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Anke Stelling
Brausen Schrägstrich Abspülen

Flanieren heißt, sich um nichts zu kümmern. Wer sich erlauben kann zu flanieren, kann sich erlauben, sorglos zu sein.

Zu Hause ist nichts los. Zu Hause ist egal.

Vielleicht fliehst du es, ja? Dein Zuhause. Dann kannst du dir das wohl erlauben. Dann kommt es problemlos ohne dich aus.

Es steht fest. Steht stets zur Verfügung. Wartet ungerührt auf deine Rückkehr, weint nicht nach dir.

Ist da überhaupt wer? Wenn ja, dann niemand, der dich interessiert. Der es wert wäre, näher betrachtet zu werden.

(Sag noch mal schnell, wer genau ist da? Familie? Kinder? Eine treu für dich sorgende Schrägstrich nörgelnde Mutter, eine Haushälterin oder einfach nur der Muff eingestaubter Bücher, ungelüfteter Decken und des Geschirrtuchs, das du seit Wochen schon benutzt?)

Es ist nicht das, was dich ausmacht. Du bist Flaneur.

Draußen, das ist dein Zuhause. Die Öffentlichkeit. Derer wirst du habhaft, da pulsiert das Leben, leuchtet die Reklame, braust der Verkehr.

Du mittendrin, mit Schirm, Charme und Melone, Gamaschen, Notizbuch – nein, halt, das war früher. Litfaßsäulen werden jetzt abmontiert.

Du aber dennoch mittendrin, mit dem Rucksack auf dem Rücken, der Laptoptasche unterm Arm. Gutes Schuhwerk, nachlässig Schrägstrich elegant. Schwarzer Mantel geht immer – und reicht auch als Zitat.

So gehst du durch die Großstadt, zu Fuß und offen für Eindrücke. Derer gibt es viele: Die Plakatwände sind heute elektrisch, wechseln im Sekundentakt, sind mancherorts gleich vollständig durch Monitore ersetzt.

Darüber machst du dich lustig. Notierst, was du siehst, beschreibst den Umbau der Umgebung, die Passanten, die dir kopflos erscheinen – du ersetzt ihnen den Kopf, erledigst für sie das Denken, du stellst haufenweise Fragen, stellst scharfsinnige Beobachtungen an.

Du siehst, was andere nicht sehen. Du hast Zeit und die nötige Hingabe. Du hast einen Sinn für Details, weißt Zusammenhänge zu erspüren, bist gebildet und zugleich ein Freund einfacher Leute. Ha! Wer sind die denn? Du jedenfalls nicht.

Du stehst drüber, hältst dich wacker. Hältst dich raus, bist außen vor.

Du schaust von draußen, bist nicht wirklich beteiligt, hast es nicht nötig, dich gemein zu machen mit dem Rest der Welt.

Irgendwie kann ich dich nicht leiden. Hast du schon gemerkt, nicht wahr?

In meinen Augen bist du ein verwöhntes, sichersattes Söhnchen, das publikumswirksam Bohèmeleben spielt. Nur so tut, als sei es ungebunden; in Wahrheit hast du deine Leserschaft im Rücken, ihr gibst du den Künstler, kriegst es im Feuilleton gedankt.

Da sitzen sie, Typen wie du (nur fett in Redaktionen statt fesch verloren auf der Straße) – solchen befriedigst du stellvertretend das Bedürfnis nach Freiheit und Freizeit, servierst ihnen kluge Gedanken, sodass sie glauben können, sie hätten sie selbst gedacht.

Mir ist sie peinlich, deine Pose. Im wahrsten Sinn des Wortes: Sie schmerzt.

Seit hundert Jahren bist du schon derselbe, du bist so albern und dennoch nicht wegzudenken, du bist stark, du bist Teil der literarischen Tradition.

Also versuche ich, es dir gleichzutun.

(Ich, die Mutti, die Hausfrau, die Alte mit dem Wasser in den Beinen, mit den dicken Füßen, die nur noch in ausgetretene Latschen passen – so kann ich nicht nach draußen gehen. Nur beständig hin und her, zwischen Herd und Spülstein und Wäscheboden – nein falsch, eine Waschmaschine mit integriertem Trockner steht mir heutzutage sehr wohl zur Verfügung, doch das Zusammenlegen muss immer noch sein. Wer legt sie dir zusammen, deine Wäsche? Ja, gut, ich weiß schon, du wechselst einfach nicht.)

Ich also die andere, die all das ist, was du nicht bist. Mach mich auf den Weg, auf deine Spur, hinein ins bunte Treiben!

