Читать книгу: «Die Abenteuer des Sherlock Holmes: Ein Skandal in Böhmen und andere Detektivgeschichten / The Adventures of Sherlock Holmes: A Scandal in Bohemia and Other Stories – Zweisprachige Ausgabe (Deutsch-Englisch) / Bilingual edition (German-English)», страница 9
»Zu den Cedern?«
»Ja, nämlich in St. Clairs Haus, denn dort wohne ich, solange meine Nachforschungen dauern.«
»Wo liegt es denn?«
»Bei Lee in Kent. Wir haben eine Fahrt von sieben Meilen vor uns.«
»Aber ich weiß ja von gar nichts.«
»Natürlich, doch wirst du bald alles erfahren. Sitze nur auf. Schon gut, Johann, wir kutschieren selbst. Hier ein Trinkgeld. Morgen gegen elf Uhr können Sie mich erwarten. So, jetzt lassen Sie los, und nun vorwärts!«
Er versetzte dem Pferd einen leichten Schlag mit der Peitsche, und wir flogen dahin durch die endlosen, dunklen, einsamen Straßen, die sich allmählich erweiterten, bis wir über eine breite Brücke sausten, unter der der schlammige Fluß träge dahinfloß. Auch drüben dasselbe Häusermeer; nichts als der gleichmäßige Schritt der Schutzleute oder das Johlen verspäteter Nachtschwärmer unterbrach die nächtliche Stille. Eine dunkle Wolkenmasse zog langsam am Himmel dahin, und nur matt schimmerte da und dort ein Stern durch das Gewölk auf. Schweigend lenkte Holmes das Gefährt, den Kopf auf die Brust gesenkt und mit dem Ausdruck eines Mannes, der ganz in Gedanken verloren ist, während ich neben ihm saß, gespannt, zu erfahren, was für ein neuer Fall das wohl sein mochte, der seinen Geist so vollständig in Anspruch nahm, und doch getraute ich mir nicht, seinen Gedankengang zu unterbrechen. Wir waren schon verschiedene Meilen gefahren und gelangten an den äußern Gürtel der Vorstadtvillen, als sich Holmes aufraffte, die Achseln zuckte und seine Pfeife in Brand steckte mit der Miene eines Menschen, der mit sich zufrieden ist, im Bewußtsein, daß er tut, was in seinen Kräften steht.
»Dir ward die schöne Gabe des Schweigens verliehen, Watson«, sagte er, »und das macht dich zu einem geradezu unschätzbaren Gefährten. Auf Ehre, für mich ist es von größtem Wert, jemand zu haben, gegen den ich mich aussprechen kann, denn meine eigenen Gedanken sind nicht gerade ergötzlicher Art. Eben überlegte ich mir, was ich dem guten Frauchen wohl sagen sollte, wenn sie mir heute Abend entgegentritt.«
»Du vergissest, daß ich ja von gar nichts weiß.«
»Es bleibt jetzt gerade noch Zeit genug, bis wir nach Lee kommen, um dir die Einzelheiten des Falles zu erzählen. Er sieht sich lächerlich einfach an, und doch weiß ich nicht, was ich damit anstellen soll. Fäden gibt es in Menge, aber das richtige Ende vermag ich nicht zu finden. Laß dir also die Sache klar und deutlich auseinandersetzen, Watson, möglich, daß dir vielleicht ein Licht aufgeht, wo für mich alles dunkel ist.«
»So fange nur an.«
»Vor einigen Jahren, oder genauer gesagt, vor sechs Jahren, kam ein Herr, Namens Neville St. Clair, nach Lee, der allem Anscheine nach in sehr guten Verhältnissen war. Er bezog eine große Villa, legte geschmackvolle Gärten an und lebte in jeder Beziehung auf großem Fuße. Allmählich gewann er Freunde in der Nachbarschaft und heiratete vor drei Jahren die Tochter eines dort ansässigen Bierbrauers, die ihn seitdem mit zwei Kindern beschenkt hat. Einen eigentlichen Beruf hatte er nicht, doch war er bei verschiedenen Unternehmungen beteiligt und ging in der Regel des Morgens zur Stadt und kehrte des Abends mit dem 5 Uhr 14-Zuge wieder zurück. Herr St. Clair ist jetzt siebenunddreißig Jahre alt, ein Mann von soliden Lebensgewohnheiten, ein guter Ehegatte, zärtlicher Vater und bei allen beliebt, die ihn kennen. Ich kann noch hinzufügen, daß, soweit es sich ermitteln ließ, seine ganze Schuldenlast sich zur Zeit auf achtundachtzig Pfund und zehn Schilling beläuft, während sein Bankguthaben zweihundertundzwanzig Pfund beträgt. Es liegt darum auch kein Grund zur Annahme vor, daß ihn etwa Geldsorgen bedrückt hätten.
