Ende einer Ehe

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„Sabrina hat vorhin angerufen“, teilte ihm Birgit ohne große Einleitung mit. „Sie befindet sich bei einem Freund, wie sie sagte, und hat mich gebeten, in der nächsten Woche die Katzen zu versorgen.“

Ralf riss die Augen auf. „Aber wo steckt sie? Wir fliegen morgen in die Türkei, was soll denn nun werden? Und um welchen Freund handelt es sich?“ stieß er hervor. Als er Birgits Zögern sah, setzte er nach: „Birgit, nun lass mich nicht hängen, und sag mir, was du weißt.“

Birgit blickte ihn ernst an. Was sie ihm zu sagen hatte, schien ihr keine Freude zu bereiten. „Wo sie sich aufhält, weiß ich nicht. Ich weiß aber, dass sie seit einiger Zeit schon Kontakt zu einem Mechaniker in Wipperfürth hat. Mit diesem Typ war sie auch schon mehrfach zum Abendessen verabredet. Und dass sie nicht mit in die Türkei fahren wollte, hat sie mir schon vor einer Woche erzählt. Mehr kann ich dir nicht sagen.“

Ralf wurden die Knie weich. Er brachte kein Wort heraus, nickte Birgit zu und ging zurück in seinen Garten. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen, doch er wusste: wo immer sie nun auch stecken mochte, der Bruch war vollzogen. Alle Verbindungen waren gekappt, das Handy ausgestellt, der Aufenthaltsort unbekannt, und es war, als befände sie sich auf einem anderen Stern.

In der folgenden Nacht war an Schlafen wieder nicht zu denken. Auch nach zwei Flaschen Rotwein saß er wie betäubt im Bett, das Telefon in Griffweite, weil er hoffte, dass sie sich noch melden würde.

Mitten in der Nacht, nur wenige Stunden vor dem Abflug in die Türkei rief sie an.

„Hallo“, sagte sie einfach statt einer Begrüßung. „Ich bin bei einer Freundin und brauche Abstand, ich hoffe, du kannst das verstehen.“

Ralfs Herz schlug bis zum Hals. „Sabrina, was machst Du?“ rief er in den Hörer. „Wo steckst du? Komm nach Hause. Wir wollten doch in der Türkei über alles reden.“

„Ich fliege auf keinen Fall mit in die Türkei, das habe ich dir schon gesagt, aber du hast mir ja nicht zuhören wollen.“

„Sag mir wo du bist. Ich komme dich holen.“

„Ich wohne bei einer Freundin“, antwortete Sabrina. „Fahr allein in die Türkei und denk über alles nach. Ich werde das hier ebenfalls machen, und wenn du zurückkommst, können wir uns zusammensetzen und über alles reden.“

„Bitte, lass doch den Unsinn mit der Freundin.“ Ralfs Stimme zitterte. „Welche Freundin soll das denn sein? Du bist bei einem anderen Mann. Gib es zu!“

Schweigen in der Leitung. Dann: „Ja, es stimmt, aber es ist nicht das, was du denkst.“

„Was glaubst du denn, was ich denke? Was soll ich denn denken, wenn meine Frau nachts bei einem anderen Mann ist?“

Sabrinas Stimme war sehr leise, als sie sagte: „Du hast mich aus dem Haus getrieben, Ralf. Das ist die Wahrheit, so wie ich sie sehe. Du hast dafür gesorgt, dass ich es in deiner Gegenwart nicht mehr aushalten konnte. Denk was du willst, auf diese Weise konnte es auf keinen Fall mehr weitergehen. Nun müssen sich die Dinge klären. Sie werden sich verändern, oder sie werden beendet. Ich brauche nun Zeit, um mir klar zu werden, was ich will, und du solltest sie auch nutzen.“

Ralf schwieg. Das klang bitter, aber nicht endgültig.

„Ich wollte dir nur sagen, dass ich in Sicherheit bin“, fuhr Sabrina fort. „Ich wollte dir sagen, dass es mir gut geht und dass du ohne Sorgen in die Türkei fahren kannst.“

„Ich fahre ohne dich nicht in die Türkei. Ich werde dich suchen und finden, wo immer du auch sein magst“, schrie Ralf.