Zu Hause heißt das derweil: sich selbst überlassen. Kann ja sein, dass nichts passiert. Jedes Martinshorn, das meine Ohren trifft, ermahnt mich; ich zwinge mich, ich werde mich zwingen, ungebunden zu sein.

Und ich sehe. Ja, guck an! Ein altes Telefonhäuschen. Ist inzwischen nutzlos, war mal zu was gut. Im Rinnstein liegt noch Laub vom Vorjahr. Ein halbes Brötchen lockt die Tauben; da kommt die Dicke, geht gurrend auf die Dünne los. Die Dünne mag nicht, die Dicke will’s nicht glauben. An der Wand ein kritzliges Graffiti – für Großbuchstaben hat die Dose nicht gereicht.

Weiß der Himmel, wie du das durchhältst. Auf Dauer macht das doch paranoid. Nur du und die Zeichen … Was tust du, wenn es dir zu viel wird? Ach ja, richtig! Du suchst dir ein Café.

(Da sitzt er, der Flaneur, dem die Stadt allzu dicht auf den Leib gerückt ist. Betrachtet zum Ausgleich mal die Brüste der Bedienung, die ihm einen großen Braunen serviert. Nein, halt, das war in Wien, als euereins eure große Zeit hattet – jetzt und hier vielleicht einen Cappuccino? Einen Espresso!, klar, du bist tapfer, du brauchst keine Milch.)

Serviert noch immer von einer freundlich sorgenden Schrägstrich nörgelnden Bedienung, mir bringt sie auch was, sie wird dafür bezahlt.

Das Zeug in der Vitrine hat auch jemand gebacken. Und den Boden gewischt, stell dir vor.

Nein, tust du nicht, dir ist das alles selbstverständlich: Was es braucht, damit du den Flaneur spielen kannst.

Komm, gib’s auf, wir gehen jetzt nach Hause. Du darfst dich bei mir unterhaken, wird schon keiner sehn.

Du und ich, gemeinsam durch die Großstadt. Durch ihr Brausen, das uns Angst macht – und uns belebt.

Guck mal, da! Ein Busfahrer hinter seinem Steuer. Hat bald Dienstschluss, geht dann auch nachhaus. Wo hoffentlich Spaghetti Bolognese auf ihn warten, allerbestes Trostessen, gekocht von seiner Frau. Geliefert von Foodora? Pinke Warmhalteboxen, pinke Rücken, pinke Aufkleber, wohin das Auge schaut.

Kannst du mich mal ein Stückchen tragen? Ich massier dir dann die Füße, später, wirklich, ich versprech’s. Und ich weiß, du musst auch mal allein sein. Ist okay, na klar, das muss ich auch.

Lass uns Schluss machen. Jetzt. Mit dem Blödsinn. Und gemeinsam das beschreiben, was wirklich auf dem Weg liegt: Unser Hunger nach Alleinsein und der Hunger nach dem andern, der einem den Hunger stillt. (Mit Worten Schrägstrich Pasta, Brüsten, Schwänzen, Brausen und Weglaufen. Mit Ausharren Schrägstrich die Ruhe bewahren, du weißt schon: die Liste ist lang.) Lass sie uns beschreiben: Meine Paranoia, ausgelöst von Firma Martin. Deine Hoffnung, dass es dich – stets mittendrin – vielleicht nicht trifft.

An vielen Fassaden siehst du nur noch den Schimmel, diese Stadt wurde seit Jahrhunderten nicht mehr gelüftet

Karin Peschka
Favoritenstraße

So müssen wir nun doch unsere Füße in die Stadt tauchen.

Sehr früh am Morgen machten wir uns auf den Weg zum Bahnhof, es lag noch etwas Schwarzes zwischen den nachtigen Bäumen, die unsere Alm so schön flankieren. Bevor wir aufbrachen, hatte Berlin mich gefragt, welche Schuhe sie anziehen solle, weil: Zwei Paar besitze sie nurmehr. Zwei! Hielt beide in die Höhe, mir vor die Nase. Links die Böcke vom Berg, rechts die Sandalen von und zu Strandpromenade (so heißen sie bei Berlin).

Ich wollte nicht nach Wien fahren, Salzburg wäre näher gelegen, Linz, von mir aus, München auf keinen Fall. Aber das, was wir suchen, brauchen, zu besorgen haben, gibt es nur hier. Liegt bestellt und zur Abholung bereit, und wenn wir schon da sind, dann. (Sollen wir deine Mutter besuchen, sollen wir eine Bank überfallen?)

