Mehrsprachige Leseförderung: Grundlagen und Konzepte

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Mehrsprachige Texte zur Entwicklung kommunikativer Kompetenz

Steht im Zentrum des Unterrichts die Entwicklung kommunikativer Kompetenzen, so geht es um die Ausbildung der rezeptiven Kompetenzen des Hörverstehens/Hör-Sehverstehens und des Lesens, sowie um die produktiven Kompetenzen des Sprechens und Schreibens sowie elementare Formen der Sprachmittlung in der jeweiligen Zielsprache.

Auf der rezeptiven Ebene sollen die Schüler/innen laut Bildungsstandards für die erste Fremdsprache im Bereich Hörverstehen „unkomplizierte Sachinformationen über gewöhnliche alltags- oder berufsbezogene Themen verstehen und dabei die Hauptaussagen und Einzelinformationen erkennen (…).“ (KMK 2003: 11)

Im Bereich Lesen sollen die Lernenden „weitgehend selbstständig verschiedene Texte aus Themenfeldern ihres Interessen- und Erfahrungsbereiches lesen und verstehen.“ (KMK 2003: 12)

Mehrsprachige Texte des Typs 1, seien diese kürzeren oder längeren Formats, können insbesondere Sprachlernanfänger/innen und schwächeren Schüler/innen, bei der Texterschließung ein große Hilfe sein. Denn – so stellt Butzkamm richtig heraus: „Sprache ist zuallererst Rede. Ihr Erwerb beginnt da, wo wir Sprache hörend (oder hörend und mitlesend) aufnehmen und verstehen. Wer nichts von dem versteht, was er hört, lernt auch nicht.“ (Butzkamm 2012: 87)

Aber auch für leistungsstärkere Lernende können Texte in mehreren Sprachversionen (Typ 1A) beim Hörverstehen- und Lesen dienlich sein. So können sie die zweite Sprachversion im Anschluss an den Lese-, Hör-, Sehvorgang nutzen, um selbstständig zu überprüfen, ob sie global oder im Detail einen Text in der Fremdsprache richtig verstanden haben, und dabei zeitgleich ihr Lese- und Hörverstehen in anderen, bereits vorhandenen Sprachen trainieren (vgl. hierzu Buendgens-Kosten/Elsner 2014).

Mehrsprachige Lese- oder Hör-/ und Sehtexte des ersten Typs können darüber hinaus allen Lernenden auch bei der Erschließung von Einzelwörtern helfen und zu Sprachvergleichen anregen, welche die Entwicklung der Sprachbewusstheit fördern kann. Letzteres ist insbesondere dann der Fall, wenn es sich bei den verschiedensprachigen Texten nicht um Texte eines Wörterbuchs handelt, sondern um längere Texte. Denn hier müssen die Lernenden mit der unterschiedlichen Syntax verschiedener Sprachsysteme vertraut sein oder sich dieser bewusst werden, um den Text in der anderen Sprache zur Erschließung von unbekannten Wörtern in der Zielsprache zu nutzen, wie im folgenden Beispiel ersichtlich wird:

Ich mag kein Gemüse.

I don’t like vegetables.

Je n’aime pas les legumes.

Auf der produktiven Ebene sollen Lernende im Bereich Sprechen „Erfahrungen und Sachverhalte zusammenhängend darstellen, z.B. beschreiben, berichten, erzählen und bewerten“ (KMK 2003: 13) können und im Bereich Schreiben „zusammenhängende Texte zu vertrauten Themen aus ihrem Interessengebiet verfassen“ (ebd.). Darüber hinaus sollen sie in der Lage sein, sprachliche Äußerungen und Texte zu vertrauten Themen schriftlich und mündlich sinngemäß von der einen in die andere Sprache zu übertragen. (vgl. ebd: 14)

Am Einfachsten ist der Einsatz mehrsprachiger Texte im Rahmen von Sprachmittlungsaufgaben. Hier können fremdsprachliche Texte sinngemäß in alle Sprachen der Lernenden übertragen werden oder umgekehrt. Die Übersetzungen in nicht deutsche Sprachen können von anderen Mitschüler/innen mit dem elektronischen Übersetzungsprogramm in die deutsche Sprache übersetzt und anschließend mit dem Original verglichen werden.

