Ende einer Ehe

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Ende einer Ehe
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Inhalt

Titel

Copyright

Zitat

I

Die erste Kladde

II

Die zweite Kladde

III

Die dritte Kladde

IV

Die vierte Kladde

V

Epilog

Namensverzeichnis

Über den Autor

Adrian Ambrer

Ende einer Ehe

Roman

Copyright Adrian Ambrer 2015

Lektorat: Wilhelm Kiejewski

Zitat

„An allumfassende Liebe glaube ich nicht so recht.

Das jeder jeden liebt, das überlassen wir vielleicht besser

Jesus. Liebe ist etwas ganz anderes. Sie hat überhaupt keine Ähnlichkeit mit Großzügigkeit und auch nicht mit Mitgefühl.

Liebe ist eine sonderbare Mischung aus zwei Gegensätzen, aus egoistischstem Egoismus und vollkommener Hingabe.“

Amos Oz: Eine Geschichte von Liebe und Finsternis –

Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama, Suhrkamp-Verlang, Frankfurt a. M., 2004, S, 228

I

Ich sah sie zufällig, als ich kurz vor Ladenschluss durch Wipperfürth lief. Zuerst war es nur ein vages Erkennen, dann wurde mir klar, dass sie es sein musste. Vor sieben Jahren war ich als Freund ihres Mannes ein Gast auf ihrer Hochzeit gewesen. Vor zwei Jahren war ihre Ehe auseinander gebrochen. Nun saß sie allein an einem Tisch im Riefel, einem beliebten Straßencafé in der Innenstadt.

Sie trug ein dunkelblaues Kostüm, hatte die Jacke über einen Stuhl gelegt und rauchte. Hatte sie früher schon geraucht? Ich wusste es nicht. Ihre Haare waren rotbraun gefärbt, sorgfältig frisiert und schulterlang. Auf der Hochzeit in Overath war sie eine betörend schöne Frau gewesen, mit einem klassisch geschnittenen Gesicht, mit großen braunen Augen und einem Mund, der immer ein wenig offen stand, als stockte ihr der Atem bei so viel Glück. Ob ihre Augen diesen Ausdruck behalten hatten, konnte ich nicht erkennen. Ihre Figur war noch immer gut, ihre Bewegungen waren abgerundet und harmonisch - nicht zu langsam, nicht zu schnell, als schlüge ein Metronom in ihr, das ihren Bewegungen den Takt vorgab. Einen Augenblick fühlte ich den Impuls, an ihren Tisch zu gehen und sie zu begrüßen. Doch ich ließ es, denn mir wurde klar, dass sie mich nicht wiedererkennen würde. Ich hatte sie nur auf der Hochzeit gesehen und ihr alles Gute gewünscht - einer von vielen Freunden, die der Braut an diesem Tag die Aufwartung machten und dem Bräutigam anerkennend auf die Schulter klopften. Danach war ich für mehrere Jahre durch Asien gereist, ich hatte in Hongkong, Bangkok und Goa gelebt, uninformiert über das Verhängnis, das sich über beiden zusammenbraute. In den gelegentlichen Nachrichten, die ich aus Deutschland erhalten hatte, war von der abschüssigen Bahn, auf die ihre Ehe nach zweieinhalb Jahren geraten war, nichts zu merken gewesen – im Gegenteil: in den Karten, die sie mir schickten, dominierte ein penetranter Ton des Jauchzens. Die Welt, der Resonanzboden ihres Glücks.

Meine Rückkehr aus Asien fiel zusammen mit dem Ende ihrer Ehe. Ich hatte schon kurz vor meinem Abflug eine Nachricht erhalten, dass sich die beiden getrennt hätten, und als ich in Deutschland eintraf, war eigentlich schon alles entschieden. Mir blieben nur Ralfs Aufzeichnungen und die Erzählungen unserer Freunde, um mir über das, was geschehen war, ein Bild zu machen, ein Bild, das in vielerlei Hinsicht so traurig war, dass ich mich damit lange Zeit gar nicht hatte beschäftigen wollen.