Am letzten Montag fuhr Herr Neville St. Clair etwas früher als gewöhnlich zur Stadt, nachdem er zuvor geäußert, daß er zwei wichtige Geschäfte zu erledigen habe, und daß er seinem Söhnchen einen Baukasten mitbringen wolle. Am selben Morgen, ganz kurz nach St. Clairs Weggang, erhielt seine Frau die Drahtnachricht, daß ein von ihr erwartetes Paketchen von beträchtlichem Werte auf dem Postamt der Aberdeen-Schiffsgesellschaft abgeholt werden könne. Wenn du dich in deinem London gut auskennst, dann weißt du, daß die Geschäftsräume dieser Gesellschaft in der Fresnostraße liegen, die in die Obere Swandamstraße mündet, wo du mich heute nacht getroffen hast. Frau St. Clair nahm ihr zweites Frühstück ein und ging dann nach der Stadt, machte einige Einkäufe, holte ihr Paketchen auf dem Schiffsamte und ging genau um 4 Uhr 35 Minuten durch die Swandamstraße wieder zurück, der Bahnstation zu. Bist du mir so weit gefolgt?«
»Das ist alles völlig klar.«
»Du erinnerst dich vielleicht noch, daß es am Montag außerordentlich heiß war. Frau St. Clair ging darum langsam und sah sich, in der Hoffnung, einen Wagen zu entdecken, nach allen Seiten um, denn es kam ihr in dieser Umgebung nicht recht geheuer vor. Während sie so die Swandamstraße entlang schritt, hörte sie plötzlich einen Schrei und war starr vor Schrecken, als sie ihren Mann aus einem Fenster des zweiten Stocks auf sie niederblicken und ihr zuwinken sah. Das Fenster stand offen, so daß sie sein Gesicht ganz deutlich erkennen konnte, das nach ihrer Schilderung entsetzlich aufgeregt gewesen sein muß. Nachdem er ihr heftig mit der Hand gewinkt hatte, verschwand er so plötzlich vom Fenster, daß es ihr schien, als ob eine unwiderstehliche Macht ihn von hintenher weggerissen habe. Ein eigentümlicher Umstand entging ihrem raschen Blicke nicht: obwohl ihr Mann denselben dunklen Rock trug, wie bei seinem Weggang von Hause, so hatte er doch weder Kragen noch Krawatte an.
Überzeugt, daß St. Clair irgend etwas zugestoßen sein müsse, eilte sie die Stufen hinab – denn das Haus war kein andres als die Opiumhöhle, in der du mich heute nacht gefunden hast – lief durch das Vorzimmer und wollte die Treppe, die zum ersten Stock führte, hinaufsteigen, doch da trat ihr jener Malaie, der Schurke, den ich schon einmal nannte, in den Weg, drängte sie zurück und schob sie mit Hilfe eines Dänen, der dort häufig Handlangerdienste tut, hinaus auf die Straße. Voll der wahnsinnigsten Befürchtungen und Sorgen, rannte sie die Straße entlang, und ein glücklicher Zufall wollte es, daß sie in der Fresnostraße auf einige Schutzleute stieß, die unter der Führung eines Wachtmeisters eben die Runde machten. Der Wachtmeister begleitete sie mit zweien seiner Leute zurück, und trotz des hartnäckigen Widerstandes des Hausbesitzers drangen sie zu dem Zimmer durch, in dem St. Clair zuletzt gesehen worden war. Keine Spur mehr von ihm. Ja, im ganzen Stockwerk niemand als ein jämmerlicher Krüppel von abschreckender Häßlichkeit, der hier zu wohnen schien. Er sowohl als der Wirt verschworen sich hoch und teuer, daß den ganzen Nachmittag außer ihnen niemand in diesem vorderen Zimmer gewesen sei. Ihre Beteuerungen schienen so glaubwürdig, daß der Wachtmeister zu glauben geneigt war, Frau St. Clair müsse sich getäuscht haben, als diese plötzlich mit jähem Aufschrei auf ein hölzernes Kästchen zulief, das auf dem Tische stand, und den Deckel aufriß. Eine Menge kleiner Bausteine stürzte daraus hervor. Es war das Spielzeug, das der Vater versprochen hatte mit nach Hause zu bringen.
