Stück heißt. Ich glaube nicht, daß ich das Vergnügen hatte, Sie zu sehen, seit Sie mich mit jenen Aufmerksamkeiten bedachten, als ich auf dem Vorsprung über dem Reichenbach-Fall lag.«

Der Colonel starrte meinen Freund noch immer wie in Trance an. »Sie listiger, listiger Teufel!« war alles, was er sagen konnte.

»Ich habe Sie noch nicht vorgestellt«, sagte Holmes. »Dies, Gentlemen, ist Colonel Sebastian Moran, dereinst bei der Indischen Armee Ihrer Majestät und der beste Großwildjäger, den unser Östliches Empire je hervorgebracht hat. Gehe ich recht in der Annahme, daß Ihre Beute an Tigern noch immer unübertroffen ist?«

Der wütende Alte sagte nichts, sondern starrte unverwandt und trotzig meinen Gefährten an. Mit seinen wilden Augen und dem borstigen Schnurrbart sah er selbst einem Tiger erstaunlich ähnlich.

»Mich wundert, daß meine so simple List einen so alten shikari6 täuschen konnte«, sagte Holmes. »Sie muß Ihnen doch vertraut sein. Haben Sie nie ein Zicklein unter einem Baum angebunden, oben mit Ihrer Büchse gelegen und darauf gelauert, daß der Köder Ihnen den Tiger heranlocke? Dies leere Haus ist mein Baum, und Sie sind mein Tiger. Sie hatten vermutlich noch weitere Gewehre in Reserve, falls mehrere Tiger auftauchen sollten, oder in der unwahrscheinlichen Annahme, Sie könnten Ihr Ziel verfehlen. Dies« – er wies umher – »sind meine anderen Gewehre. Die Parallele ist vollkommen.«

Colonel Moran sprang mit einem wütenden Knurren vor, doch die Polizisten zogen ihn zurück. Die Wut auf seinem Gesicht war schrecklich anzusehen.

»Ich gestehe, daß Sie mir eine kleine Überraschung bereitet haben«, sagte Holmes. »Ich habe nicht vorausgesehen, daß Sie sich dieses leere Haus und dieses praktische Vorderfenster zunutze machen würden. Ich hatte mir vorgestellt, Sie würden von der Straße aus operieren, wo mein Freund Lestrade und seine munteren Männer Ihrer harrten. Von dieser Ausnahme abgesehen, lief alles so, wie ich erwartet habe.«

Colonel Moran wandte sich an den amtlichen Detektiv.

»Sie mögen einen gerechten Grund für meine Verhaftung haben oder nicht«, sagte er, »aber zumindest kann es keinen Grund dafür geben, warum ich mir die Spötteleien dieser Person gefallen lassen sollte. Wenn ich in der Hand des Gesetzes bin, lassen Sie die Dinge auch auf gesetzliche Art geschehen.«

»Nun, das klingt vernünftig genug«, sagte Lestrade. »Sie haben weiter nichts zu sagen, Mr. Holmes, bevor wir gehen?«

Holmes hatte das starke Luftgewehr vom Boden aufgehoben und untersuchte jetzt seinen Mechanismus.

»Eine staunenswerte und einmalige Waffe«, sagte er, »geräuschlos und von gewaltiger Kraft. Der blinde deutsche Mechaniker von Herder7, der sie auf Geheiß des verblichenen Professor Moriarty konstruierte, ist mir bekannt. Jahrelang war ich mir ihrer Existenz bewußt, obgleich ich nie zuvor die Gelegenheit hatte, sie zu handhaben. Ich empfehle sie sehr Ihrer Aufmerksamkeit, Lestrade, und ebenfalls die Kugeln, die zu ihr passen.«

»Sie können sich darauf verlassen, daß wir dies untersuchen, Mr. Holmes«, sagte Lestrade, während sich die ganze Gesellschaft auf die Tür zu bewegte. »Gibt es sonst noch etwas zu sagen?«

»Nur die Frage, welche Anklage Sie vorzuziehen beabsichtigen?«

»Welche Anklage, Sir? Nun, selbstverständlich den versuchten Mord an Sherlock Holmes.«

»Nicht doch, Lestrade. Ich habe nicht vor, in dieser Angelegenheit überhaupt zu figurieren. Ihnen und einzig Ihnen gebührt das Verdienst der bemerkenswerten Verhaftung, die Sie erzielt haben. Ja, Lestrade, ich gratuliere Ihnen! Mit der Ihnen eigenen glücklichen Mischung aus Schlauheit und Wagemut haben Sie ihn erwischt.«