Ich setzte mich in das Straßencafé zwei Tische neben Sabrina und bestellte einen Kaffee. Sie blickte kurz zu mir herüber, aber sie erkannte mich nicht. Soweit ich sehen konnte, war sie noch immer eine auffallend attraktive Frau, aber die letzten Jahre hatten dem Alter ganz sachte die Tore geöffnet. Die Zukunft ihres Gesichtes zeigte sich schon heute in den Nasenlabialfalten, einem nicht mehr ganz so runden Kinn und einem Mund, der dabei war, seine Fülle zu verlieren. Ihre Lippen erschienen mir eine Nuance zu rot, ihre Gesichtshaut eine Spur zu stark eingecremt, und jetzt, da ich so nahe bei ihr saß, konnte ich die Ränder unter ihren Augen sehen. Eine Kellnerin trat an ihren Tisch, mit der sie einige Worte wechselte, während sie bezahlte. Die beiden schienen sich zu kennen, aber nicht zu mögen. Die Körpersprache war eindeutig.

Ein Van stoppte vor dem Café auf der Straße. Hinter dem Steuer saß ein weißhaariger Mann, der ihr zuwinkte. Sabrina stand auf ohne sich umzublicken, stieg in das Fahrzeug und fuhr davon. Ich blickte dem Wagen hinterher und wusste nicht, was ich denken sollte. So wie es aussah, hatte sie meinen Freund Ralf auf dem Gewissen.

Oder hatte er sie auf dem Gewissen, wenngleich auf einer ungewöhnlicheren und subtileren Art, von der die meisten Zeugen des damaligen Geschehens nichts ahnten? Ich hatte mit Ralf gemeinsam studiert, wir waren zusammen gereist, und ich wusste nur zu gut, dass er kein einfacher Charakter war. Er konnte gesellig und charmant sein, aber auch gehemmt und bockig, er hatte brillante und kleinliche Züge, und in seinem Verhältnis zu Frauen hatte er nur ganz selten etwas anbrennen lassen. Er war ein Vagabund gewesen, der sich an fremden Ländern und Frauen labte, ohne wirklich glücklich zu sein. Gaby, Brigitte, Charlotte, Helene, Sarah, Irene, Tahiti, Peru, Malawi, Tibet und Kuba – er kam und ging, und der Wechsel von Kommen und Gehen, Anfang und Ende, Lust und Versagung würzte sein Leben hinlänglich mit jener Prise Unsicherheit, die verhinderte, dass er den Überdruss des Alltags wirklich schmecken musste. Dabei war er auch so noch wohlhabend geworden, dass allen, die seinen späteren Niedergang beobachten mussten, diese Jahre als das goldene Zeitalter seines Lebens erschienen.

Sabrina kam also zur rechten Zeit. In ihren späten Dreißigern war sie eine bildschöne Frau gewesen, ein Abbild der Vollkommenheit in einer hässlichen Welt, bei deren Anblick jedermann unruhig wurde. Die Kombination von Erotik und Verschämtheit, die sie ausdünstete wie eine Madonna mit Strapsen raubte Ralf auf der Stelle den Verstand. In ihrer Sanftheit, die aus der unauslotbaren Empfindsamkeit einer zarten Seele zu entspringen schien, ihrer Verständigkeit, Verlässlichkeit und Lebenstüchtigkeit erkannte er das Ufer, an dem er für den Rest seiner Tage bleiben wollte Als sie sich trafen, verwandelte sich die Welt von einem auf den anderen Tag in einen großen Gabentisch, und es dauerte nur wenige Wochen, da waren sie sich einig, nie wieder voneinander zu lassen. All die Taktiererei, Zweideutigkeiten und Halbwahrheiten, die das Singleleben prägen wie ein schlechter Geruch, gab es bei ihnen nicht. Er, der ewige Junggeselle, mit dessen Heirat niemand mehr gerechnet hatte, verließ seine Behausung in Köln und zog ins Bergische Land. Eine Hochzeit, ein Haus mit Garten, ein Hund und vier Katzen wurden die Ornamente einer spät errungenen, aber nun umso mehr genossenen Reputierlichkeit. Alles stimmte: Sabrina war nicht nur häuslich, sondern auch kreativ und wusste das neue Heim in ein kleines Paradies zu verwandeln. Sie war gastlich und überaus einfallsreich in der Zubereitung raffinierter Speisen, mit denen nach und nach der gesamte Sani´sche Bekanntenkreis verköstigt wurde. Sabrina und Ralf waren ein Traumpaar, spät gefreit und nie gereut.