»Hast du die Liste eingepackt?«

Berlin hört nicht, sie steht vor einem Ticket-Automaten. Im Hauptbahnhof hat’s ein Gewusel, gut, wenn man’s weiß und sich drauf vorbereiten kann.

Ob er der jungen Dame behilflich sein darf. Der Mann ist ein Oberlippenbart, es ist der Bart, der die Frage stellt, das Gesicht und die Figur (über einsfünfundachtzig groß, neunzig Kilo schwer) statieren dem Bart. Ich stelle mich neben Berlin, sehr nah. »Ah, die Frau Mama?« Wir bräuchten vor den neuen Ticket-Automaten keine Angst zu haben, sie wären sehr (wirklich sehr!) benutzerfreundlich. Zuständig für Fern-, Nah- und Stadtverkehr, Taxidienst und Leihwagenservice. Ich beuge mich ein wenig hin zum Bart, mit schiefem Kopf, fehlt noch, dass ich die Hand hebe und ihm etwas Imaginiertes von der ÖBB-Jacke staube. Wenn ich will, kann ich alt sein. »Benutzerinnenfreundlich«, korrigiert sich der Bart und tritt einen Schritt zurück.

»Nein danke«, sage ich, »wir haben nicht weit, wir gehen zu Fuß.« Nehme die Nichttochter an die Hand, sie aber (Berlin eben) schlägt die meine weg, nur ein leichter Klaps, stattdessen schlingt sie mir den Arm um die Hüfte, küsst meine rechte Wange und flüstert laut genug: »Komm Liebling.« Wir stelzen davon, ich, die ich ihre Großmutter sein könnte, das ginge sich aus, jawohl, umschmiegt von Berlin. Wir lösen uns voneinander, bevor uns der Mann aus den Augen verlieren kann. Eine Scharade, wie alles.

Ich möchte bitte gern und schnell durch Tag und Stadt, und am Abend, von mir aus in der Nacht mit dem letzten Zug, zurück in den Pinzgau fahren. Ich möchte, wie geplant, und was planen wir schon, bis zu den Knien im Bergsee stehen, um die Wette, wer hält die Kälte länger aus? Andererseits steigen wir in diesem Moment in die Sonne und lassen die Lautsprecherdurchsagen und das Ding-Dang-Dong und Rollkoffergeschiebe zurück in der Bahnhofshalle. Andererseits brennt hier die Hitze deutlich und asphaltgespiegelt uns die Beine hinauf, was schön ist.

Auf gut Glück, lang ist’s her, dass ich in Wien lebte, biegen wir in die Favoritenstraße ein. »Schau«, sagt Berlin nach einer Weile. In den Boden eingelassene Düsen verwandeln ein paar Quadratmeter Stadt in einen Springbrunnen, durch den sich nasse Kinder kreischen, ein Parcours, eine Rennstrecke mit Fontänen, die hier einsetzen, dort aussetzen, woanders erneut einsetzen. Ein barfüßiges kleines Mädchen steht dirigierend im Sprühnebel.

»Sina?« Bin da, bin da. War weg, war weg. Wir gehen, ich ziehe die Erinnerung hinter mir her, könnte sie auch loslassen, aber warum. Im Übrigen ist das die falsche Richtung. »Gerade aus«, erkläre ich Berlin und strecke die Hand, »ein paar Kilometer weiter.« Wenn wir baden wollten nämlich (was wir nicht wollen, ich erzähle es nur so), dort läge ein Schwefelbad, das vor ein paar Jahren sehr modern war. Steht man davor, freut man sich, weil es nach fauligen Eiern riecht, und … Ob es ein Freibad ist, fragt Berlin. Wenn nicht, warum sollte sie dann mitten im Sommer, und an der Costa del Sol war es schön, sie mag die Alm, natürlich, die Alm ist großartig (sagt sie), und alles, aber der Strand und Spanien und

»Pau«, rate ich. Schau hinüber auf ihre Reaktion: ein Lächeln. »Pau«, sagt Berlin und wendet sich nach innen. Selten seh ich das an ihr, das Inwendige. Muss ich lassen, muss mich ein wenig vor ihr platzieren beim Gehen, in der richtigen Distanz, die Frau bleibt hinter mir, egal, wohin ich mich wende. Nur ab und zu kontrolliere ich unsere Zweisamkeit im Fensterspiegel einer Auslage. In ihren Sandalen tritt Berlin sehr sacht auf. Ihr Auftreten erinnert mich an das Insekt, das sich am Abend unserer Begegnung auf ihrem Arm niedergelassen hatte, an ihr Wispern (Hallo, kleines Ding), an die andere Hitze, an die nächtliche Terrasse, den Zikadenlärm und den Duft der Revoluzzerpflanze.