Insbesondere beim kreativen Schreiben, aber auch bei der mündlichen Sprachproduktion, kann die explizite Erlaubnis und Motivation dazu, mehrere Sprachen im Sinne des Texttyps 2 zu verwenden besonders motivierend sein und Texte inhaltlich bereichern. Begriffe aus anderen Sprachen können z.B. als besonderes Stilmittel eingesetzt werden, weil ein bestimmter Begriff aus einer anderen Sprache eine Sache oder einen Gegenstand z.B. besser oder genauer beschreibt, eine bestimmte Emotion darstellt oder bei der wörtlichen Rede die Alltagswelt vieler Mehrsprachiger, welche von Sprachenwechsel und Sprachmischungen geprägt ist, widerspiegelt. Mehrsprachige Texte unterschiedlicher Autoren können im Unterricht zunächst gelesen und diskutiert werden. Anschließend verfassen die Lernenden selbst Texte in denen sie „ihre“ Sprachen einbringen (vgl. Elsner 2012).

Mehrsprachige Texte zur Förderung Interkultureller Kompetenzen

Die Auseinandersetzung mit literarischen Texten gilt als zentrales Element interkultureller Lernprozesse im Rahmen des Fremdsprachenunterrichts. Sorgfältig ausgewählte Texte aus den fremdsprachlichen Zielkulturen sollen Schüler/innen einen Einblick in andere Kulturen ermöglichen, zum Perspektivenwechsel anregen, Fremdverstehen anbahnen und zur Reflexion über die eigene kulturelle Identität auffordern.

Mehrsprachige Texte, wie die Gedichte von Antoine Cassar oder Pat Mora (vgl. Elsner 2012), aber auch von anderen Künstler/innen, die ihre Mehrsprachigkeit als besonderes Stilmittel in ihren Texten einsetzen, eignen sich besonders gut, um diese Fähigkeiten und Fertigkeiten anzubahnen.

Mehrsprachige Texte zur Förderung von Methodenkompetenzen

Zunehmend werden im Fremdsprachenunterricht autonome Lernformen integriert, die den Lernenden nicht nur ein individuelles Erfassen des Lernstoffes ermöglichen, sondern auch das selbstständige und lebenslange Lernen außerhalb des Schulunterrichts anbahnen sollen. Damit verbunden sind der Erwerb bestimmter Lerntechniken und die Bewusstmachung von Stragien. Gerade der bewusste Vergleich von verschiedenen Sprachen ist in diesem Zusammenhang als sinnvolle Tätigkeit zu vermerken, durch welche die Lernenden wichtige Erschließungsstrategien aber auch Kommunikations- und Sprachlernstrategien erwerben können. So können z.B. Texte in Sprachen, die der Zielsprache nahverwandt sind, jedoch nicht der Schulsprache entsprechen, eingesetzt werden, um Interkomprehensionsstrategien, also die Nutzung bereits bekannter Sprachen für die Sprachrezeption und -produktion sowie zur grammatischen Durchdringung einer fremden Sprache zu fördern (vgl. hierzu z.B. Oleschko 2011: 16).

In diesem Zusammenhang kann auch besonders gut auf die Bedeutung der Zielsprache (Englisch, Französisch, Spanisch etc.) hinsichtlich des Erwerbs weiterer Fremdsprachen (Dänisch, Schwedisch, Italienisch etc.) aufmerksam gemacht werden.