Ich blieb im Café sitzen und nahm einen Mokka. In der Zeitung las ich eine Geschichte über einen Mann, der seine Frau angezündet hatte, weil sie ihn wegen eines anderen Mannes verlassen wollte. Sie hatte überlebt, und er war für drei Jahre im Gefängnis verschwunden. Als er entlassen worden war, hatte ihn sein erster Weg wieder zu seiner ehemaligen Frau geführt, die sich inzwischen von ihm hatte scheiden lassen, und er hatte sie niedergestochen. Sie hatte wieder überlebt, und er musste für weitere zehn Jahre hinter Gittern. Nun stand seine Entlassung bevor, und seine Frau war untergetaucht, weil sie sicher war, dass er es ein drittes Mal und diesmal vielleicht erfolgreich versuchen würde.

Es begann zu regnen, ich zahlte und fuhr in meine Wohnung zurück. Andrea aus Bremen hatte angerufen, sie hatte an diesem Wochenende Zeit, außer der Reihe nach Köln zu kommen. Ihre Stimme auf dem Anrufbeantworter klang warm und herzlich. Ich beschloss, morgen zurückzurufen.

Die Begegnung mit Sabrina ging mir nicht aus dem Sinn, und vielleicht war das der Grund, dass ich an diesem Abend noch einmal in den Keller ging, in dem ich seit fast zwei Jahren Ralfs Manuskripte und Datenträger aufbewahrte. Ralf war ein manischer Sammler gewesen, ein Chronist seiner selbst, der seit seiner Schulzeit Tagebücher, Fotoalben und Diamagazine so akribisch gesammelt hatte, dass ein Forscher mit dem vorliegenden Material eine lückenlose Biografie von der Tanzschule bis zur Ehe hätte verfassen können. Alle Banalitäten und Höhepunkte seines Lebens waren in Dutzenden Ordnern festgehalten worden, säuberlich durchorganisiert wie das Itenear einer Existenz, dessen Höhen und Tiefen schon nach wenigen Jahren niemanden mehr interessieren würde. Ich nahm einige Ordner aus dem Kellerschrank, durchmusterte Korrespondenzen aus längst vergangenen Zeiten, fand einen Brief von mir, den ich ihm vor vielen Jahren geschrieben hatte und in dem ich ihm zu seinem Examen gratulierte, ich las Namen, die ich überhaupt nicht kannte, und entdeckte Kopien seiner Ummeldungen, Ablichtungen seines Abiturzeugnisses und schließlich sogar das Original seiner Heiratsurkunde.

 

Als ich die Ordner, in denen ich geblättert hatte, wieder in das Regal zurückstellen wollte, entdeckte ich eine Art Schuhkarton, der offenbar beim Einräumen hinter die Ordner gerutscht war und an den ich mich überhaupt nicht mehr erinnern konnte. Wahrscheinlich war auch er angefüllt mit den gleichen Memorabilia, die letztendlich auf einer Mülldeponie landen würden, denn ich wusste nicht mehr, warum ich all diese Überreste vor knapp zwei Jahren so komplett in meine Kellerschränke eingeräumt hatte.

Als ich den Karton aus dem Schrank herausnahm und öffnete, erwartete mich eine Überraschung. Neben zwei leeren Schreibblöcken fand ich vier schwarzrot geränderte Kladden, die so klein und handlich waren, dass sie in die Brusttasche eines Freizeithemdes passten. Ich sah, dass sie durchnummeriert waren, die beiden dünnsten Bände trugen die Nummern I und IV, die beiden umfangreicheren Kladden waren mit den römischen Ziffern II und III gekennzeichnet. Als ich sie öffnete, erkannte ich Ralfs gut leserliche Handschrift, in der die linierten Seiten der Kladden vollgeschrieben waren, und je mehr ich in diesen Kladden las, desto größer wurde mein Erstaunen. Ich hielt nicht mehr und nicht weniger als Ralfs handschriftliche Aufzeichnungen aus seinem letzten Ehejahr in Händen - ungelesen und unentdeckt war es nur jener seltsamen Verkettung der Ereignisse dieses Tages geschuldet, dass ich sie entdeckt hatte. Merkwürdigerweise gab es kaum Durchstreichungen und Korrekturen, als hätte er den Text auf der Grundlage eines Urtextes geschrieben, von dem sich aber keine Spuren fanden. Außerdem hatte er seine Aufzeichnungen in der dritten Person verfasst – so skurril es auch klingen mag, er schrieb von sich selbst in distanziert wie ein Insektenforscher, und noch nicht einmal seiner Schrift war irgendeine Ergriffenheit anzumerken.