In der Favoritenstraße hingegen. Hat sich wenig geändert. Sie fühlt sich an wie früher. Nur mit anderen Kleidern, Fassaden, Werbeschildern. Aber geändert hat sie sich kaum. Gehört den Leuten, wird gequert von ein paar Straßen mit Ampelregelung. Wir haben grün und wieder grün.

Viele Häuserfronten später (Handygeschäft, Bäckerei, Kindermode, Herrenfriseur …) schweigen wir nach wie vor. Dann hält Berlin mich zurück, wortlos und deutlich. Setzt sich an einen von fünf weißen Tischen im Schatten einer Markise. Sie klopft auf den freien Sessel. Jetzt bin ich es, die folgt. »Willst du etwas trinken?«, frage ich. Vorsichtig, mitfühlend, vermute ein Sehnen, wo vielleicht keines ist. Denn Berlin sagt: »Klar!« Und entspannt sich. Zurückgelehnt, lächelt den Kellner an, lächelt eine junge Frau an, die ein hübsches Kleinkind an der Hand führt, lächelt drei alte Herren an, die langsam an uns vorbeigehen (in die Richtung, aus der wir gekommen sind), sich in einer fremden Sprache unterhaltend. Einer hat einen Hund an der Leine, der jemandem ähnlich sieht. Wem? Wir kommen nicht drauf. Erst als der Hund, ein braun-schwarzer Zottel, sich nach uns umdreht. Die drei Männer (keiner größer als einsfünfundsechzig, alle tragen Anzugjacken zu Stoffhosen) bieten sich mit runden Gesten Zigaretten und Feuer an.

»Der Hund schaut wie Pau«, stellt Berlin fest. Und es stimmt, der von Stirnfransen verhängte Blick ist jener des katalanischen Portiers, der zwar keine Stirnfransen hat, sondern.

»Da!« Berlin zeigt auf eine Frau, vielleicht Anfang zwanzig, sie schiebt ein Fahrrad und summt eine Melodie. Die Sonnenbrillen verdecken die Augen, aber die Frisur, ganz kurz geschnittene Haare, was heißt geschnitten, geschoren! Paus Frisur.

Ein neues Spiel ist gefunden: Wir bauen Pau. Modul für Modul. Haben den Blick des Hundes (der kein Hundeblick ist, sondern der eines Menschen, das muss festgehalten werden). Wir haben die Frisur der Fahrradfrau. Wir haben, darauf einigen wir uns schnell, sogar die Figur des Katalanen, es ist jene des oberlippenbärtigen ÖBBlers. (Nimm ihm die Uniform weg, steck ihn in eine andere, mit einem blinkenden Orden am Revers.)

Wir suchen nach, wir suchen nach … Ich schlage die Hände vor, Berlin zeitgleich die Kopfform. Der Schatten der Markise wandert, Berlin sucht Hände, ich den Kopf. Der Kellner, der uns neue Getränke bringt, wird gemustert, den Scheitel können wir nicht sehen, die Sohle können wir nicht sehen, aber das Dazwischen. Eine an ihn gestellte Frage verwickelt ihn zum Verweilen, er lässt sich darauf ein. Es ist kurz nach elf, noch knurren die Mägen der Umgebung nicht, in den Büros, Laboren und Praxen über den Geschäftsauslagen. Sein Chef mache guten Umsatz, vor allem mit den Mittagsmenüs, verrät uns der Kellner und blickt auf seine Uhr. Paus Geste! Aber sonst ist er, obwohl nett, nicht sehr ergiebig, weder Kopf noch Hände stellen uns zufrieden.

Ein drittes Getränk, wir sollten weiter. Und zahlen. Bar? Nein, ich habe die Kreditkarte mitgenommen und hoffe, sie ist gedeckt. »Haben wir denn Bargeld dabei?«, flüstert Berlin. Ich schüttle den Kopf, zwar ja, aber wir bräuchten es für das andere, sie wisse, wo­für. Worauf sie den Atem anhält, während der Kellner mit der Karte hantiert.

Streckt sich dann im Aufstehen zu ihrer vollen Größe, lächelt wie zuvor, ist frei, leicht und unbeschwert genug, um weiterzuspielen. »Los«, sagt sie, zieht mich von den Tischen weg hinein in den Menschenstrom, der zugenommen hat, der aufwallt in Geschäftigkeit, es ist ein Arbeitstag, Boten liefern, Lehrlinge erledigen Besorgungen, eine Blumenhändlerin ordnet ihre Blumen, stellt rote Rosen neben gelbe Gerbera, prüft das Bild, ist zufrieden.