»Ihn erwischt! Wen erwischt, Mr. Holmes?«

»Den Mann, den die gesamte Polizei vergeblich suchte – Colonel Sebastian Moran, der am dreißigsten vorigen Monats den Ehrenwerten Ronald Adair mit einem Mantelgeschoß aus einem Luftgewehr durch das offene Vorderfenster im zweiten Stock des Hauses Park Lane No. 427 erschossen hat. So lautet die Anklage, Lestrade. Und nun, Watson, falls Sie den Zug von einem zerbrochenen Fenster vertragen können, denke ich, eine halbe Stunde in meinem Arbeitszimmer bei einer Zigarre könnte Ihnen eine nützliche Unterhaltung bieten.«

Unsere alten Gemächer waren unter der Aufsicht von Mycroft Holmes und der unmittelbaren Fürsorge von Mrs. Hudson unverändert geblieben. Beim Eintreten bemerkte ich freilich eine ungewohnte Sauberkeit, doch waren die alten Wahrzeichen noch alle an ihrem Platz: die Chemie-Ecke und der säurebefleckte Brettertisch. In einem Regal stand eine Reihe beeindruckender Sammelalben und Nachschlagewerke, die so mancher unserer Mitbürger mit dem größten Vergnügen verbrannt hätte. Die Diagramme, der Geigenkasten und der Pfeifenständer – selbst der persische Pantoffel, der den Tabak beherbergte – alles fiel mir in die Augen, als ich mich umblickte. Zwei Bewohner befanden sich in dem Zimmer: einmal Mrs. Hudson, die uns beim Eintreten freudestrahlend ansah – zum andern die seltsame Attrappe, die bei den Abenteuern dieses Abends eine so wichtige Rolle gespielt hatte. Es war ein wachsfarbenes Modell meines Freundes, so vortrefflich gearbeitet, daß es ein vollkommenes Abbild darstellte. Es stand auf einem kleinen Sockeltisch und war mit einem alten Morgenmantel von Holmes so drapiert, daß die Täuschung von der Straße aus absolut perfekt war.

»Ich hoffe, Sie haben alle Vorsichtsmaßregeln beachtet, Mrs. Hudson?« sagte Holmes.

»Ich bin auf den Knien hingekrochen, Sir, genau wie Sie mir gesagt haben.«

»Ausgezeichnet. Sie haben Ihre Sache sehr gut gemacht. Haben Sie beobachtet, wo die Kugel eingeschlagen ist?«

»Ja, Sir. Ich fürchte, sie hat Ihre schöne Büste ruiniert, denn sie ging mitten durch den Kopf und schlug sich dann an der Wand platt. Ich habe sie vom Teppich aufgelesen. Hier ist sie!«

Holmes hielt sie mir hin. »Eine weiche Revolverkugel, wie Sie sehen, Watson. Das zeugt von Talent, denn wer erwartet schon, dergleichen aus einem Luftgewehr abgeschossen zu sehen? Sehr schön, Mrs. Hudson. Ich bin Ihnen für Ihre Hilfe sehr verpflichtet. Und nun, Watson, seien Sie so gut und setzen sich noch einmal in Ihren alten Sessel, denn da sind mehrere Punkte, die ich mit Ihnen erörtern möchte.«

Er hatte den schäbigen Gehrock abgeworfen und war nun wieder ganz der alte Holmes im mausfarbenen Morgenmantel, den er seinem Ebenbild ausgezogen hatte.

»Die Nerven des alten shikari haben ihre Ruhe nicht verloren, und seine Augen nicht ihre Schärfe«, sagte er lachend, als er die zerschmetterte Stirn seiner Büste untersuchte.

»Genau mitten in den Hinterkopf und geradewegs durchs Gehirn. Er war der beste Schütze Indiens, und ich nehme an, in London gibt's kaum bessere. Haben Sie seinen Namen schon einmal gehört?«

»Nein, das habe ich nicht.«

»Nun, nun, so geht's mit dem Ruhm! Andererseits aber hatten Sie, wenn ich mich recht erinnere, den Namen von Professor Moriarty auch noch nie gehört, und der war einer der größten Köpfe unseres Jahrhunderts. Reichen Sie mir doch bitte einmal das Biographienverzeichnis aus dem Regal.«

Er blätterte müßig die Seiten um, lehnte sich in seinen Stuhl zurück und blies mächtige Rauchwolken aus seiner Zigarre.