„Du wirst mich nicht finden, es ist zwecklos. Und ich sage dir auch nicht, wo ich bin. Das sind die Fakten. Denk nach und lass uns nach deiner Rückkehr aus dem Urlaub nächste Woche reden. Wann kommst du wieder?“

Ralf schwirrte der Schädel. Er war er schon glücklich, dass sie ihm nicht sofort den Laufpass gab sondern wenigstens nach der Türkeireise eine Aussprache in Aussicht stellte. Dann war nichts verloren, vielleicht besann sie sich wieder.

„Ich komme am Montagmorgen übernächste Woche wieder, und werde gegen Mittag im Haus sein“, antwortete er mit belegter Stimme.

„Gut, ich werde auch da sein, dann können wir reden.“

„Sabrina, kannst du dir vorstellen, wie hart das für mich ist, allein ohne dich in die Türkei zu fahren?“ setzte Ralf nach. „Willst du es dir nicht doch noch einmal überlegen? Es ist noch nicht zu spät.“

„Nein“, entgegnete sie sofort. „Es bleibt dabei. Bis Montag.“

„Halt, leg nicht auf. Bitte versprich mir noch eines.“

„Was denn?“

„Schaff´ bis Montag keine vollendeten Tatsachen! Bitte versprich´ mir das, dann kann ich fahren.“

„Ich verspreche es“,sagte sie und legte auf.

Am nächsten Morgen fuhr Ralf alleine eine Woche in die Türkei.

Das Hotel in der Türkei lag in einer halbfertigen Touristenzone. Große Pfützen auf aufgerissenen Straßen versperrten die Hotelzufahrt, und anstelle des Strandes existierten nur glitschige Steinkais, an denen sich jeder die Knochen brach, der es riskieren wollte, im Meer zu baden. In langen schaurigen Schwaden hingen weißgraue Wolkenfetzen am Himmel, und die Berghänge des Taurus verschwanden hinter einem nassen Regenschleier. Das Zimmer war klein wie eine Gefängniszelle, die Wände waren so dünn, dass er den Satellitenempfang im Nachbarzimmer mithören konnte, und die Hotelangestellten agierten mit jener Mischung aus Zutraulichkeit und Unverschämtheit, die mehr als deutlich zeigte, was sie von ihren Gästen hielten. Unablässig krachten die Frühjahrsstürme gegen die Küste, während Ralf Sani entweder im strömenden Regen die Strandstraßen entlang joggte, sich betrank oder allein in seinem Zimmer heulte. Unfähig irgendeinen Kontakt aufzunehmen, schlich er wie ein Todgeweihter durch die Hotelhallen, konnte weder essen noch schlafen und wurde schließlich so hinfällig, so dass ihn sogar die dreisten Kellner mit Mitgefühl behandelten.

Etwas Erleichterung verschaffte ihm nur die Hoffnung auf die bevorstehende Aussprache und die damit verbundene Möglichkeit, seine Ehe zu retten. Aber wer hatte denn ihre Ehe in den Sand gesetzt? Ralfs Antwort auf diese Frage veränderte sich mit jedem türkischen Regentag ein wenig mehr zu seinen Ungunsten. Die Geschichte seiner Ehe erfuhr eine Beleuchtung, von der er sich noch vor wenigen Tagen nichts hätte träumen lassen. Wie hatte er seine bildschöne und fleißige Frau nur mit solch unglaublicher Geringschätzung behandeln können? Wie hatte er sie noch vor wenigen Wochen anlässlich eines bedeutungslosen Bedienungsfehlers an der Brotbackmaschine niedergemacht. Dass er immer nur die Klappe gehalten hatte, wenn sie loslegte, war ja wohl ein Märchen. Wie wenig hatte er ihre Krankheiten ernst genommen, ihre körperliche und seelische Not, die sich in den Beschimpfungsorgien von ihrer Seite ja nur austobte, weil ihr ein anderes Ventil versperrt war. Er hatte ihr einen Vogel gezeigt, als sie vorschlug ein neues Schlafzimmer zu kaufen, und es hatte ihn einen feuchten Kehricht gekümmert, dass sie mit einem baufälligen Uraltauto durch die Gegend fahren musste, während er mit einem schicken Cabrio zur Schule fuhr.