Insgesamt können die vorangegangenen Beispiele jedoch nur einen kleinen Ausschnitt dessen verdeutlichen, was mit mehrsprachigen Texten im Fremdsprachenunterricht getan werden kann. Viele weitere Beispiele sind mittlerweile in der Literatur zu finden (zusammenfassend Blell/Doff 2014; Buendgens-Kosten/Elsner in Vorb.; Jakisch 2015; Lohe 2016: 60ff.; Mayr 2015).

Bevor diese Ideen jedoch im Unterricht übernommen werden, sollte man sich mit den Effekten des Einsatzes mehrsprachiger Texte aus empirischer Sicht auseinandersetzen, was im Folgenden getan wird.

4. Mehrsprachige Texte: Wirkungen und Nebenwirkungen

Empirische Untersuchungen hinsichtlich der Wirksamkeit des Einsatzes mehrsprachiger Texte zur Förderung der oben genannten Kompetenzen im Rahmen des Fremd- und Zweitsprachenunterrichts gibt es mittlerweile zahlreiche, lediglich einige davon können an dieser Stelle exemplarisch aufgezeigt werden, um folgende Aussagen treffen zu können:

Der Einsatz mehrsprachiger Texte im Fremdsprachenunterricht fördert das Interesse an fremden Sprachen und erhöht die Sprachbewusstheit auf kognitiver und affektiver Ebene.

Im Rahmen ihrer Dissertationsstudie hat Viviane Lohe mittels eines quasi-experimentellen Forschungsdesigns und ergänzenden Interviews den Zuwachss der kognitiven und affektiven Dimension der Sprachbewusstheit bei 49 Kindern untersucht. Die Ergebnisse zeigen, dass die Arbeit mit mehrsprachigen Texten des Typs I a die Entwicklung der Sprachbewussheit auf kognitiver und affektiver Ebene der ein- und mehrsprachigen Grundschulkinder mit verschiedenen Erstsprachen fördert (Lohe 2016).

Der Einsatz mehrsprachiger Texte motiviert die Schüler/innen zum Lesen und Hören in verschiedenen Sprachen.

Im Rahmen des Forschungsprojekts MuViT wurden dieselben Texte wie in der Studie von Lohe (My First Stories, Oldenbourg Verlag) in mehreren Grundschulklassen eingesetzt und die Nutzung der Lernenden in verschiedenen explorativen Untersuchungen beobachtet (zusammenfassend Elsner 2014). Dabei stellt sich heraus, dass die Grundschulkinder das Lesen in mehreren Sprachen nicht nur interessant finden, sondern die verschiedenen Sprachen auch zur Erschließung von Texten in der Zielfremdsprache Englisch nutzen. Ähnliche Ergebnisse liefert die größer angelegte Studie LIKE (Elsner/Buendgens-Kosten/Hardy 2015), in welcher eine dreisprachige Version der mehrsprachig digitalen Texte Grundschulkindern mit Deutsch als Erst- bzw. Zweitsprache zur Verfügung gestellt wurde.

Der Einsatz mehrsprachiger Texte kann sich förderlich auf das Leseverstehen in einer Fremdsprache auswirken.

Im Projekt LIKE untersuchten Buendgens-Kosten, Elsner und Hardy die Bedeutung der Erst- und Zweitsprache für die Entwicklung kommunikativer Kompetenz in einer Fremdsprache (Englisch) bei bilingualen (deutsch-türkischen) Grundschulkindern während der Bearbeitung einer textbezogenen Aufgabe in kooperativen Lernsettings. Erste Ergebnisse der Studie zeigen, dass sowohl die ein- als auch die mehrsprachigen Lernenden ihre Erstsprache als Ressource für die Erschließung von Texten in der englischen Sprache nutzen, wenn die Lernumgebung ihnen das ermöglicht (vgl. Elsner et al. 2015: 35) und die Nutzung der mehrsprachigen Texte zu einem verbesserten Textverständnis in der Fremdsprache Englisch führt (Buendgens-Kosten et al. erscheint).