Diese Entdeckung, sowie die sichtliche Verlegenheit, die der Krüppel zeigte, überzeugten den Wachtmeister von dem Ernste der Sache. Die Räume wurden sorgfältig untersucht, und alles, was sich ergab, wies auf ein entsetzliches Verbrechen hin. Das vordere Zimmer war ein einfach ausgestatteter Wohnraum und führte in ein kleines Schlafzimmer mit der Aussicht auf die Rückseite einer Werft. Zwischen der Werft und dem Schlafzimmerfenster befindet sich ein schmaler Weg, der während der Ebbe trocken, während der Flut jedoch zum mindesten vier bis fünf Fuß hoch unter Wasser ist. Das Fenster war breit und ließ sich in die Höhe schieben. Bei genauer Besichtigung fanden sich Blutspuren auf dem Fenstersims, und vereinzelte Tropfen waren auf dem Bretterboden des Schlafzimmers sichtbar. Hinter einem Vorhang des Wohnzimmers lagen alle Kleider des Herrn Neville St. Clair auf einem Haufen beisammen, nur der Rock fehlte. Stiefel, Socken, Hut, Uhr – alles fand sich vor, aber kein Merkmal von Gewalttat war daran zu erkennen, und auch sonstige Spuren von Herrn Neville St. Clair fanden sich nicht. Allem Anschein nach mußte er zum Fenster hinausbefördert worden sein, ein anderer Ausweg war nicht zu entdecken, und die verdächtigen Blutspuren am Gesimse ließen wenig Hoffnung übrig, daß er sich durch Schwimmen gerettet haben könnte, denn die Flut stand zur Zeit der Greueltat am höchsten. Und nun zu den Strolchen, die zunächst in die Sache verwickelt schienen. Der Malaie war ein äußerst übel beleumundeter Mensch. Da er aber nach Aussage der Frau St. Clair wenige Sekunden nach ihres Mannes Erscheinen am Fenster am Fuße der Treppe gestanden hatte, so konnte er kaum anders denn als bloße Nebenfigur bei dem Verbrechen angesehen werden. Seine Verteidigung beschränkte sich auf die Behauptung vollständiger Unwissenheit. Er verwahrte sich gegen jegliche Kenntnis von dem Tun und Lassen seines Mieters, Hugo Boones, und erklärte sich außerstande, irgend welche Rechenschaft darüber zu geben, wie die Kleider des vermißten Herrn hierher gekommen wären.
So viel über den Wirt. Und nun zu dem unheimlichen Krüppel, der im zweiten Stock der Opiumhöhle wohnt, und der sicher das letzte menschliche Wesen war, dessen Auge Neville St. Clair gesehen hat. Er heißt Hugo Boone, und jedermann, der häufig zur City kommt, kennt sein abschreckendes häßliches Gesicht.
Er ist gewerbsmäßiger Bettler und treibt dabei, um den polizeilichen Verordnungen nachzukommen, einen kleinen Handel mit Streichhölzern. Eine kurze Strecke die Threadneedlestraße abwärts tritt links an der Mauer eine kleine Ecke hervor. Dort läßt sich der Kerl täglich mit gekreuzten Beinen und seinem kleinen Warenvorrat auf dem Schoß nieder, und sein Anblick ist so erbarmungswürdig, daß der reichste Wohltätigkeitsregen in seine fettige Mütze neben ihm auf dem Pflaster niederträufelt. Noch ehe ich ahnte, daß ich einmal von Berufs wegen dieses Burschen Bekanntschaft machen würde, hatte ich ihn schon oft beobachtet und war erstaunt über die große Ernte, die er in kürzester Frist einheimste. Seine Erscheinung ist nämlich derart auffällig, daß man ihn nicht unbeachtet lassen kann. Ein Busch rotgelben Haares, ein blasses Gesicht, verunziert durch eine entsetzliche Narbe, die im Verwachsen den einen Mundwinkel in die Höhe gezerrt hat, ein Buldoggenkiefer und ein paar stechende dunkle Augen, die zu der Farbe des Haares in absonderlichem Kontraste stehen, dies alles zeichnet ihn vor der übrigen Menge der Bettler aus, und dies tut auch sein Witz; denn er hat stets eine schlagfertige Antwort auf jeden schlechten Scherz, den ein Vorübergehender mit ihm machen mag. Das ist also jener Mietsmann in der Opiumhöhle, jener Mann, der den vermißten Herrn, den wir suchten, zuletzt gesehen haben muß.«
»Aber ein Krüppel!« warf ich ein. »Was vermochte der allein gegen einen Mann in vollster Körperkraft?«
»Ein Krüppel ist er wohl, sofern er zum Gehen einer Krücke bedarf, sonst aber scheint er kräftig und wohlgenährt zu sein. Gewiß wird deine ärztliche Erfahrung dich lehren, Watson, daß die Schwäche des einen Gliedes oft durch eine um so größere Stärke des andern ausgeglichen wird.«
»Bitte, fahre in deiner Erzählung fort.«