Ich packte alle Ordner und Unterlagen wieder in die Kellerschränke, nahm aber die vier Kladden mit in mein Arbeitszimmer, wo ich sie nebeneinander auf meinen Schreibtisch platzierte. Wie merkwürdig, dass ich gerade heute auf Ralfs Aufzeichnungen gestoßen war, genau an dem Tag, an dem ich Sabrina zufällig in der Stadt gesehen hatte. Andererseits hätte ich überhaupt nicht mehr in Ralfs Unterlagen nachgeforscht, ohne Sabrina vorher in Wipperfürth gesehen zu haben. Was war hier Ursache, was war Folge? Je stärker ich mir diese Fragen stellte und über den vergangenen Tag nachdachte, desto mehr wuchs mein Wunsch, Ralfs Sichtweise seines Unterganges kennen zu lernen. Ich nahm die erste Kladde zur Hand und begann zu lesen.

Die erste Kladde

Sie hatten an diesem Morgen länger als gewöhnlich geschlafen, Sabrina auf der Galerie und er im Ehebett, und als er aufgewacht war, hatte er aus alter Gewohnheit den Milchkaffee zubereitet. Sabrina öffnete die Augen, als sie den Kaffeeduft roch. Sie hatte noch weiter abgenommen, ihr Gesicht wirkte ausgezehrt, was die Ausdruckskraft ihrer Augen verstärkte.

Ralf wusste, dass es keinen Sinn mehr hatte, sich etwas vorzumachen. Sie standen vor den Trümmern ihrer Ehe. Seit Wochen sprachen sie offen von Trennung, und erst nach langem Zögern hatten sie sich entschlossen, über Ostern noch einmal gemeinsam in Urlaub zu fahren. Übermorgen würde die Reise beginnen, und Ralf war froh, dass sie ihrer Ehe wenigstens diese letzte Chance geben wollten.

„Wann wollen wir packen?“ fragte Ralf. „Schaffen wir das heute Abend?“ Er hatte sich mit seinem Kaffee auf die andere Seite der Schlafcouch gesetzt und blickte sie an.

Sie schaute aus dem Fenster. „Kein Problem“, antwortete sie. „Außerdem haben wir doch auch noch morgen Zeit. Wann geht eigentlich das Flugzeug?“

„Am Montag in aller Frühe“, gab er zur Antwort.

Sie hatte einen Schluck Kaffee genommen und blickte ihn an. „Du hast doch sicher nichts dagegen, wenn ich heute nach dem Geschäft noch ein wenig durch die Stadt bummele? Ich komme auf jeden Fall am frühen Nachmittag nachhause“, sagte sie beiläufig.

„Vielleicht habe ich Lust mit zu bummeln?“

Sie lächelte. „Du und mitbummeln? Hast du vielleicht Lust, dir Röcke und Kostüme anzusehen? Lass lieber mal. Wir können dann ja noch am Nachmittag ein wenig raus fahren, wenn das Wetter schön wird.“

Ein Geräusch ertönte. Schnöfy der Hund war erwacht, reckte und streckte sich, um sofort zu Frauchen zu laufen. Er war der Rüde im Haus, der ganz und uneingeschränkt geliebt wurde. Für die Urlaubswoche war Schnöfy in einer Hundepension angemeldet, die vier Katzen des Hauses würden von Birgit versorgt werden, einer Freundin, die im Nachbarhaus wohnte.

„Wenn du mit der Zeit knapp bist, kann ich den Hund in die Pension bringen“, schlug Ralf vor.

„Nein, das mache ich selbst. Ich habe heute Morgen nur eine Behandlung. Das schaffe ich locker.“

Zwei Stunden später verließ sie das Haus. Ralf setzte frischen Kaffee auf und griff zur Zeitung. Leider war die Brille nicht zu finden, die guten Gleitsichtgläser waren spurlos verschwunden, und so sehr er auch das ganze Haus absuchte, sie waren nicht mehr aufzutreiben. Vielleicht hatte er sie im Wagen liegen lassen, doch auch eine Durchsuchung des Fahrzeuges erbrachte keinen Fund. Die Brille blieb verschwunden, und schon nach wenigen Minuten legte Ralf die Zeitung genervt zur Seite. Die Buchstaben waren einfach zu klein für eine entspannte Lektüre.

Mittags aß er ragout fin, ein Gericht, das Sabrina bereits gestern für ihn vorgekocht hatte. Es schmeckte gut wie alles, was seine Frau zubereitete. Die eheliche Krise hatte seine Versorgung bisher nicht beeinträchtigt. Sogar einen Nachtisch für ihn hatte sie vorbereitet.