Je mehr er sich in diese Sicht der Dinge vertiefte, desto schlechter wurde sein Befinden, denn ihm dämmerte, dass es hinreichend Gründe gab, ihn zu verlassen. Und konnte er ihr wirklich vorwerfen, dass sie den Absprung hinter seinem Rücken eingefädelt hatte? Hätte er für sich selbst die Hand ins Feuer legen können, wenn ihm interessante Frauen ebenso ausdauernd den Hof gemacht hätten wie dies bei Sabrina von Seiten ihrer Verehrer der Fall gewesen war? Dass sie die Ehe wahrscheinlich schon längst gebrochen hatte, war ein herber Tritt in die Eier, aber ein Tritt, der ihn der Realität recht nahe brachte.

Am Ende seines türkischen Purgatoriums war Ralf Sani schließlich so reumütig, zerknirscht und einsichtig, derart reif zur Besserung, dass es sonnenklar war, dass seine Ehe weitergeführt werden konnte - nein: musste! Wozu sollte all der Schmerz gut gewesen sein, wenn nicht als Voraussetzung einer besseren und verständnisvolleren Ehe? Außerdem würde Sabrina niemals ihre ganze Existenz, ihren Freundeskreis, das Haus und die Tiere aufgeben – und das umso weniger, als er entschlossen war, sich bei der Aussprache so selbstkritisch zu präsentieren, wie sie es von ihm noch niemals erlebt hatte.

Andererseits wurde er sich in den wenigen klaren Augenblicken, in denen er keinen türkischen Rotwein sondern Kaffee trank, darüber klar, dass die Entscheidung über die Rettung seiner Ehe nicht mehr in seiner Hand lag. Ein Dritter hatte sich eingeschaltet, von dem er keine Vorstellung besaß, ein Dritter, der es immerhin vermocht hatte, Sabrina zu sich herüberzuziehen und der alles unternehmen würde, sie zu halten. Was wäre, wenn sich dieser Dritte als ein genauso herrlicher weißer Ritter entpuppen würde, wie er selbst vor viereinhalb Jahren? Was wäre, wenn sich Sabrina in diesen neuen weißen Ritter verlieben und ihn selbst, den miserablen Ehemann Ralf Sani, zum Teufel schicken würde? Daran durfte er gar nicht denken. Das wäre sein Ende.

II

Die roten Kladden waren das erste, was ich auf meinem Wohnzimmertisch sah, als ich am nächsten Morgen herunterkam. Ich hatte die Lektüre in der Nacht am Ende der ersten Kladde abgebrochen, weil ich spürte, dass ich Ralfs Aufzeichnungen nicht gerecht wurde, wenn ich sie einfach nur herunter las. Ich hatte das Gefühl, dass ich sie nicht nur lesen, sondern auch zugleich das erfahren sollte, was Ralf zu dem Zeitpunkt, an dem er schrieb, nicht hatte wissen können - auch wenn ich noch keine Vorstellung darüber besaß, wie ich das anstellen sollte. .

Nach dem Frühstück rief ich Andrea an und teilte ihr mit, dass es mir am kommenden Wochenende nicht passen würde. Dringe Terminarbeiten ständen an, so dass wir zu wenig Zeit für uns hätten, wenn sie wirklich außer der Reihe nach Köln kommen würde.