 

Mehrsprachige Texte erhöhen die Qualität und Quantität mündlicher Kommunikation

In einer experimentellen Studie mit Lernenden des Englischen als Zweitsprache, setzte Alvarez (Alvarez John erscheint) mehrsprachige Texte des Typs IA ein. Die sich hieran anschließenden Diskussionen verglich er hinsichtlich Qualität und Quantität mit der Diskussion im Anschluss an die Lektüre einsprachiger Texte. Alvarez stellte fest, dass die Beteiligung der Lernenden in der Textdiskussion nicht nur reger, sondern auch inhaltlich ausgiebiger wurde. Auf der Grundlage seiner Ergebnisse folgert Alvarez, dass Aufgaben, die mehrsprachige Lernende dazu auffordern ihre Vielsprachigkeit produktiv einzusetzen, einen positiven Effekt auf die Identitätsentwicklung und das Sprachenselbstkonzept mehrsprachiger Lerner/innen haben.

Mehrsprachige Texte beeinflussen das Sprachenselbstbild positiv und regen zur Reflexion über die Bedeutung der eigenen Mehrsprachigkeit an

In einer kanadischen Studie ließ Jim Cummins (o.J.) ESL-Lerner/innen sogenannte Identity Texts verfassen. Die Lernenden durften dabei auch in ihrer Muttersprache schreiben, die sie noch besser beherrschten. Die Studie ergab, dass sich die Lernenden nicht nur wertgeschätzt fühlten, sondern sich auch dem Mehrwert ihrer plurilingualen Kompetenz bewusst wurden. In einer anderen Studie ließ Magdalena Mayr (2016) ein- und mehrsprachige Lernende mehrsprachige Gedichte verfassen. Hier zeigte sich, dass die Aufgabe bei den Schüler/innen zu einer verstärkten Auseinandersetzung mit der eigenen Mehrsprachigkeit und Transkulturalität führte.

Dieses Kapitel hat versucht, den Mehrwert mehrsprachiger Texte für den Einsatz im Fremdsprachenunterricht darzulegen. Dabei wurde deutlich, dass mehrsprachige Texte nicht nur das Bildungsziel „Mehrsprachigkeit“ befördern, sondern daneben auch ein authentischeres Sprachbild im Unterrichtskontext zeichnen, das für Lernende eine unterstützende und motivierende Funktion haben kann. Nicht zuletzt eignen sich mehrsprachige Texte zur Förderung interkultureller, kommunikativer und methodischer Kompetenzen, insbesondere zur Förderung der Sprach(lern)bewusstheit. Somit stellt sich lediglich noch eine Frage zum Schluss: Was spricht noch gegen die mehrheitliche Forderung der Lernenden? Und die Antwort lautet: Rien, nichts, ничего oder nothing.

Zusammenfassung

In diesem Kapitel wurden das didaktische Potenzial sowie der übergreifende Mehrwert mehrsprachiger Texte aus Sicht der Bildungspolitik und Sprachlehrforschung für die Entwicklung kommunikativer, interkultureller und methodischer Kompetenzen im Fremdsprachenunterricht diskutiert. Es wurde eine Systematisierung mehrsprachiger Texttypen vorgenommen und konkrete Beispiele für deren Einsatz im Unterricht aufgezeigt. Darüber hinaus wurden verschiedene Ergebnisse empirischer Untersuchungen zum Einsatz mehrsprachiger Texte im Fremdsprachenunterricht dargelegt.

Studienfragen

1 In diesem Kapitel werden mehrsprachige Texte in fünf Kategorien eingeteilt. Finden Sie zu jeder Kategorie mindestens ein Beispiel im Internet oder der Bibliothek.