Ralf öffnete das Fenster und blickte auf den Garten des Hauses. Sabrina war weit über ihre Kräfte hinaus belastet, das war der Hauptgrund für die schleichende Eskalation ihrer Ehekrise. Sabrina war die Inhaberin der „Oase“, eines kleinen Kosmetik- und Modegeschäftes in Wipperfürth, für das sie sechs Tage die Woche von frühmorgens bis spätabends arbeitete, ohne dass hinreichend Geld in die Kasse kam. Aber das war egal, denn sie hing an diesem Geschäft mit der Leidenschaft einer Kämpferin, und wer auch nur ansatzweise den Gedanken äußerte, die „Oase“ wegen ihrer Unrentabilität zu schließen, musste mit ihrer dauerhaften Ungnade rechnen. Und ihr Zorn konnte fürchterlich sein. Im Zustand der Wut erwuchs ihr eine Eloquenz und Schlagfertigkeit, über die sie ansonsten nicht verfügte. Mit einer überraschenden Bedenkenlosigkeit in der Wahl ihrer Worte machte sie jeden zur Schnecke, der ihr in dieser Frage in die Quere kam. Auch ihn hatte sie bei dergleichen Auseinandersetzungen von Anfang an so vollständig überrollt, dass er es sich abgewöhnt hatte, zu widersprechen. Dann würde er die „Oase“ eben weiter subventionieren, daran sollte seine Ehe nicht scheitern.

Inzwischen war es Nachmittag geworden, die Wolken hatten sich verzogen und ein strahlender Himmel wölbte sich über dem Bergischen Land. Es war Kaffeezeit, und vielleicht konnten sie, wenn Sabrina bald aus Wipperfürth zurück käme, mit dem Cabrio zur Talsperre fahren und ein wenig spazieren gehen.

Doch die Stunden vergingen, und Sabrina kam nicht. Ralf kehrte die Terrasse, fütterte die Tiere, räumte Schlafzimmer und Wohnzimmer auf und begann mit der Aussortierung der Sachen, die sie mit in die Türkei nehmen würden. Seit Weihnachten hatten sich ihre Konflikte in einer Weise radikalisiert, die er sich früher nicht hätte vorstellen können. Die tränenreichen Versöhnungen am Ende früherer Konflikte gehörten schon längst der Vergangenheit an. Vor zwei Monaten hatte sie nach einer besonders galligen Auseinandersetzung nicht mehr seine Nähe gesucht, sondern sich ihr Bettzeug gegriffen, um auf der Galerie zu schlafen. Seitdem schliefen sie getrennt. War das nicht das ideale Bühnenbild für das Erscheinen eines Liebhabers? Es waren schon Ehen nach moderateren Krisen auseinander gebrochen. Ralf schüttelte den Kopf, als befände er sich nicht allein im Haus. Das konnte er sich nicht vorstellen. Einen Dritten hineinziehen, um einer Ehekrise auszuweichen, war unter ihrem Niveau. Gerade das niemals zu tun, hatten sie sich bei ihrer Heirat in die Hand versprochen.

Aber wo blieb sie? Vielleicht war etwas passiert? Ein Unfall, ein Überfall? Sie war in Gefahr, und er hockte im Garten und unternahm nichts. Aber er verwarf den Gedanken sofort wieder. Wenn etwas geschehen wäre, würde man ihn benachrichtigen. Ralf glaubte weder daran, dass sich seine Frau auf Abwegen befand noch dass ihr etwas zugestoßen war – dass sie ihn den ganzen Tag ohne jede Nachricht warten ließ, war ganz einfach nur eine Unverschämtheit, ein Ausfluss jener Rücksichtslosigkeit, die ihnen schon seit Monaten den Alltag verbiesterte.

Mit jeder Stunde, die der Tag verstrich, verschlechterte sich seine Stimmung, und er wunderte sich, wie reibungslos Larmoyanz und Zorn ineinander übergehen können. Sie ließ ihn warten – nun gut, er würde sie auch warten lassen! Sie sollte nachhause kommen und ein leeres Haus vorfinden, denn er wusste: in einem leeren Haus zu warten, gehörte zu den Dingen, die Sabrina am allerwenigsten ertragen konnte. Diese Lektion hatte sie heute verdient. Er würde ohne sie essen gehen, und sie würde bis spät in die Nacht ebenso auf seine Rückkehr warten müssen wie er jetzt.