 

„War ja nur eine Idee“, sagte sie ohne einen enttäuschten Unterton in der Stimme. „Bleibt es denn beim übernächsten Wochenende?“

„Natürlich, ich freue mich.“

Am Nachmittag zog ein Frühjahrsgewitter über Köln hinweg, die Wolken jagten über den Himmel, und ich sah, wie sich die mächtige Tanne vor meinem Fenster im Wind bog. Ich erledigte die Arbeiten, die ich mir vorgenommen hatte, packte meine Tasche und ging in die Sauna. Es handelte sich um ein kleines Familienunternehmen mit einem mittelgroßen Schwimmbecken, zwei finnischen Saunakabinen und einer Dampfsaunaanlage, die in der Woche von einer sehr überschaubaren Zahl von Stammgästen genutzt wurde, lauter nackten Figuren im Zustand der maximalen Transpiration, die ich wahrscheinlich gar nicht wiedererkennen würde, wenn ich ihnen im Supermarkt oder in der Straßenbahn begegnen würde. Trotzdem grüßte man sich mit den Augen oder einem kurzen Kopfnicken und wusste sich geborgen in einer Gemeinschaft der Stummen und Schwitzenden, in der ein jeder nichts weiter wollte als ruhen und denken.

Wozu und für wen hatte Ralf die roten Kladden geschrieben? Hatte er einfach nur festhalten wollen, was mit ihm geschah? Hatte ihn der Akt des Schreibens Erleichterung verschafft, weil er sich im Augenblick des Schreibens von sich selbst distanzierte? Hatte er deswegen von sich selbst in der unpersönlichen dritten Person geschrieben? Und wann hatte er diese Kladden verfasst? Sicher nicht sofort, dafür muss seine Erschütterung zu groß gewesen sein, möglicherweise hatte er seine Aufzeichnungen immer erst einige Tage später zu Papier gebracht.

Hatte er streng dokumentiert oder das eine oder andere hinzugedichtet? Wie zuverlässig war seine Darstellung? Ein Argument für Ralfs Wahrhaftigkeit bestand in der völligen Ahnungslosigkeit, die aus seiner Darstellung sprach. Er stellte sich selbst in seinen Kladden lauter Fragen, auf die er keine Antwort wusste, und er handelte spontan und unüberlegt. Denn es wäre sicher besser gewesen, an dem entscheidenden Wochenende, an dem er von Sabrina verlassen wurde, einfach den Tag in Ruhe vergehen zu lassen und Sabrina die Szene zu ersparen, als sie am Abend ins Haus zurückkehrte. Vielleicht hätte Sabrina ihn gar nicht verlassen, wenn Ralf nicht wutentbrannt nach Düsseldorf gefahren wäre. Hatte sie in diesem Augenblick nicht annehmen müssen, Ralf wäre zu einer anderen Frau gefahren, einer Geliebten, die er in den Zeiten der Krise planmäßig aufgebaut hatte und gegen die sie nun einfach ausgetauscht werden sollte? Ich konnte mir auf diese Fragen ganz unterschiedliche Antworten vorstellen und wollte mehr wissen, als Ralf in der entscheidenden Nacht hatte wissen können, ehe ich weiter las - und wenn ich dazu Freundinnen und Freunde befragen musste, die Ralf damals aus nächster Nähe erlebt hatten.

Als ich spätabends wieder in die Wohnung kam, lagen die roten Kladden noch immer auf dem Tisch. Ich durchblätterte noch einmal die erste Kladde und fand die Stelle, in der Ralf von Birgit erfuhr, dass ein anderer Mann hinter Sabrinas Verschwinden steckte. Birgit musste also von Anfang an mehr gewusst haben, sie war längst eingeweiht gewesen, als Ralf noch im Dunkeln tappte.

Am nächsten Morgen griff ich als erstes zum Telefon und rief in Overath an. Birgit war sofort am Apparat, und es dauerte eine Weile, ehe sie mich einordnen konnte, denn immerhin war die Geschichte von Ralf und Sabrina schon Jahre her, und mich kannte sie überhaupt nicht. Aber sie erinnerte sich sehr lebhaft an Ralf und Sabrina und zeigte keinerlei Zurückhaltung, über die beiden zu reden. Sie duzte mich sofort, und ich ging darauf ein.