»Meine M-Sammlung ist vorzüglich«, sagte er. »Moriarty allein reicht schon, um jeden Buchstaben auszuzeichnen; und hier haben wir Morgan, den Giftmörder, und Merridew gräßlichen Gedenkens, und Mathews, der mir im Wartesaal in Charing Cross den linken Eckzahn ausgeschlagen hat, und schließlich unseren Freund von heut nacht.«

Er übergab mir das Buch, und ich las:

Moran, Sebastian, Colonel. Unbeschäftigt. Ehemals bei den 1. Bangalore-Pionieren. Geboren 1840 in London. Sohn von Sir Augustus Moran, C.B.8, dem ehemaligen britischen Gesandten in Persien. Schulbesuch in Eton und Oxford. Diente bei den Jowaki- und Afghanistan-Feldzügen in Charasiab (Depeschen), Sherpur und Kabul9. Verfasser von Großwild im westlichen Himalaya (1881); Drei Monate im Dschungel (1884). Anschrift: Conduit Street. Clubs: Anglo- Indian, Tankerville, Bagatelle Card Club.

Am Rand stand in Holmes' deutlicher Handschrift: Der zweitgefährlichste Mann Londons10.

»Das ist erstaunlich«, sagte ich, als ich ihm den Band zurückgab. »Die Karriere dieses Mannes ist die eines ehrenhaften Soldaten.«

»Wohl wahr«, antwortete Holmes. »Bis zu einem gewissen Punkt hielt er sich gut. Er war immer ein Mann mit eisernen Nerven, und in Indien hört man noch immer die Geschichte, wie er einem verwundeten menschenfressenden Tiger in ein Kanalisationsrohr nachgekrochen ist. Es gibt gewisse Bäume, Watson, die bis zu einer bestimmten Höhe wachsen, um dann plötzlich eine unansehnliche Exzentrizität zu entwickeln. Auch bei Menschen werden Sie das oft beobachten. Ich habe eine Theorie, nach der das Individuum im Verlauf seiner Entwicklung die ganze Reihe seiner Vorfahren durchlebt, und solch ein plötzlicher Umschwung zum Guten oder Bösen beruht demnach auf irgendeinem starken Einfluß, der in der Reihe seiner Ahnen tätig war. Der Mensch wird gleichsam zum Inbegriff der Geschichte seiner Familie.«

»Freilich überaus phantastisch.«

»Nun, ich bestehe nicht darauf. Aus welchem Grund auch immer: Colonel Moran begann auf Abwege zu geraten. Ohne jeden offenen Skandal brachte er Indien doch zu sehr in Rage, als daß man ihn hätte halten können. Er trat in den Ruhestand, kam nach London und machte sich wieder einen üblen Namen. Zu dieser Zeit wurde er von Professor Moriarty aufgespürt, dessen Stabschef er eine Zeitlang war. Moriarty versorgte ihn großzügig mit Geld und benutzte ihn nur für ein oder zwei hochwertige Aufträge, die kein gewöhnlicher Krimineller hätte ausführen können. Sie erinnern sich vielleicht an den Tod von Mrs. Stewart aus Lauder, im Jahre 1887. Nicht? Nun, ich bin sicher, daß Moran dahintersteckte, doch war ihm nichts nachzuweisen. Die Rolle des Colonel wurde so klug verheimlicht, daß wir ihn selbst dann nicht belasten konnten, als die Moriarty-Bande gesprengt war. Wissen Sie noch, wie ich damals, als ich Sie in Ihren Zimmern aufsuchte, aus Angst vor Luftgewehren die Läden geschlossen habe? Zweifellos haben Sie mich da für einen Phantasten gehalten. Doch ich wußte genau, was ich tat, da ich von der Existenz dieses bemerkenswerten Gewehrs wußte, und ich wußte auch, daß einer der besten Schützen der Welt dahinterstünde. Als wir in der Schweiz waren, verfolgte er uns zusammen mit Moriarty, und zweifellos war er es, der mir jene bösen fünf Minuten auf dem Vorsprung über dem Reichenbach-Fall bescherte.