2 Pat Mora und Antoine Cassar werden im Kapitel als Autoren mehrsprachiger Gedichte genannt, die sich für den Einsatz im Fremdsprachenunterricht eignen. Wählen Sie ein Gedicht der beiden Autoren aus und erläutern Sie auf der Grundlage dieses Kapitels, wie Sie diesen Text im Unterricht einsetzen können. Welche Lernziele verfolgen Sie dabei? Welche Kompetenzen werden aus Ihrer Sicht hierbei gefördert? https://antoinecassar.wordpress.com/author/antoinecassar/http://www.patmora.com/

3 Dieses Kapitel berichtet über mehrere empirische Untersuchungen zum Einsatz mehrsprachiger Texte im Fremdsprachenunterricht. Formulieren Sie selbst eine Forschungsfrage zum Einsatz mehrsprachiger Texte im Fremdsprachenunterricht. Erläutern Sie, mit welcher Forschungsmethode Sie diese Frage am Besten untersuchen könnten. Welche Untersuchungsinstrumente setzen Sie hierfür ein? Eruieren Sie, ob es bereits Studien gibt, die dieser oder einer ähnlichen Frage nachgegangen sind.

[bad img format]Lektüreempfehlungen

Buendgens-Kosten, Judith/ Hardy, Ilonca, Elsner, Daniela (2017): Code-Switching Your Way to Language Learning? Receptive Code-Switching with Digital Storybooks in Early Language Learning. In: Enever, Janet/Lindgren, Eva (Hrsg.): Early Language Learning. Complexity and Mixed Methods. London: Mulilingual Matters., S. 108–126.

Jakisch, Jenny (2015): Mehrsprachigkeitsförderung über die erste Fremdspache. Der Beitrag des Faches Englisch. In: FLuL 44, 2, 20–33.

«Besonders beim Wechsel von “learning to read” hin zu “reading to learn” wird der Unterschied zwischen Mädchen und Jungen oft sehr deutlich.» (Shaywitz/ Shaywitz)

Kapitel 3 Frühe genderspezifische Entwicklung der Lesekompetenzen mehrsprachiger Kinder

Befunde und sprachendidaktische Konsequenzen

Heiner Böttger

Fragen

1 Mädchen und Jungen lernen Lesen anders. Was vermuten Sie, in welchen für das Lesenlernen relevanten Bereichen können Unterschiede festgestellt werden?

2 Welche Forschungsinstrumente und -methoden sind geeignet, um Unterschiede in der Alphabetisierung mehrsprachig aufwachsender Kinder zu identifizieren?

3 Welche Aspekte eines gendersensiblen frühen Sprachenunterrichts sind besonders zu berücksichtigen?

Abstract

Mädchen und Jungen lernen und gebrauchen Sprachen bereits sehr früh völlig verschieden. Bei der Entwicklung der frühen Lesekompetenzen zeigen sich die größten Unterschiede. Gendersensible sprachendidaktische Konsequenzen bleiben im institutionalisierten Sprachenlernen jedoch bis heute begrenzt.

In diesem Kapitel wird auf der Basis der frühen genderspezifischen Sprachentwicklung ein Forschungsprojekt mit Ergebnissen zur Entwicklung früher Lesekompetenzen mehrsprachiger Kinder dargestellt. Anschließend werden vor diesem Forschungshintergrund erste evidenzbasierte, konkrete, sprachenübergreifende didaktische Konsequenzen für die unterrichtliche Umsetzung gezogen. Im Zentrum der Überlegungen stehen individuelle und differenzierte Fördermaßnahmen, die als professionelles Diversity Management ein Sprachenkontinuum für alle, insbesondere mehrsprachige, Lernkontexte möglich machen sollen.