Er beschloss, Helene anzurufen, eine ehemalige Freundin, mit der er lange vor Sabrinas Zeit einige Monate zusammen gewesen war. Helene anzurufen, hatte etwas Perfides, das ihm in dieser Stunde des Zorns gut gefiel. Denn Helene verkörperte für Sabrina das Böse schlechthin, sie war die Inkarnation der erbärmlichsten Devotion, eine Kreatur, die nur existierte, um ihr ihren Ralf auszuspannen. Helenes bloße Existenz war vom ersten Tag ihrer Ehe an Anlass unzähliger Eifersuchtsszenen gewesen, bis Ralf schließlich, der Streitigkeiten müde, den Kontakt zu Helene abgebrochen hatte. Aber heute Abend sollte der Kontakt wieder aufgefrischt werden. Daran war Sabrina selbst schuld!

Als hätten nicht zwei Jahre Funkstille zwischen ihnen geherrscht, rief Ralf bei Helene an. Sie meldete sich kaum überrascht, als hätte sie über kurz oder lang diesen Anruf erwartet und willigte ein, mit ihm noch am gleichen Abend in Düsseldorf essen zu gehen. So einfach war das also? Ralf wunderte sich und machte sich zum Aufbruch bereit.

Er wollte gerade das Haus verlassen, da kam Sabrina zur Türe herein. Sie sah angespannt aus, denn sie erwartete eine Szene.

„Sag mal, wo kommst du jetzt her? Und warum rufst du nicht an?“

„Wieso? Ich habe doch gesagt, dass ich später komme. Ich war auf der Oldtimermesse in Düsseldorf.“

„Welche Oldtimermesse? Du hattest gesagt, das du nach dem Geschäft nur noch ein wenig shoppen und dann nachhause kommen wolltest.“

„Ich habe es mir eben anders überlegt – na und?“ gab sie zurück und ging an ihm vorbei …

„Na prima“, rief er ihr hinterher. „Ich aber esse heute Abend alleine. Vor Mitternacht komme ich nicht zurück.“

Er fuhr nach Düsseldorf und führte Helene zum Essen aus. Sie war die Blondine mit den Katzenaugen und den makellosen Zähnen geblieben, auch ihr Auftreten hatte sich nicht verändert. Sie begrüßte ihn, als hätte sie ihn gestern zum letzten Mal gesehen, war mitteilsam und heiter und erkundigte sich mit großer Anteilnahme nach dem Zustand seiner Ehe. Dass er sie vor anderthalb Jahren wie ein überflüssiges Utensil aus seinem Bekanntenkreis gestrichen hatte, schien sie ihm nicht übel zu nehmen. „Das habe ich erwartet“, sagte sie. „Auch dass du eines Tages anrufen würdest, war klar. Die Dinge waren bei euch beiden sehr durchschaubar.“

 

Ralf trank seinen Rotwein und fragte sich, ob sie Recht hatte. Nein, so klar war das nicht gewesen. Der Anfang, den er mit Sabrina erlebt hatte, war eine verzauberte Zeit gewesen, in der ihm plötzlich all das, wonach er sich so lange gesehnt hatte, scheinbar mühelos in den Schoß gefallen war. Fast tat es ihm leid, dass Sabrina nun alleine zuhause sitzen musste. Er wusste doch, wie ängstlich sie werden konnte, wenn sie gegen ihren Willen allein sein musste. Sie war bisher jedes Mal, wenn er gedroht hatte, nach einem Streit das Haus zu verlassen, in Panik ausgebrochen, so dass er sich fragte, ob seine Reaktion auf ihr spätes Heimkommen nicht überzogen gewesen war. Auch wenn er es sich nicht eingestehen wollte, merkte er, dass die Unruhe, die ihn schon seit dem frühen Nachmittag erfüllte, immer weiter zunahm, und als sie beim Nachtisch angekommen waren, wusste er, was er wollte: er wollte nachhause.

Helene verabschiedete ihn mit einem Wangenkuss. „Meld´ dich mal“, sagte sie.

Er stieg in den Wagen und fuhr zurück nach Overath.

Als er lange nach Mitternacht das Haus betrat, war sie nicht da. Er sah die Spuren schnell zusammengerafften Einpackens, der Kleiderschrank stand auf, Kosmetiksachen fehlten, auch einige Paar Schuhe hatte sie mitgenommen. Ralf sah es und konnte es nicht fassen.

Sie war weg.