Und ich? Ich lasse mich ziehen, Berlin vor mir, leicht schräg, höre ihr zu (und nicht), sie hat etwas Pau’isches entdeckt, das müsse ich mir ansehen und vor allem sie selbst müsse das noch genauer sehen, aus der Nähe, sie könne sich täuschen, glaube aber fest, dass nicht, und daher. Und daher verfolgen wir jemanden, in eine Nebenstraße (halt, denke ich), ein Markt ist es (halt, denke ich), es werden uns (die wir nicht hungrig sind) Feigen und Karotten angepriesen, es werden uns Falafel, auf kleine Holzspieße gesteckt, in den Weg gehalten (ganz frisch, kosten Sie, meine Damen, gratis, meine Damen, halt, denke ich). Durch den Markt zieht mich Berlin, am Ende ist das Ende, dort setzt sich der Mann, dem etwas vom Katalanen gehören soll, auf den nackten Gehsteig, stellt einen schmutzigen Pappbecher vor sich hin und beginnt, im leisen Singsang sich zu wiegen.

Berlin steht starr. Ich frage mich, was der arme Mann haben könnte, das an Pau erinnert. War es die Nase, das Kinn, die Art, wie er sich beim Gehen bewegt, der Mund, eine kleine Fehlstellung der Zähne. Beide stehen wir starr. Ein Schneidezahn über den anderen geschoben, ganz wenig nur, ein lieber Makel. Das ist nicht Pau, das ist die Erinnerung an jemand anderen.

Das ist eine feine Kanüle hineingestochen in etwas, das sich einen Weg bahnt. »Wir müssen zurück zur Favoritenstraße«, sage ich, denn ich werde, wie immer, schneller sein, mag bahnen sich, was will. »Ok«, antwortet Berlin. Steckt dem Mann einen Falafelspieß in den Becher, es tue ihr leid, sie habe nicht mehr bei sich, lächelt und wird zurückgelächelt. Er dankt. Er nickt, ohne sein Singen zu unterbrechen.

Die Hitze strahlt von allen Seiten, tiefblau und weiß. Ist in den Geräuschen, unseren Schritten, ist angekommen in unseren Köpfen. (Greif an dein Haar, wie heiß es ist.) »Was jetzt?«, fragt Berlin und wischt sich die Stirn. Hinter uns kläffen winzige Spielzeughunde im Stakkato, ein Riesenrad aus zusammengesteckten Bauklötzen dreht sich, Plastikpistolen haben einander im Visier. Ob wir Lanzo etwas mitbringen sollen? Ein Stoffpüppchen (ein kleiner Komödiant im karierten Kostüm), ein Häschen in Kunstpelz, sie streicht ihm über das weiße Fell. Nein, sage ich. Das dürfen wir nicht.

Wir müssen ans andere Ende Wiens. Holen, was bestellt, bereitgelegt und nur gegen Barzahlung uns ausgehändigt werden wird. Wir müssen hier, wo die Favoritenstraße Fahrt aufnimmt, wo sie sich teilt in Schienen und Verkehr, uns entscheiden zwischen U- und Straßenbahn, zwischen schnell und langsam, quer durch oder in Umwegen.

Das zweite lockt mehr. Überirdisch in die Stadt eintauchen. Jedoch, wer hätte gedacht, dass eine alte Frau (älter als ich) sich nähert eindeutig mit Anzeichen katalanischer Gelassenheit. Bevor Berlin den Gedanken aufgreift, der mir auf der Zunge liegenbleibt, bevor sie das Pol-Spiel aufnehmen will, erweitert um Charakter und vermutete Sternzeichen (Berlin eben), bevor Lücken wieder feine Kanülen zeugen. Deute ich zu den Treppen, die zur U-Bahn-Station führen.

»Ab in den Untergrund«, sage ich. Berlin lächelt nicht, sie lacht. Stapft auf mit ihren Sandalen und tut, als ob sie salutiert.