»Frau St. Clair war beim Anblick der Blutflecken am Fenster ohnmächtig geworden, und ein Schutzmann hatte sie im Wagen nach Hause gebracht, zumal da auch ihre Gegenwart bei den weiteren Nachforschungen nutzlos war. Wachtmeister Barton, der den Fall zu leiten hatte, untersuchte alles aufs genaueste, doch ohne irgend etwas zu finden, was die dunkle Sache hätte aufhellen können. Darin war ein Fehler begangen worden, daß Boone nicht sofort verhaftet wurde, sondern noch einige Minuten sich überlassen blieb, während deren er sich mit seinem Freunde, dem Malaien, verständigen konnte; doch machte man diesen Fehler sehr bald wieder gut, denn er wurde festgenommen und durchsucht, ohne daß sich jedoch irgend etwas Belastendes gegen ihn ergeben hätte. Allerdings befanden sich einige Blutflecken auf seinem rechten Hemdärmel, doch wies er auf seinen Ringfinger hin, an dem unterhalb des Nagels eine Schnittwunde war, und sagte, das Blut komme daher, mit dem Hinzufügen, er sei erst vor kurzem am Fenster gewesen, und die dort bemerkten Blutspuren rührten ohne Zweifel von der gleichen Ursache her. Er verneinte es aufs entschiedenste, Herr Neville St. Clair je einmal gesehen zu haben, und versicherte, daß es ihm nicht weniger unerklärlich sei als der Polizei, wie die Kleider in sein Zimmer kämen. Was aber Frau St. Clairs Aussage anbelange, daß sie ihren Mann leibhaftig am Fenster gesehen habe, so müsse sie entweder geistig gestört oder im Traume gewesen sein. Trotz seines lauten Widerspruchs wurde er zur Polizeistation verbracht, während der Wachtmeister zurückblieb, in der Hoffnung, die Ebbe möchte neue Anhaltspunkte liefern.
Und so war es auch, obgleich auf dem Schlamme nicht das gefunden wurde, was man gefürchtet hatte: nicht Neville St. Clair selbst, aber Neville St. Clairs Rock kam zu Tage, als die Flut sich verlief. Und was glaubst du wohl, daß sich in den Rocktaschen vorfand?«
»Ich kann mir’s nicht denken.«
»Nein, du würdest es auch niemals erraten. Jede Tasche war vollgepfropft mit Kupfermünzen – 421 ganzen und 270 halben Pennystücken. Da war es also kein Wunder, daß der Rock nicht von der Flut mit fortgenommen wurde. Aber mit einem menschlichen Körper ist’s ein ander Ding. Zwischen der Werft und dem Haus ist ein starker Wirbel, und so konnte es leicht geschehen, daß der beschwerte Rock zurückblieb, während der entkleidete Körper in den Fluß hinausgespült wurde.«
»Ich habe geglaubt, alle übrigen Kleider seien im Zimmer vorgefunden worden. Sollte der Körper nur allein mit dem Rocke bekleidet gewesen sein?«
»Nein, gewiß nicht, aber die Tatsachen lassen doch eine ziemlich glaubwürdige Erklärung zu. Vorausgesetzt, dieser Boone habe St. Clair aus dem Fenster geworfen, ohne daß ein menschliches Auge es sah – was hätte er dann vor allem tun müssen? Natürlich sich in erster Linie der verräterischen Kleider entledigen. Er griff also nach dem Rocke; im Begriff, diesen hinauszuwerfen, fiel ihm aber ein, daß er ja schwimmen würde, anstatt unterzusinken. Die Zeit drängt, denn von unten her hört er die Stimme der Frau St. Clair, die hinaufdringen will; vielleicht hat ihm auch sein Spießgeselle, der Wirt, schon einen Wink gegeben, daß die Polizei nicht fern sei. Kein Augenblick ist zu verlieren. Er eilt zu irgend einem geheimen Winkel, wo er die Erträgnisse seines Bettels aufgestapelt hat, und stopft so viele Münzen, als ihm zur Hand sind, in den Rock, damit dieser gewiß untersinkt. Schnell wirft er ihn hinaus, wie er es auch mit den anderen Kleidungsstücken gemacht hätte, wären nicht Schritte genaht, so daß ihm nur noch Zeit blieb, das Fenster zu schließen.«
»Dies klingt allerdings nicht unmöglich.«
»So laß uns einstweilen auf diesen Voraussetzungen fußen, bis sich Besseres findet. Boone wurde also, wie ich dir schon erzählt habe, festgenommen und auf die Polizeiwache gebracht, doch konnte nicht nachgewiesen werden, daß schon früher etwas gegen ihn vorgelegen hätte. Seit Jahren war er als gewerbsmäßiger Bettler bekannt, schien aber sonst ein stilles, unbescholtenes Leben geführt zu haben. So weit ist die Sache bis jetzt gediehen, und die Fragen, die einer Lösung harren, nämlich was Neville St. Clair in der Opiumhöhle zu schaffen gehabt hat, was dort mit ihm geschehen ist, wo er sich jetzt befindet, und inwiefern Hugo Boone an seinem Verschwinden beteiligt war – alle diese Fragen sind noch so weit als je von einer Lösung entfernt. Ich muß dir gestehen, daß mir in meiner ganzen Erfahrung nie ein Fall vorgekommen ist, der auf den ersten Anblick so einfach erschienen wäre und dennoch solche Schwierigkeiten geboten hätte.«
Während mir Sherlock Holmes die sonderbare Verwicklung dieser Umstände im einzelnen darlegte, waren wir an den letzten Vorstadthäusern vorübergerollt und hatten jetzt grüne Hecken zu beiden Seiten. Als er eben am Schlusse war, fuhren wir durch zwei verstreut liegende Dörfer, wo aus manchem Fenster noch Licht schimmerte.