Sie können sich denken, daß ich während meines Aufenthaltes in Frankreich die Zeitungen mit einiger Aufmerksamkeit gelesen habe, immer auf der Suche nach einer Möglichkeit, ihn hinter Gitter zu bringen. Solange er in London war, wäre mein Leben dort wirklich nicht lebenswert gewesen. Tag und Nacht hätte sein Schatten auf mir gelegen, und früher oder später hätte seine Stunde schlagen müssen. Was konnte ich tun? Einfach erschießen konnte ich ihn nicht, oder ich wäre selbst auf die Anklagebank gekommen. Mich an einen Polizeirichter zu wenden, war zwecklos. Die können nicht aufgrund eines Verdachts einschreiten, der ihnen ziemlich wild vorkommen muß. Ich konnte also nichts tun. Aber ich verfolgte die Nachrichten von Verbrechen, denn ich wußte, daß ich ihn früher oder später erwischen würde. Dann kam der Tod dieses Ronald Adair. Endlich war meine Stunde gekommen. War es nach allem, was ich wußte, nicht eindeutig, daß Colonel Moran der Täter war? Er hatte mit dem Jungen Karten gespielt, er hatte ihn vom Club aus nach Hause verfolgt, er hatte ihn durch das offene Fenster erschossen. Daran bestand kein Zweifel. Die Kugeln allein genügen schon11, seinen Kopf in die Schlinge zu stecken. Ich fuhr sofort her. Der Posten sah mich; ich wußte, er würde den Colonel auf meine Anwesenheit aufmerksam machen. Dieser konnte nicht fehlen, meine plötzliche Rückkehr mit seinem Verbrechen in Verbindung zu bringen und in fürchterliche Unruhe zu geraten. Ich war sicher, daß er mich auf der Stelle aus dem Weg zu räumen versuchen und zu diesem Zwecke seine mörderische Waffe hervorholen würde. Im Fenster hinterließ ich ihm eine vorzügliche Zielscheibe, und nachdem ich die Polizei davon unterrichtet hatte, daß sie womöglich gebraucht würde – übrigens haben Sie, Watson, deren Anwesenheit in jenem Hauseingang mit unfehlbarer Treffsicherheit erkannt –, nahm ich einen, wie mir schien, vernünftigen Beobachtungsposten ein; nicht im Traum wäre mir eingefallen, er würde sich dieselbe Stelle für sein Attentat aussuchen. Nun, mein lieber Watson, bleibt mir noch etwas zu erklären?«

 

»Ja«, sagte ich. »Sie haben nicht deutlich gemacht, aus welchem Motiv Colonel Moran den Ehrenwerten Ronald Adair ermordet hat.«

»Ah! mein lieber Watson, hier stoßen wir nun in jenes Reich der Mutmaßungen vor, in dem sich auch der logischste Geist leicht irren kann. Jeder von uns mag aus den vorhandenen Beweisen seine eigene Hypothese aufstellen, und die Ihre kann ebensosehr richtig sein wie die meine.«

»Sie haben demnach eine?«

»Ich denke, es ist nicht schwer, die Tatsachen zu deuten. Bei der Untersuchung kam heraus, daß Colonel Moran und der junge Adair zusammen eine beträchtliche Summe Geldes gewonnen hatten. Nun spielte Moran zweifellos falsch – dessen bin ich mir schon seit langem bewußt. Ich glaube, Adair hatte am Tag seiner Ermordung entdeckt, daß Moran mogelte. Höchstwahrscheinlich hatte er persönlich mit ihm gesprochen und damit gedroht, ihn bloßzustellen, falls er seine Mitgliedschaft im Club nicht freiwillig aufgebe und verspreche, nie wieder Karten zu spielen. Es ist unwahrscheinlich, daß ein junger Bursche wie Adair stracks einen scheußlichen Skandal provozieren würde, indem er einen wohlbekannten Mann, der so viel älter ist als er selbst, denunzierte. Vermutlich handelte er so, wie ich es annehme. Der Ausschluß aus seinen Clubs hätte für Moran, der von seinen unrechtmäßigen Kartengewinnen lebte, den Ruin bedeutet. Aus diesem Grunde brachte er Adair um, der zu der Zeit gerade versuchte auszurechnen, wieviel Geld er selbst zurückgeben müsse, da er nicht vom Falschspiel seines Partners profitieren wollte. Die Tür verschloß er, damit die Damen ihn nicht überraschen und dann darauf bestehen konnten zu erfahren, was es mit diesen Namen und Münzen auf sich habe. Geht das?«

»Ich hege keinen Zweifel, daß Sie die Wahrheit getroffen haben.«

»Der Prozeß wird es bestätigen oder widerlegen. Unterdessen, komme was da wolle, wird uns Colonel Moran nicht mehr beunruhigen. Das famose Luftgewehr von Herders wird das Scotland Yard Museum verschönern, und Mr. Sherlock Holmes hat wieder die Freiheit, sein Leben der Untersuchung jener interessanten kleinen Probleme zu widmen, die das komplexe Leben Londons in solcher Fülle bietet.«

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