Luna Ali
Auf halber Strecke

»Wie lässt sich das Draußen eines Textes denken?«

Jaques Derrida, Die différance

Also begann ich meinen Untergang in die Stadt mit den gelben Armen und dem grauen Schleier, den nur der blaue Himmel aufzuraffen weiß. Ich stieg hinab an ihren Gefährten vorbei, so unterschiedlich wie das Menschengeschlecht. Die Hochhäuser weichen dem Abhang. Ein Range Rover fährt vorbei. Ein Hochzeitsgeschäft erscheint. Gefolgt von einer Wechselstube – Western Union – Retter in Not. Dann wechseln sich die Modeboutiquen, die Bars, die Sushi-Bars und einige spezialisierte Geschäfte für Gardinen, Bilderrahmen und Schaufensterpuppen ab, wieder eine Bar, eine Burger-Bar. Die Fassaden von einer Straße unterbrochen. Das Elektrizitätsgebäude steht auf acht Füßen. Zehn Stockwerke ragt es in die Höhe. Fenster an Fenster an Klimaanlage an Fenster. Mir stellt sich die Frage, was wahrscheinlicher sei, ein zweiter Bürgerkrieg oder das Ende der Stromausfälle. Während ich darüber nachdenke, kommt mir ein kleines Mädchen entgegen. Mit ausgestreckten Armen. Ich versuche auszuweichen. Ein Laden mit Büromöblierung verströmt den Geruch einer Konfession. Weihrauch, Weihrauch, Weihrauch so viel, dass der, dessen Nase die Trinität nicht für wahr hält, besser einen Bogen um den Laden machen sollte. Meine Nase juckt. Eine neue Bar hat aufgemacht. Vorbei an Gesichtern in Abstufung von Weiß über Braun bis Schwarz, die Augen von rund bis mandelförmig, die Haare von blondiert bis schwarz, von Kopftuch mit Bart bis bauchfrei beim Joggen.

Diese Stadt, an deren von syrischen Händen gebauten Häusern steht Syrer kehr’ um, du Verräter, deren Taxifahrer sich beschweren Sie haben 155 Angestellte für die Bahngesellschaft. Die Bahn, die seit 1975 nicht mehr fährt, die Bahn, deren Gleise irgendwo in Mar Mikhail anfangen, einige Meter später wieder aufhören und erst an der Grenze zu Israel weitergehen. Ja, sie haben noch 155 Bahnmitarbeiter. Für den Notfall, falls wir im Stau stehen. Ein Lachen geht um in Beirut. Das Lachen derer, die lachen und sich dabei das Geld in die Taschen stecken. Das erzähle ich Ahmad, meinem Mitbewohner in dieser Stadt. Na, wenigstens haben sie was zu lachen, sagt Ahmad. Er ist der Zweitgeborene einer Familie aus Zahle, einem Ort nah der Grenze zu Syrien. Wenn es regnet, dann glauben sie statt der Donnerschläge Bomben zu hören. Ein Auto schneidet uns den Weg ab, während wir über Religion reden. Er verstünde jetzt erst, was das Schiitentum für ihn bedeute und was es mit dem Christentum gemein habe – die Sehnsucht nach dem Messias. Und warum die Hisbollah so populär sei – er sei vor kurzem zum ersten Mal im Mleeta Tourist Site gewesen. Dass man Nagib Mahfus mit seiner Parabel über die Weltreligionen Recht geben müsse. Es gäbe derzeit achtzehn Propheten in diesem Land und keinem sei zu trauen. Wir reden ganz so, als würden wir uns nicht verstehen, aber eigentlich sind wir uns einig, die Dringlichkeit im Ton verfliegt und die Verwunderung, jemanden zu finden, der einem nicht widerspricht, überrascht uns beide.

Am Ende der unteren Gemmayzeh Street stehen wir an einer großen Kreuzung. Zur Linken das Meer. Es liegt da, im Hafen ein paar Yachten. Unter uns begraben, liegt die Decumanus Maximus und erinnert an die weit zurückliegenden Höhen und Tiefen der Stadtgeschichte. Eine Stadt der Rechtslehre, um dann im Feuer und in der Flut unterzugehen und von den Arabern wiederentdeckt zu werden. Zur Rechten erstreckt sich der Märtyrerplatz. Eine Statue in der Mitte erinnert an den Aufstand gegen die Osmanen. Leuchtend blau erstrahlt die Kuppel der al-Amin-Moschee am Ende des Platzes. Die gelb schimmernden Steine unterstreichen die Behauptung, sie throne hier schon zweihundert Jahre, während sie in Wirklichkeit kaum acht Jahre alt ist. Ein Nachbau finanziert von Rafiq al-Hariri, der in einer Gedenkstätte direkt daneben liegt. Jedes Stück Pflaster dieses Platzes ist hart umkämpft, deshalb ist der überwiegende Teil ungepflastert. Parkplätze umrahmen ihn und Baukräne umsäumen ihn. Er ist im ständigen Werden. Wir laufen auf Geschichte und durchqueren sie im Eiltempo. Dreißig Jahre lang war dieser Platz die Grenze zwischen Ost und West. Heute erstrahlt Downtown in osmanisch-gelben Tönen. Stein für Stein hat die Firma Solidere diesen Fleck so hergerichtet, dass saudische Touristen hier ungestört ihren Urlaub verbringen können. Wir kommen am Parlament vorbei. Stacheldraht versperrt die Eingänge, Soldaten mit geschulterten Gewehren sind die Wachhunde und die Wachhunde das Warnsignal. Ahmad erklärt den Grund: Der Anschlag 2014 auf den Justizminister oder den Finanzminister, ich weiß es nicht mehr genau. Auf der anderen Straßenseite kommen wir am ehemaligen Souk vorbei. Kleider, Schmuck, Pralinen in den Auslagen. I <3 Beirut in menschengroßen Buchstaben für die Selfie-Fraktion.