Einleitung

Mädchen und Jungen lernen und gebrauchen Sprachen generell völlig unterschiedlich (Schmithorst/Holland/Dardzinski 2008: 2; Plante/Schmithorst/Holland/Byars 2006), ungeachtet eines monolingualen oder bilingualen Aufwachsens. Diese gesicherte wissenschaftliche Erkenntnis hat bislang noch nicht zu weiterführenden, reflektierten didaktischen Maßnahmen im frühen Sprachunterricht geführt, ungeachtet dessen, ob es sich um muttersprachlichen oder fremdsprachlichen Unterricht handelt. Dabei sind die Unterschiede alles andere als marginal. Mädchen sind nach Befunden der nicht spezifisch neurowissenschaftlichen, so z.B. der psycholinguistischen oder entwicklungspsychologischen Spracherwerbsforschung, Jungen im Erstsprachenerwerb sehr früh in folgenden Kompetenzbereichen leicht überlegen (vgl. z.B. Craig/Washington/Thompson 2005; Halpern 1992; Heaton/Ryan/Grant/Matthews 1996; Hyde/Linn 1988; Irwin/Whalen/Fowler 2006; Jackson/Roberts 2001; Kimura 1999; Majeres 1999; Rome-Flanders/Cronk 1995):

 Sprachproduktion und Sprachflüssigkeit,

 vorsprachliche Fertigkeiten,

 spontane Sprechbereitschaft,

 Rechtschreibung,

 generelle Sprachfähigkeit,

 Grammatikverwendung,

 Wortgedächtnis,

 Wortzuordnungsgeschwindigkeit,

 Wortlesen.

Jungen dagegen besitzen entwicklungsbedingte Vorteile bezüglich des Verstehens von Wortanalogien (u.a. Hyde/Linn 1988). Trotz aller leichter weiblicher Überlegenheit ist jedoch bewiesen, dass Jungen nicht weniger reden als Mädchen, nur die Inhalte sowie der Wortartengebrauch sind unterschiedlich (vgl. Morling 2011: 170).

Mit speziellem Blick auf bekannte genderspezifische Unterschiede bei metaphorischer Lesekompetenz ist noch erwähnenswert, dass Mädchen sich in der Regel etwas früher in Personen einfühlen können (vgl. Böttger 2016: 87).

Der Blick direkt ins Gehirn, durch moderne bildgebende radiologische Verfahren, unterstreicht die obigen Befunde und fügt neue Unterschiede hinzu. Im Folgenden sollen insbesondere solche Differenzen thematisiert werden, die sich auf die Alphabetisierung bzw. die Entwicklung der Lesekompetenzen zwei- und mehrsprachiger Kinder beziehen.

1. Neue Forschungsansätze zu gendersensiblen Fragestellungen

Wie lassen sich genderspezifische Unterschiede bei der Sprachverarbeitung darstellen und werten?

Genderspezifische sprachliche Entwicklungen überhaupt zu identifizieren, ist schon deshalb eine Herausforderung, da neben den Variablen, die sich aus den zerebralen Unterschieden ergeben (vgl. Böttger 2016: 88), auch soziokulturelle Einflüsse wie beispielsweise Erziehung, Leitbilder oder Medien (ebd. 80f.) miteinbezogen werden müssen. Eine isolierte Betrachtung der rein biologischen Geschlechtsunterschiede verfälscht jede Interpretation: „Gender studies claim that a clear-cut distinction between a biological sex and a social gender does not exist“ (vgl. Butler 1990; Fausto-Sterling 2000). Gendersensible und -spezifische Forschungsdesigns in der Spracherwerbsforschung betrifft dies somit ebenfalls. Generalisierte sprachendidaktische Schlussfolgerungen sind deshalb nicht ohne qualitative Forschungsinstrumente wie z.B. zusätzliche Leitfadeninterviews mit den Kindern und ihren Erziehungsberechtigten sowie Lehrkräften und Betreuer/innen zu möglichen Einflussfaktoren wie Herkunft, häusliche Förderung etc. möglich.

Der Forschungsfokus bzw. das Erkenntnisinteresse dieses Kapitels lässt sich auf zwei Fragestellungen komprimieren:

1 Welche genderspezifische Entwicklung nehmen die Lesekompetenzen mehrsprachiger Kinder?

2 Wie lassen sich die Befunde zur genderspezifischen Entwicklung im schulischen Sprachenunterricht berücksichtigen?

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