»Jetzt nähern wir uns Lee«, sagte Holmes; »auf unserer kurzen Fahrt haben wir nicht weniger als drei Grafschaften berührt. In Middlesex brachen wir auf, kamen durch einen Zipfel von Surrey und beschließen die Fahrt jetzt mit Kent. Siehst du das Licht dort zwischen den Bäumen hervorschimmern? Das kommt von ›den Cedern‹, und neben jener Lampe sitzt eine Frau, deren angstvolles Ohr ohne Zweifel schon den Hufschlag unseres Pferdes vernommen hat.«
»Aber warum betreibst du die Angelegenheit nicht von der Bakerstraße aus?« fragte ich.
»Weil allerlei Erkundigungen von hier aus einzuziehen sind. Frau St. Clair hat mir in entgegenkommendster Weise zwei Zimmer zur Verfügung gestellt, und du darfst überzeugt sein, daß sie meinen Freund und Kollegen gleichfalls freundlich willkommen heißen wird. Es ist mir im Innersten zuwider, Watson, ihr ohne Nachrichten über ihren Mann entgegentreten zu müssen. So, jetzt wären wir da! Hollah, he!«
Wir hielten vor einer großen, von Gärten umgebenen Villa. Ein Stalljunge war herbeigeeilt und hielt das Pferd. Wir stiegen aus, und ich folgte Holmes auf dem schmalen, geschlängelten Kiesweg, der zum Hause führte. Als wir näher kamen, flog die Türe auf, und eine kleine blonde Frau stand auf der Schwelle. Sie war in ein leichtes, an Hals und Ärmeln mit Spitzen verziertes Seidengewand gehüllt. Ihre Gestalt zeichnete sich in dem starken Lichtstrom, der aus der Türe quoll, deutlich ab, und wie sie so dastand, den Körper leicht vorgebeugt, die eine Hand auf der Türklinke, die andere halb erhoben vor Sehnsucht und Verlangen, das Gesicht mit den forschenden Augen und den halbgeöffneten Lippen nach vorne gewandt, sah sie ganz so aus wie ein lebendig gewordenes Fragezeichen.
»Nun, und was gibt’s?« rief sie. Und sobald sie bemerkte, daß wir zu zweien waren, kam es wie ein Ausruf der Hoffnung von ihren Lippen, der aber in einem Seufzer erstarb, als mein Gefährte den Kopf schüttelte und die Achseln zuckte.
»Keine guten Nachrichten?«
»Überhaupt keine.«
»Also auch keine schlechten?«
»Nein.«
»Gott sei Dank. Doch treten Sie ein. Sie müssen müde sein nach diesem langen Tag.«
»Hier stelle ich Ihnen meinen Freund, Herrn Dr. Watson, vor. Er ist mir schon bei verschiedenen Angelegenheiten von Nutzen gewesen, und ein glücklicher Zufall hat es gefügt, daß es mir möglich wurde, ihn mitzubringen und ihn mit unserer Sache vertraut zu machen.«
»Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen«, erwiderte sie und drückte mir herzlich die Hand, »nur bitte ich um Entschuldigung, wenn heute mein Haus manches zu wünschen übrig läßt, Sie wissen ja, welcher harte Schlag uns so unvermutet betroffen hat.«
»Ich bin ein alter Soldat, gnädige Frau, und wäre ich es auch nicht, so würde ich es doch für selbstverständlich halten, daß es hier keinerlei Entschuldigung bedarf. Wenn ich Ihnen oder meinem Freunde irgendwie nützlich sein könnte, so würde ich mich glücklich schätzen.«
»Nun, Herr Sherlock Holmes«, begann die Dame, als wir das hell erleuchtete Speisezimmer betraten, wo ein kalter Imbiß bereit stand, »möchte ich Sie geradeheraus etwas fragen, und Sie sollen mir dann ebenso darauf antworten.«
»Ganz einverstanden, gnädige Frau!«
»Nehmen Sie keine Rücksicht auf meine Empfindungen. Ich bin weder hysterisch, noch leicht zu Ohnmachten geneigt. Es ist mir einzig und allein um Ihre aufrichtige Meinung zu tun.«
»Worüber?«
»Glauben Sie im Innersten Ihres Herzensgrundes, daß Neville noch am Leben ist?«
Diese Frage schien Sherlock Holmes in Verlegenheit zu setzen. »Also geradeheraus!« wiederholte sie. Er lag in einem Armstuhl, und sie stand vor ihm und sah forschend auf ihn nieder.