„Ich besitze den gesamten Nachlass von Ralf“, erklärte ich, „und ich habe angefangen, ein wenig in seinen Tagebüchern zu lesen. Nach diesen Aufzeichnungen wart ihr nicht nur Nachbarn, sondern auch befreundet.“

Befreundet ist vielleicht ein wenig viel gesagt“, gab Birgit zurück. „Ich habe sie übrigens seit damals weder gesehen noch gesprochen.“

„Ich würde dir gerne einige Fragen dazu stellen. Meinst du, ich könnte mal herauskommen und mit dir persönlich sprechen?“

„Ist das nicht dafür schon zu lange her? Lohnt das denn überhaupt noch?“

„Das stimmt, es ist schon fast zwei Jahre her, aber für mich ist es wichtig. Es dauert auch nicht lange. Würdest du mir diesen Gefallen tun?“

„In Ordnung – kannst du am nächsten Sonntagnachmittag rauskommen?“

Ich stimmte zu, bedankte mich und legte auf.

Am Sonntag fuhr ich schon zur Mittagszeit nach Overath. Der Zufahrtsweg, den ich damals zu Sabrinas und Ralfs Hochzeit gefahren war, war schnell gefunden, und auch die Fleischerei von Birgit und Klaus-Peter erkannte ich sofort.

Als ich den Wagen abstellte, sah ich, dass sich das Haus, in dem Ralf und Sabrina gewohnt hatten, kaum verändert hatte. Es war ein von der Straße zurückgesetztes Gebäude mit einer großen Pinie gleich neben dem Eingang und einem Tor, dessen Gitter von Rosensträuchern durchwirkt waren. Noch immer stand das Haus im Schatten eines imponierenden Tannenwaldes, der gleich hinter dem großen Garten begann.

Als ich näher an das Haus heranging, um einen Blick in den Garten zu werfen, traf ich auf einen weißhaarigen Mann, der sich an einem Blumenbeet zu schaffen machte. Er musste über weit über sechzig sein, wirkte aber noch rüstig, als er sich erhob. „Kann ich Ihnen helfen? Suchen Sie jemanden?“ fragte er.

„Ich bin mehr zufällig hier. Wenn ich mich nicht irre, hat hier bis vor zwei Jahren das Ehepaar Sani gewohnt“, begann ich zögernd.

„Das stimmt. An die beiden kann ich mich sehr gut erinnern“, antwortete der Alte, der sich als der Hausbesitzer vorstellte.

„Ist das Haus vermietet?“ wollte ich wissen.

„Nein, zurzeit nicht. Die Mieter sind vor einem Monat ausgezogen, es waren übrigens die Nachmieter von Sanis“, erwiderte der Hauseigentümer, um nach einer kurzen Pause den Kopf zu schütteln und hinzuzufügen. „Es ist schon merkwürdig. Mit diesem Haus scheint kein Glück verbunden zu sein.“

„Wieso meinen Sie das?“

Der alte Mann, von dem ich nun erkannte, dass er schon an die Siebzig sein musste, stützte sich nun wieder auf seinen Spaten und blickte durch das Tor in den Garten. „Ich habe dieses Haus vor über fünfunddreißig Jahren für mich und meine Frau gebaut. Noch vor der Fertigstellung des Hauses ist meine Frau gestorben.“

„Das tut mir leid.“

„Danach wohnte eine englische Familie in diesem Haus, bis ihre Kinder so krank wurden, dass sie wieder zurück auf die Insel gingen. Und wie es mit den Sanis ausgegangen ist, wissen sie ja wahrscheinlich“, erzählte der Hauseigentümer. „Und die Rolkmanns, die nach den Sanis ins Haus gezogen sind, haben sich auch vor einem halben Jahr getrennt.“

„Aber ich hoffe, Birgit und Klaus-Peter Ottmich leben noch im Nachbarhaus und sind auch noch zusammen?“ fragte ich. Zwei Jahre waren eine lange Zeit, die beiden konnten sich inzwischen genauso getrennt haben wie so viele andere Paare.