Ich muss Schritt halten, wir haben eine Verabredung. Das eintönige Osmanisch-Gelb weicht der nächsten Baustelle. Die nächste große Kreuzung könnte irgendwo in New York sein oder in irgendeiner anderen modernen Stadt mit Wolkenkratzern aus Glas. Um dieses Gebäude – Ahmad deutet auf ein Bauskelett mit leeren Fensterhöhlen – haben sie zwei Jahre gekämpft. Keine Geiseln, nur Gewinner verließen das Schlachtfeld. The Battle of the Hotels. Der Jackpot war der Safe einer Bank. Ein side conflict im big conflict. Irgendwo hier soll nun ein Bürgerkriegsmuseum entstehen.

Mein Professor wird dir gefallen, sagt Ahmad. Wir biegen ab, steigen einen Straßenhügel hoch, laufen weiter, erreichen die Bliss Street. Eine Fastfoodkette neben der anderen, zwischendurch ein paar Restaurants, die noch keine Kette sind. Gegenüber eine Mauer. Der Eingangsbereich ist unauffällig. Ein rundverziertes Tor in der Mitte führt uns auf das Gelände der American University. Fahnen wehen und verkünden das 150-jährige Bestehen. Das überraschende Grün, die ausladende Treppe abwärts macht den Unterschied zwischen dort draußen, dem Chaos, und hier drin deutlich. We make history steht auf den Fahnen. Ahmads Professor, Fach Philosophie, begrüßt uns: Welcome to my garden.

Die Begrüßungsrunde: Ich, Praktikantin bei einer deutschen NGO, erst seit einer Woche hier, in Syrien geboren, in Deutschland aufgewachsen, auf der Suche nach syrischen Autoren. Er sagt: Ach ja, da war ich als junger Student. Ich habe in der Mondscheingasse gelebt, und führt uns an der Bibliothek vorbei zum Oval Garden, eine grüne Wiese umstellt von Gebäuden. Vom ottoman chic über french colonial bis zu neofuturistischer Architektur der kürzlich verstorbenen irakischen Architektin Zaha Hadid. Ihr Gebäude sieht von der einen Seite so aus wie ein langgezogener alter Computerbildschirm, und von der anderen wie eine Trillerpfeife. Natürlich gibt es auch hier ein Rafiq al-Hariri-Building. Eine halbe Stunde später, am Sportgelände und vielen Bäumen vorbei, sind die Fronten geklärt. Das kann doch nichts werden, wird mir erklärt, einmal bin ich mit einem Kollegen hier langspaziert und er fragte mich ganz verwundert, warum so viele Studierende draußen seien, ob sie denn schon alle Bücher der Bibliothek ausgelesen hätten. Du zahlst, dann kriegst du deinen Abschluss. Die Leute sind faul, unordentlich, sie lassen sich von Despoten regieren, sie denken nicht selbst. Sie können ja nicht einmal richtig in einer Reihe parken. Ich erwidere: Aber einparken, das könnten die Europäer auch nicht so gut. – Du glaubst wohl an Edward Said. Er hat ja nicht Unrecht, sie konstruieren ein Bild von uns, aber wie sagt man so schön: Das Vorurteil verhält sich zur Wahrheit wie der Libanese zum Konfessionalismus. Keiner will es in die Welt gesetzt haben, aber das System bleibt bestehen, ya adamiyyeh. Er hält mich für einen Gutmenschen, naiv und betroffen, und ich ihn für einen typisch arabischen Intellektuellen, besserwisserisch und europavernarrt. Ich lasse Ahmad beim Professor und nehme ein Service-Taxi.