»Nun denn, ehrlich gestanden, gnädige Frau, nein.«
»Glauben Sie, daß er tot ist?«
»Ja, ich glaube es.«
»Ermordet?«
»Das will ich nicht behaupten, vielleicht.«
»Und an welchem Tage soll er vom Tode ereilt worden sein?«
»Am Montag.«
»Dann, Herr Holmes, haben Sie vielleicht die Güte, mir zu erklären, wie es geschehen konnte, daß ich heute einen Brief von ihm erhielt.«
Sherlock Holmes sprang wie elektrisiert von seinem Stuhle auf.
»Was!« schrie er.
»Jawohl, heute.« Lächelnd stand sie da und hielt ein Blättchen Papier empor.
»Darf ich es lesen?«
»Gewiß.«
Er riß ihr den Brief aus der Hand, glättete ihn auf dem Tisch, zog die Lampe näher und besichtigte ihn aufs genaueste. Auch ich war aufgestanden und blickte ihm über die Schulter. Der Briefumschlag war aus grobem Papier und trug den Poststempel von Gravesend mit dem Datum des heutigen Tages, oder eigentlich des gestrigen, denn Mitternacht war längst vorüber.
»Ungeübte Schrift«, murmelte Holmes. »Sicher ist dies nicht Ihres Gatten Hand, gnädige Frau.«
»Nein, aber der Brief selbst ist von ihm.«
»Man sieht auch, daß derjenige, der die Aufschrift machte, sich erst genauer nach der Adresse erkundigen mußte.«
»Woraus können Sie das schließen?«
»Der Name ist, wie Sie sehen, vollständig schwarz, weil die Tinte darauf von selbst abtrocknete. Das übrige dagegen ist grauschwarz, ein Beweis, daß Löschpapier dabei verwendet wurde. Wäre alles in einem Zuge geschrieben und dann das Fließblatt gebraucht worden, so hätte nicht ein Teil so tiefschwarz werden können. Der Schreiber hat zuerst den Namen geschrieben, dann trat eine Pause ein, ehe er die Adresse vervollständigte, was doch nur seinen Grunde darin haben konnte, daß sie ihm nicht geläufig war. Freilich ist dies nur eine Kleinigkeit, aber nichts ist eben so wichtig als Kleinigkeiten. Und nun wollen wir den Brief betrachten. Ei, da war etwas eingeschlossen!«
»Ja, ein Ring, sein Siegelring.«
»Und Sie sind überzeugt, daß dies Ihres Gatten Handschrift ist?«
»Ja, eine seiner Handschriften.«
»Eine?«
»Seine Handschrift, wenn er in Eile war. Diese ist ganz verschieden von der gewöhnlichen, aber ich kenne sie genau.«
Auf dem Papier standen nur die Worte:
»Liebste, ängstige dich nicht. Es wird noch alles gut werden. Ein schwerer Irrtum waltet ob, der sich aber in kurzem aufklären muß. Fasse dich in Geduld. – Neville.«
»Mit Bleistift auf das Vorsatzblatt eines Oktavbandes geschrieben, kein Wasserzeichen. Hm! Heute in Gravesend in den Schalter geworfen von einem Menschen mit schmutzigem Daumen! Ha! und der Umschlag ist, wenn ich mich nicht sehr täusche, von jemand zugeklebt worden, der Tabak kaut. Und Ihnen steht es ganz außer Zweifel, daß es die Handschrift Ihres Gatten ist, gnädige Frau?«
»Durchaus. Neville hat diese Zeilen geschrieben.«
»Und heute wurde dieser Brief in Gravesend bestellt. Wahrhaftig, die Wolken beginnen sich zu lichten, obgleich ich nicht sagen möchte, daß die Gefahr vorüber ist.«
»Aber am Leben muß er doch noch sein, Herr Holmes?«
»Außer, dies wäre eine schlaue Täuschung, um uns auf falsche Fährte zu locken. Der Ring beweist so gut wie nichts, er kann ihm genommen worden sein.«
»Nein, nein; es ist und bleibt seine Handschrift!«
»Ganz recht. Doch kann das Blatt am Montag geschrieben und erst heute zur Post gegeben worden sein.«
»Das ist möglich.«
»Und wenn dem so ist, so mag wohl inzwischen manches vorgegangen sein.«
»Ach, Herr Holmes, Sie dürfen mich nicht entmutigen. Ich weiß es gewiß, daß es gut mit ihm steht. Zwischen uns besteht eine so innige Seelengemeinschaft, daß ich es empfinden müßte, wenn er von Unheil bedroht wäre. Gerade an dem Tage, als ich ihn zum letztenmal sah, schnitt er sich im Schlafzimmer in den Finger, und obwohl ich im Eßzimmer war, eilte ich hinauf, in der unumstößlichen Gewißheit, es müsse ihm etwas widerfahren sein. Glauben Sie denn, daß, wenn ich schon bei einer solchen Kleinigkeit in Mitleidenschaft gezogen werde, ich nicht auch um seinen Tod wissen sollte?«