Nachdem er durch das ganze Haus gelaufen war, fand er neben dem Telefon einen Zettel. „Es ist Zeit, den Dingen nicht mehr auszuweichen“, las er. „Du kannst mich unter meiner Handy-Nummer erreichen. Sabrina.“

Das Handy aber war abgestellt.

Er öffnete eine Flasche Rotwein und goss den Alkohol in sich hinein. Die Katastrophe war da. Sabrina war bei einem anderen Mann, beim Pharmareferenten, beim Waschbär, beim Oldtimerspezialisten oder bei einem anderen ihrer zahlreichen Verehrer - was wusste er?

Stundenlang lief er durch das Haus und durchsuchte die Räume nach Zeichen und Hinweisen, von denen er selbst nicht wusste, wie sie hätten aussehen sollen. An Schlaf war ohnehin nicht zu denken. Als er sich endlich ins Bett legte, lag er mit brennenden Eingeweiden auf der Matratze wie auf einem Rost und schreckte bei jedem Geräusch hoch. Seine Sinne waren bis zum Zerreißen gespannt, und mehr als einmal stürzte er in sein Büro, weil er glaubte, dort das Klingeln des Telefons gehört zu haben.

Was für eine lächerliche Idee, sie durch seine Abwesenheit am Samstagabend strafen zu wollen! Wahrscheinlich hatte er sie durch diese Aktion erst dazu getrieben, das Haus zu verlassen. Er wusste doch, wie misstrauisch sie war, dass sie immer nur das Schlimmste befürchtete. Erst die Befürchtung, ihr Ehemann befände sich im Bett einer anderen Frau hatte sie in die Arme irgendeines Liebhabers getrieben. So musste es gewesen sein. Was war er nur für ein Idiot!

Die Morgendämmerung setzte ein. Sanftes Licht illuminierte die Blumenbeete im Garten, ein Bilderbuchtag stand ins Haus. Ralf dröhnte der Kopf, und seine Hände zitterten, als er sich die Jogginghose überzog, um seine Unruhe durch einen Langlauf zu betäuben. Doch er war in den fetten Jahren seiner Ehe so schlapp geworden, dass er nicht mehr zustande brachte, als sich wie ein krankes Tier durch den Wald zu humpeln.

Als er zurückkam, traf er die Nachbarin Frau Droste im Hof. „Ach sie sind noch da?“ fragte sie überrascht über den Zaun hinweg. „Ich habe gestern Abend ihre Frau mit zwei Taschen das Haus verlassen sehen. Wir dachten, sie wären beide schon im Urlaub.“

Ralfs Magen krampfte sich zusammen. „Nein, meine Frau hat ein besonders günstiges Ticket erhalten. Sie ist vorgeflogen. Ich werde hinterher fliegen.“

Frau Droste zog ein langes Gesicht. Wo gab es denn so was? Mann und Frau fliegen getrennt in Urlaub?

Ralf verabschiedete sich und ging so schnell wie möglich ins Haus zurück. Kein Anruf auf dem Beantworter, keine Mail, Sabrina blieb verschwunden. Er öffnete den Kühlschrank und ihm wurde schlecht. Essen konnte er nun schon gar nichts.

Er duschte sich, zog sich an und fuhr nach Köln. Wie glitzernde Spinngewebe bewegten sich die Schatten der Blätter und Zweige über die Straße, als er durch die Täler des Bergischen Landes zur Autobahnauffahrt fuhr. Er sah die Morgenspaziergänger durch die Wälder flanieren, die ersten Heißluftballons waren bereits aufgestiegen, und alles war so unwirklich, dass er es kaum glauben konnte.

Er hatte die Autobahn erreicht und überlegte, wohin er fahren konnte. Seine Freunde waren ordentliche und bodenständige Menschen im Zustand stabiler Ehen, da konnte man zu so früher Stunde nicht wie ein angeschossener Eber aufheulend im Wohnzimmer erscheinen. Immerhin gab es seinen Tennispartner Ulrich, einen 38jährigen Studienabbrecher, der sich mit Jobs und Gelegenheitsrollen in Fernseh-Soaps durchs Leben schlug und den Ralf schon immer wegen seiner ausgeglichenen Gemütsverfassung beneidet hatte. Da musste er hin, da konnte er sich ausjammern und wenigstens einen Kaffee trinken.

Doch niemand öffnete. Er schellte Alarm, doch Ulrich schien nicht zuhause zu sein. Das war das Schlimmste, was ihm jetzt passieren konnte. Panik erfasste ihn, und er empfand eine Sekunde lang den Wunsch, sich auf der Luxemburger Straße vor einen Wagen zu werfen.