Seit wann bist du im Libanon?, fragt mich der Fahrer. – Eine Woche. – Und?, lacht er. Wir fahren an einer Tankstelle vorbei und steuern auf die Stadtautobahn. Das Gelb der Straßenlaternen macht einer concrete dystopia Konkurrenz. In den unzähligen Tunneln hängt der Feinstaub grau an den Wänden. Die Tunnel durchlöchern die Stadt und die unendlichen Abzweigungen lassen sich nur zu leicht als Metapher für die zahlreichen Parallelgesellschaften benutzen. Und dann sehe ich es: das erste Haus mit Einschusslöchern. Mit unzähligen Einschusslöchern. Pockennarbig oder sommersprossig, ein Klischee seiner selbst. An der Seite hat sich ein Graffiti-Künstler verewigt. Kleine, rote Tiere oder Monster nutzen die Löcher zum Stehen, zum Klettern, als Münder, Ohren oder Augen. Neben mir der Fahrer: Schön die kleinen Tierchen, oder? Aber guck mal auf die andere Seite.

Ein riesiges oval-quadratisches Gebäude auf Betonstelzen. Schwarz an einigen Stellen, an anderen ist der Beton abgebröckelt und lässt die rostroten Metallstreben wie blutende Palmen sprießen. Das Gebäude: eine Mischung aus einem halben Wal und einem U-Boot.

Das ist das Ei, sagt er mir. Sollte ein Kino werden. Keiner traut sich, das Ding abzureißen. Angst vor der Dubaization. Aber renovieren will es auch niemand. Und daneben ist die UN. Seit Jahren sterben ihnen die Zeugen für den Hariri-Fall weg.

Natürlich ein Glasgebäude. Er lässt mich am Elektrizitätsgebäude raus: Und pass auf dich auf!

Ich gucke mir das Gebäude genauer an. In einem der Fenster sieht man zahlreiche Aktenbücher aufgestapelt. Staubig, als hätte schon lange niemand mehr dieses Büro betreten. Die Aktenbücher erinnern mich an meine letzte Reise nach Syrien, als wir unsere Pässe beantragt hatten. Die Menschen drängelten und drängten auf die Beamten zu, die wie kleine Schulkinder an ihren Schreibtischen saßen. Man hielt ihnen wichtige Dokumente hin oder wedelte mit ihnen vor ihrer Nase, je nachdem welche Strategie man verfolgte. Wählte der Beamte einen aus, erhielt dieser einen Eintrag in die Aktenbücher.

Ich laufe die Armenia Street runter. Neben einem Kiosk steht ein kleiner Tisch mit Schmuck. Die Auslage ist überhäuft von Ringen und Armbändern, sie schlängeln sich ineinander, ein Chaos aus Einzelstücken; an der Wand hängen Ohrringe und Ketten. Ich greife nach einer Kette, ein Kreis verbunden mit einem Dreieck, die Struktur ist uneben, grob. Sch’ad?, frage ich den Schmuckverkäufer. – Sag es nochmal. – Wie viel? – Woher kommst du? – Aus Aleppo. – Wirklich? Sprich weiter. Bitte. Ich habe solange niemanden aus Aleppo gehört. – Sch’ad ha’o hada to’? Er lacht auf: Für dich nur zehntausend Lira. Und umarmt mich. Sprich weiter, bitte. – Über was? – Wo sind deine Eltern? Was machen die? – Mein Vater ist Kurde aus al-Hasakeh und meine Mutter ist Araberin aus Aleppo. Sie leben in Deutschland. – Den Kurden wird Gott noch danken, dass sie zum Richtigen standen. Wir hatten doch alles. Ist es so schwer, seine Meinung einfach für sich zu behalten? Ich lege den Kopf zur Seite: Ja, ein Mensch ohne Rechte ist kein Mensch, aber er kann leben. Was sind wir denn heute? Weniger als Zahlen.

Ich will einwenden, aber sehe die Sinnlosigkeit eines Streits vor mir, meine Wörter würden keine überzeugende Rhetorik entwickeln, ich verabschiede mich und gehe weiter, einfach weitergehen. Ich biege links ein und vor mir liegt sie: eine dieser elendig langen Treppen, für die dieser Stadtteil bekannt ist. Während ich diese Treppe hochsteige, 94 bunte Stufen, eine Nachbarschaftsinitiative zur Verschönerung dieser Stadt, merke ich auf halber Strecke, meine Wörter stammen aus einer Konservendose. Der Wortschatz meiner Mutter, ist meiner, ist mutiert.

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9783957324139
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