»Ich habe schon zu vieles erlebt, um nicht davon überzeugt zu sein, daß das Gefühl einer Frau oft mehr Wert haben kann, als die Schlußfolgerungen eines kühl zergliedernden Verstandesmenschen. Und in diesem Briefe besitzen Sie unzweifelhaft ein starkes Beweisstück für Ihre Behauptung. Doch, wenn Ihr Gatte am Leben ist und sogar fähig, Briefe zu schreiben, weshalb bleibt er Ihnen dann fern?«
»Ich kann es mir nicht denken. Es ist mir unbegreiflich.«
»Und machte er denn beim Weggehen am Montag keinerlei Andeutung?«
»Nein.«
»Und Sie waren überrascht, als Sie ihn in der Swandamstraße sahen?«
»Außerordentlich.«
»Stand das Fenster offen?«
»Ja.«
»So hätte er Ihnen also zurufen können?«
»Jawohl.«
»Doch stieß er, soviel ich weiß, nur einen unartikulierten Schrei aus!«
»Ja.«
»Den Sie für einen Hilferuf hielten?«
»Ja. Er erhob die Hände.«
»Es kann aber auch ein Ruf der Überraschung gewesen sein. Vielleicht veranlaßte ihn Ihr unerwarteter Anblick, die Hände emporzuheben.«
»Das kann sein.«
»Kam es Ihnen vielleicht nur so vor, als ob er nach rückwärts gerissen worden sei?«
»Er verschwand ganz plötzlich.«
»Er kann auch zurückgesprungen sein. Sie sahen doch sonst niemand im Zimmer?«
»Nein, aber jener entsetzliche Mensch hat zugegeben, daß er dort war, und der Malaie stand an der Treppe.«
»Ganz recht. Und Ihr Gemahl hatte, soviel Sie sehen konnten, seine gewöhnlichen Kleider an?«
»Ja, aber ohne Kragen und Krawatte. Ich sah seinen bloßen Hals ganz deutlich.«
»Hat er je einmal von der Swandamstraße gesprochen?«
»Niemals.«
»Konnten Sie je Zeichen von Opiumgenuß an ihm entdecken?«
»Niemals.«
»Ich danke Ihnen, Frau St. Clair. Dies sind die Hauptpunkte, über die ich vollständig im reinen sein wollte. Lassen Sie uns nun etwas zu Abend speisen, dann wollen wir uns zurückziehen, denn morgen wird es einen unruhigen Tag für uns geben.«
Ein großes behagliches Zimmer stand für uns bereit, und bald lag ich in den Federn, denn ich war müde von dieser Nacht voll Abenteuer. Sherlock Holmes dagegen war ein Mensch, der tage-, ja eine ganze Woche lang in rastloser Tätigkeit ausharren konnte, solange ihn ein ungelöstes Problem beschäftigte. Er beleuchtete es dann nach allen Seiten, wälzte es hin und her, war unermüdlich, das Beweismaterial neu zu ordnen, bis er die Lösung endlich gefunden oder sich überzeugt hatte, daß die Beweismittel ungenügend waren. Es wurde mir bald klar, daß er sich auch heute zu einer Nachtsitzung vorbereitete. Nachdem er Rock und Weste abgelegt hatte, hüllte er sich in seinen großen blauen Schlafrock und zog im Zimmer umher, auf der Jagd nach Kissen, die er sich von Bett, Sofa und Armstühlen zusammenlas. Damit baute er sich eine Art orientalischen Diwan, auf den er sich mit gekreuzten Beinen niederließ, und vor ihm lag ein Paket Rauchtabak und Streichhölzer. Bei dem matten Lampenschein sah ich ihn dort sitzen, eine alte Tonpfeife im Munde, die Augen wie geistesabwesend auf die Zimmerdecke gerichtet, von blauen Rauchwolken umhüllt, schweigend, unbeweglich, die scharf geschnittenen Gesichtszüge vom Lichte beschienen. So saß er da, als ich in Schlaf versank, und so saß er noch, als ein Ausruf mich weckte, und die Sommersonne bereits in unser Zimmer schien. Noch stak ihm die Pfeife im Munde, noch kräuselte sich der Rauch empor, und der Raum war von dichtem Tabaksqualm erfüllt; aber von dem Häufchen Rauchtabak, das ich in der Nacht gesehen hatte, war nichts mehr vorhanden.