„Ach, die Ottmichs? Ja, die beiden wohnen noch hier. Sie kennen sie?“

„Nein, nicht wirklich, aber ich wollte sie gerade besuchen.“

Kurz darauf schellte ich im Wohnhaus gleich neben der Metzgerei, und eine mittelgroße Frau öffnete die Türe. „Da bist du ja“, sagte sie, ohne dass ich mich vorgestellt hätte und gab mir die Hand. Birgit hatte große Augen, eine frische Gesichtsfarbe, und ein gewinnendes Lachen, mit dem sie mich ins Haus bat. Hinter ihr wurde ihr Mann Klaus-Peter sichtbar. Das Auffälligste an ihm war seine Pfirsischapfelhaut und sein grauer Schopf über einem runden Gesicht. Ein furchteinflößender irischer Wolfshund lag neben dem Herd und blickte mich abwartend an. Hinter ihm kam eine Schäferhündin angetrabt und begann an meinem Hosenbein zu schnüffeln. „Das sind Mister Meier und Miss Ellie, die sind friedlich“, besänftigte mich Birgit.

Birgit hatte den Kaffeetisch gedeckt, und während Klaus-Peter den Kuchen auf die Teller schob, erzählte ich Birgit, dass ich Sabrina wieder gesehen habe, ohne dass sie mich erkannt hätte. Als ich ihr von der zufälligen Entdeckung der Kladden berichtete, nickte sie und zündete sich eine Zigarette an. Schließlich sagte sie: „Und was willst du von mir wissen?“

„Ich lese gerade zum ersten Mal Ralfs Aufzeichnungen aus der damaligen Zeit, und mir sind einige Dinge nicht ganz klar. Wie hat zum Beispiel deine Freundschaft zu Sabrina begonnen?“

Birgit nahm einen Schluck und überlegte. „Das ist nun wirklich schon eine Zeit her. Wie war das eigentlich?“ sinnierte sie. „Ich glaube, wir lernten uns über die Hunde kennen. Sabrina hatte sich anderthalb Jahre vor dem Ende ihrer Ehe Schnöfy angeschafft, und da blieb es nicht aus, dass wir uns bei den Hundespaziergängen im Wald trafen. Außerdem war ich neu im Ort, ich hatte damals gerade Klaus-Peter kennen gelernt, war hier eingezogen und suchte Anschluss bei den Nachbarn. Von Ralf war ja nie was zu sehen, der fuhr morgens los, kam mittags wieder und verschwand in seinem Arbeitszimmer.“

„Wie war dein Eindruck, als du Sabrina kennenlerntest? War Sabrina damals glücklich?“ fragte ich.

Birgit schüttelte den Kopf. „Nein, es ging ihr immer schlecht. Ich kenne sie nicht anders. Zuerst dachte ich, es läge an einer Krankheit, doch als wir uns besser kennengelernt hatten, erzählte sie mir, dass sich ihre Ehe in einer Sackgasse befand. Darunter litt sie wie eine Todkranke. Manchmal war ihr so schlecht, dass sie nur kurze Waldspaziergänge absolvieren konnte. Immer öfter heulte sie auch, so dass ich sie in den Arm nehmen und trösten musste.“

Klaus-Peter blickte mit ernster Miene auf Birgit, sagte aber nichts.

„Wo lagen die Probleme? Hat sie darüber gesprochen?“

„Zuerst nicht. Sie hat sich offenbar geschämt, denn nach außen hin wirkten Ralf und Sabrina, wenn man sie mal sah, wie ein Traumpaar. Mit der Zeit aber erfuhr ich recht genau, woran die Ehe haperte.“

„Und?“

„Sabrina war unglücklich, weil ihr das Haus, der Hund und vor allem ihr Geschäft über den Kopf wuchsen. Sie fühlte sich überlastet und von Ralf zu wenig unterstützt, mehr noch: er schien sich nach ihrer Darstellung für sie überhaupt nicht zu interessieren. Sie klagte immer wieder darüber, dass sie nicht mehr zusammen reden und schon lange nicht mehr zusammen schlafen würden. Sie war ganz ausgetrocknet vor Mangel an körperlicher Zuwendung. Das war das Hauptproblem.“

„Wieso das?“ fragte ich. „Dass Zärtlichkeit und Sex in der Ehe etwas nachlassen, soll doch vorkommen.“