Stattdessen rief er Martin an, einen alten Freund, von dem er wusste, dass er nie bei seiner Freundin schlief. Tatsächlich war Martin zuhause und meldete sich mit belegter Stimme.

„Martin“, schrie Ralf ins Telefon, „ich muss sofort zu dir kommen. Es ist dringend. Machst du einen Kaffee?“

„Wie? Kocht dir Sabrina keinen Kaffee mehr? Muss ich das jetzt machen? Wo bist du eigentlich?“

„Ich bin in Köln. Allein. Ich bin in einer Viertelstunde da“, brüllte Ralf in den Hörer.

Martin wohnte in einer muffigen Wohnung in Köln Pulheim, in der es roch, als hätte jemand über die Jahre hinweg jeden Abend kontinuierlich Erbsensuppe hinter das Sofa gekippt. Es war unaufgeräumt und ungemütlich, und Ralf brach, kaum dass er die Wohnung betreten hatte, sofort in Tränen aus. „Sabrina ist verschwunden“, heulte er. „Sie hat mich verlassen, ich bin vollkommen fertig.“

Die Tränen schossen ihm aus den Augen, er hielt sich die Hand vor das Gesicht und schluchzte, bis Martin mit einer heißen Tasse Kaffee kam. „Komm trink“, sagte er. „Das wird dir gut tun.“

Kurz darauf hatte Martin ein Frühstück zubereitet, dass zu Ralfs Verfassung passte: es gab ranzige Butter, verschimmelten Käse und eine Wurstsorte, die schon ein wenig grün geworden war. Ralf lehnte ab, und trank stattdessen eine weitere Tasse Kaffee, nach der ihm schlecht wurde.

Inzwischen hatte sich draußen der Frühlingstag zur vollen Schönheit entfaltet. „Lass uns ein wenig durch die Gegend fahren“, bat Ralf. „Ich muss mich bewegen, sonst werde ich wahnsinnig.“

Sie fuhren kreuz und quer durch Köln, vom Bonner Verteiler bis nach Merkenich, von Dellbrück nach Weiden, die Ringe herauf und herunter, umkreisten dreimal den Neumarkt und den Dom und belästigten unter fadenscheinigen Vorwänden alle möglichen Bekannte und Freunde, ohne wirklich damit herauszurücken, was geschehen war. Sie besuchten Norbert Kürter, den bekennenden Single, der noch in der Unterhose beim Frühstück saß, schellten bei Konrad Rille, der nicht zuhause war und besuchten Tobias und Carla in Rodenkirchen, die sie sofort auf die Veranda baten.

„Wo ist denn Sabrina?“ wollte Carla wissen. „Sie ist heute bei einer Oldtimer-Messe“, stotterte Ralf.

„Ach so“, antwortete Carla, als sei das das Natürlichste von der Welt. „Dann grüß sie schön.“

„Mach ich - wenn ich sie sehe.“

Nachdem Ralf Martin am Nachmittag wieder in Pulheim abgesetzt hatte, fuhr er noch dreimal zwischen Köln und dem Bergischen Land in der Hoffnung hin und her, sie sei inzwischen heimgekommen, habe sich besonnen, könne ihre Abwesenheit in der letzten Nacht auf eine Weise erklären, die er glauben könnte, wäre einfach nur wieder da, kompromissbereit, versöhnlich oder wenigstens mit einem schlechten Gewissen geschlagen.

Doch sie blieb verschwunden, und niemand wusste, wo sie stecken konnte Es gab einen Pharmareferenten, der ihr schon lange den Hof machte, einen vitalen Hundeausführer, der es allerdings durch zu große Aufdringlichkeit mit ihr verdorben hatte, den Inhaber einer Wäschereikette, der sie in ihrem eigenen Laden angebaggert hatte und einen Mechaniker mit einer Vorliebe für alte Autos, von dem sie in letzter Zeit des Öfteren erzählt hatte. Dass sie am Samstag auf einer so genannten Oldtimer-Messe gewesen war, sprach dafür, dass der Mechaniker das Rennen gemacht hatte.

Als sie auch bei Ralfs dritter Heimreise nach Overath noch nicht wieder zuhause war, klingelte Ralf bei Birgit im Nachbarhaus. Birgit und Sabrina hatten sich seit einem Jahr angefreundet, und vielleicht wusste Birgit, wo sich Sabrina aufhielt.

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