»Bist du wach, Watson?« fragte er.
»Ja.«
»Bereit zu einer Morgenfahrt?«
»Gewiß.«
»Dann kleide dich an. Niemand rührt sich noch, doch weiß ich, wo der Stallknecht schläft, und den kleinen Wagen wollen wir schon herausbekommen.« Dabei lachte er in sich hinein, seine Augen funkelten; der ganze Mann schien völlig ausgewechselt zu sein und nicht mehr der düstere Denker der verflossenen Nacht. Beim Ankleiden sah ich auf die Uhr. Kein Wunder, daß sich noch niemand rührte. Es war erst fünfundzwanzig Minuten nach vier Uhr. Kaum war ich fertig, als Holmes mit der Nachricht zurückkam, daß jetzt angespannt werde.
»Ich muß eine meiner Theorien erproben«, sagte er, indem er seine Stiefel anzog. »Watson, meiner Ansicht nach siehst du hier einen der größten Esel in ganz Europa vor dir stehen. Ich verdiene einen Fußtritt, daß ich von hier bis Charing-Croß fliege. Aber den Schlüssel zu dieser Geschichte glaube ich jetzt gefunden zu haben.«
»Und wo ist er?« fragte ich lächelnd.
»Im Badezimmer«, erwiderte er. »Jawohl, ich scherze nicht«, fuhr er fort, als er mein ungläubiges Gesicht sah. »Soeben war ich dort und habe ihn hier in dieser Ledertasche mitgenommen. Vorwärts, mein Junge, wir wollen sehen, ob er nicht zum Schloß paßt.«
So leise als möglich schlichen wir die Treppe hinab und traten hinaus in die klare Morgensonne. Auf der Straße stand unser Gefährt mit dem halbangekleideten Stallknecht, der den Gaul hielt. Rasch stiegen wir ein, und fort ging’s auf der Londoner Straße. Vereinzelte Bauernwagen, die Gemüse nach der Weltstadt brachten, machten zwar einigen Lärm, aber die zahlreichen Landhäuser zu beiden Seiten des Weges lagen still und leblos da, wie eine in Traum versunkene Stadt.
»Dieser Fall ist doch in mancher Beziehung recht merkwürdig«, sagte Holmes und trieb sein Pferd zum Galopp an. »Blind wie ein Maulwurf bin ich gewesen, das muß ich gestehen, doch ist es immer noch besser, man wird erst spät klug, als gar nicht.«
In der Stadt sahen eben die ersten Frühaufsteher mit verschlafenen Augen zum Fenster heraus, als wir durch die Straßen des Surreyviertels fuhren. Durch die Waterloo-Brückenstraße hinab kamen wir über den Fluß, wandten uns dann zur Rechten und gelangten in die Bowstraße. Sherlock Holmes war auf der Polizei wohlbekannt, und die beiden Schutzleute vor der Tür begrüßten ihn. Einer hielt das Pferd, während der andere uns hineinführte.
»Wer hat Dienst?« fragte Holmes.
»Wachtmeister Bradstreet.«
»Ei, guten Tag, Bradstreet, wie geht’s?«
Ein großer, stattlicher Beamter kam in Dienstmütze und Uniform den mit Steinfliesen belegten Gang herab.
»Könnte ich ein paar Worte mit Ihnen sprechen, Bradstreet?«
»Gewiß, Herr Holmes. Treten Sie nur hier in mein Zimmer ein.«
Es war ein kleiner büromäßig ausgestatteter Raum, ein riesiges Hauptbuch lag auf dem Tisch, und ein Telephon ragte aus der Wand hervor. Der Wachtmeister setzte sich an sein Pult.
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