„Kann sein. Weiß ich nicht. Aber ganz sicher weiß ich, dass Sabrina zu den Menschen gehört, die die Sexualität brauchen wie das tägliche Brot – nicht der Lust wegen, sondern als Bekundung von Nähe und Geborgenheit. Dass Ralf das nicht erkannt hat, ist sein größter Fehler gewesen.“

Der Kuchen war verspeist, der Kaffee getrunken. Die beiden großen Hunde lagen friedlich in der Ecke, als ich den Gedanken zu Ende führte: „Und dann hat sie sich das, was ihr fehlte, woanders geholt.“

„Stimmt. Das war für sie damals eine Frage des seelischen Überlebens.“

Klaus-Peter zog eine Schnute. Diese Moral von der Geschichte gefiel ihm nicht. Mir auch nicht. „Warum hat sie nicht mit offenen Karten gespielt? Sie hätte doch ausziehen können ohne gleich einen Fritten hineinzuziehen?“ fragte ich.

„Dafür hatte sie zu große Angst. So sehr sie am Ende Ralf niedermachte, im Kern hatte sie eine Heidenangst vor ihm. Am Ende fürchtete sie, dass er sie eines Tages abschießen und aus dem Haus werfen würde.“ Birgit zündete sich eine Zigarette an und nahm einen langen Zug.

Ich zögere einen Augenblick, dann fragte ich. „Du warst also von Anfang an in die ganze Geschichte eingeweiht?“

Birgit blickte mich überrascht an. „Was heißt eingeweiht? Es war ja kaum zu übersehen. Ein paar Monate bevor die Ehe der beiden auseinanderbrach, ging mit Sabrina eine erstaunliche Veränderung vor. Sie hörte plötzlich auf zu heulen und begann über Ralf wie ein Rohrspatz zu schimpfen. Es schien auf einmal keine Gemeinheit mehr zu geben, die sie ihm nicht zugetraut hätte. Richtig sauer konnte sie werden, wenn sie seine Untaten aufzählte, und als ich einmal anmerkte, nun würde sie aber übertreiben, ist sie mir über den Mund gefahren. Na ja, sie war halt ein wenig temperamentvoll. Übrigens war das natürlich auch die Zeit, als die Affäre mit Manuel begann.“

„Und Ralf? Was war mit dem? Merkte der denn gar nichts?“

 

„Nein, der war ahnungslos wie ein Baby. Wir haben uns ja damals noch öfters zu viert getroffen, Ralf und Sabrina, Klaus-Peter und ich saßen dann vor ihrem Kamin und tranken Wein, und ich weiß noch genau, wie leid er mir damals tat. Das Unheil braute sich über seinem Kopf zusammen, und er war der einzige im Kreis, der davon nichts wusste. Manchmal schämte ich mich auch, ihn sehenden Auges in die Falle tappen zu lassen. Er war bei weitem nicht der schlechte Kerl, als den ihn Sabrina hinstellen wollte, aber er war doch auf eine ganz unerhörte Weise auf sich bezogen, sonst hätte er spüren müssen, was abging.“

Klaus-Peter wollte mir einen neuen Schnaps nachschenken, doch ich winkte ab.

„Ich erinnere mich noch genau an eine Szene, als Sabrina kurz vor ihrem Auszug wegen einer Routineuntersuchung im Krankenhaus war und ich sie in Hückeswagen besuchte“, erzählte Birgit weiter. „Damals sah ich Manuel zum ersten Mal. Für mich war er großer Kerl mit riesigen Händen und einem treuen Hundeblick - eigentlich nicht das, worauf Sabrina abfuhr. Aber es war mit Händen zu greifen, wie bedingungslos dieser Mann Sabrina liebte, wie sehr er sie mit jeder Faser seines Wesens begehrte. Als wir zu dritt auf dem Parkplatz standen, kam plötzlich Ralf angefahren um seine Frau zu besuchen. Das war eine heikle Szene, denn er hätte sich doch fragen müssen, was dieser Kerl neben seiner Frau zu suchen hatte. Aber er schien überhaupt nicht auf die Idee zu kommen, dass dieser Mensch irgendetwas mit Sabrina zu tun haben könnte. Ich glaube, er hat ihn mir zugeordnet, ohne dass darüber ein Wort gesprochen worden wäre.“

Ich ließ mir noch einen Kaffee einschenken und überlegte. „Aber wenn das so war, wenn Sabrina und Manuel ihre Affäre lange vor Ostern begonnen hatten, wie passt denn das zu dem Plan, dass Ralf und Sabrina Ostern noch gemeinsam in Urlaub fahren und über ihre Ehe reden wollten? War sie sich vielleicht doch nicht ganz sicher?“

Birgit schüttelte den Kopf. „Die Sache war noch eine Spur komplizierter. Manuel hatte sie für die Ostertage zu einer Reise nach Bayern eingeladen. Am Tegernsee stand es eine internationale Oldtimershow an, bei der Manuel hoffte, sich besonders eindrucksvoll präsentieren zu können. Auch Sabrina hatte Lust auf das ganze Ambiente von Prominenz, Geld und kostbaren Autos, hatte aber noch immer Angst vor der eigenen Courage. Am liebsten wäre es ihr wahrscheinlich gewesen, Ralf hätte sie mit Manuel fahren lassen und anschließend ihre Entscheidung entgegengenommen. Da daran natürlich nicht zu denken war, verfiel sie auf den Plan, der ehelichen Türkeireise scheinbar zuzustimmen. Das stellte Ralf erst mal ruhig und erlaubte es Sabrina, den Hund mit der nötigen Vorlaufzeit sicher in einer Hundepension unterzubringen. Ralf glaube natürlich, dass Schnöfy wegen des gemeinsamen Türkeiurlaubes abgegeben würde. Sabrina hatte aber niemals vorgehabt, mit Ralf in die Türkei zu fahren.“

Klaus-Peter blickte mich an. So akribisch können Frauen sein, schien sein Gesicht zu sagen.

„Am betreffenden Samstag war sie weder im Geschäft noch in der Stadt. Sie war den ganzen Tag mit Manuel zusammen gewesen, und als sie abends nachhause kam, war sie entschlossen Ralf zu überreden, ohne sie in die Türkei zu fahren, während sie sich allein daheim alles noch einmal überlegen würde. So hätte sie genügend Zeit gewonnen, Manuel in Bayern auf den Zahn zu fühlen. Wenn die Sache schief gelaufen wäre, hätte sie nach Ralfs Rückkehr aus der Türkei immer noch das Ruder herumwerfen können.“

Birgit drückte die Zigarette aus. „Als Ralf dann ausrastete und aus dem Haus raste, überschlugen sich die Ereignisse. Sabrina packte ihre Sachen und fuhr zu Manuel. Vielleicht hat sie es auch getan, weil sie fürchtete, Ralf hätte seinerseits eine andere Frau in der Hinterhand, so dass sie nun endgültig die Seiten wechseln musste. Auf jeden Fall wurde nun offenbar, was lange vorher eingefädelt worden war.“

„Aber sie hat ihn doch noch in der Nacht vor der Abfahrt in die Türkei angerufen“, gab ich zu bedenken. „Dabei hat sie ihm noch Hoffnungen gemacht.“

„Ja, sie wusste ja noch immer nicht, wie die Reise mit Manuel ausgehen würde.“

Mister Meier war aufgestanden und drängte sich an Birgit. „Der Hund muss raus, gehst Du mit eine Runde durch den Wald?“ fragte sie.

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, ich muss zurück. Nur noch eine Frage: Du warst die ganze Zeit über ihre Vertraute?“

„Nur bis zu dem Wochenende an dem sie verschwunden ist. Als ich das Elend mit Ralf sah, habe ich ihm gesagt, dass ein anderer Mann im Spiel ist. Das war dann auch das Ende meiner Freundschaft mit Sabrina. Das hat sie mir nicht verziehen.“

Klaus-Peter kam und brachte die Leinen. Wir gingen zusammen auf die Straße und verabschiedeten uns.

Als ich heimkam, öffnete ich eine Flasche Wein und griff mir die zweite Kladde. Ich hatte begonnen, hinter die Bühnenvorhänge zu schauen und wollte nun Ralfs Version seiner Geschichte weiter folgen.

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