Mehrsprachige Leseförderung: Grundlagen und Konzepte

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Kapitel 1 Leseförderung im Kontext der Mehrsprachigkeit aus der Perspektive der Deutschdidaktik

Cornelia Rosebrock

Fragen

1 Welche Leseförderverfahren gibt es, und welche sind für welche Schüler/innen wirksam?

2 Brauchen wir im Deutschunterricht eigene Verfahren der Leseförderung für die mehrsprachig Heranwachsenden, oder profitieren sie von den gleichen Verfahren wie ihre ebenfalls schwach lesenden einsprachigen Mitschüler/innen?

3 Kann im Rahmen des landessprachlichen Unterrichts – also des Deutschunterrichts – Mehrsprachigkeit als lesedidaktische Chance modelliert und nutzbar gemacht werden, und wie kann das ggf. geschehen?

Abstract

In diesem Kapitel werden Ihnen zunächst unterschiedliche Verfahren der Leseförderung im Rahmen des landessprachlichen Unterrichts, also des Deutschunterrichts, unter besonderer Berücksichtigung leseschwacher Schüler/innen vorgestellt. Dabei wird grundsätzlich unterschieden zwischen buchorientierten Verfahren, die eigenständiges Lesen fordern, Strategievermittlung zur Förderung des Textverstehes und Lesetrainings zur Entwicklung hierarchieniedriger Teilleistungen des Lesens. Vielleseverfahren und Lautleseverfahren werden als Förderroutinen detaillierter dargestellt und es werden Studien skizziert, die die Wirksamkeit dieser Verfahren zur Verbesserung der Lese-Prozessleistungen evaluiert haben. Dabei wird sichtbar, dass das enger geleitete Training wirksam ist im Blick auf die Verbesserung der Leseflüssigkeit und der Textverstehensleistungen, und zwar im etwa gleichen Ausmaß für einsprachige wie für mehrsprachige schwache Leser/innen. Das Kapitel schließt mit offenen Fragen zu diesem Themenkomplex.

Einleitung

Schüler/innen mit einer anderen Muttersprache als Deutsch sind bekanntlich keine homogene Gruppe. Aus den vielfältigen Profilen individueller Mehrsprachigkeit stehen für die Frage nach Leseförderung im Rahmen des Deutschunterrichts diejenigen Heranwachsenden im Mittelpunkt, die zu schwache Leseleistungen zeigen, um eine erfolgreiche Schulkarriere zu durchlaufen. Für schwache Leseleistungen ist eine andere Familiensprache statistisch gesehen ein ursächlicher Faktor, allerdings nur einer unter mehreren: Die Schulleistungsstudien zeigen immer wieder, dass auch die sozioökonomische Herkunft, das elterliche Bildungsniveau und weitere Merkmale dabei eine bedeutende Rolle spielen. Diese Faktoren treten häufig gemeinsam auf und verstärken einander. Die mangelnden Leistungen beim Textverstehen – auch das ist vielfach belegt – führen für die betroffenen Schüler/innen zu Risiken im Bildungsverlauf und in der Folge für die gesellschaftliche Teilhabe im Erwachsenenleben. Dabei ist die Gruppe von Schüler/innen, deren Leseleistungen trotz Schulbesuch unzureichend bleibt, nicht klein: Grob kann man von einem Fünftel der Altersjahrgänge sprechen. Kinder und Jugendliche mit einer anderen Familiensprache als Deutsch sind in dieser Gruppe überproportional vertreten (OECD 2016).

Im Hinblick auf Mehrsprachigkeit und Leseförderung im Deutschunterricht stehen also zwei voneinander kaum zu trennende Gruppen im Vordergrund: Einmal die Kinder und Jugendlichen, die mit einer anderen Familiensprache als Deutsch sozialisiert werden, so dass die Landessprache für sie eine zusätzliche Sprache darstellt. Zum anderen die zu schwachen Leser/innen unter der Schülerschaft, für die Leseförderung ebenso geboten ist. Denn auch für die muttersprachlich deutschen schwachen Leser/innen ist die Schulsprache meist in gewisser Hinsicht fremd – als Bildungssprache enthält sie Begriffe und grammatische Fügungen, die in den außerschulischen Interaktionen dieser Kinder und Jugendlichen kaum in Erscheinung treten (Feilke 2017).

Im Folgenden werden zunächst die praktizierten Verfahren des Deutschunterrichts zur Leseförderung vorgestellt. Anschließend werden zwei Förderroutinen, die Potenziale für mehrsprachige bzw. schwache Leser/innen zeigen, diskutiert, nämlich Vielleseverfahren und Lautleseverfahren. Sie werden auf ihre Wirksamkeit zur Verbesserung der Lese-Prozessleistungen hin befragt und im Blick auf die Potenziale für mehrsprachige schwache Leser/innen diskutiert. Nach einem Fazit wird dargestellt, welche offenen Forschungsfragen im Feld der Leseförderung für Mehrsprachige im Rahmen des landessprachlichen Unterrichts bestehen.

1. „Lesen lernt man durch Lesen“ – buchorientierte Verfahren

Das literarische Lesen steht traditionell bei der Leseförderung im Deutschunterricht in allen Altersstufen im Zentrum. Literarische Lektüre eröffnet, so erhofft man sich, Teilhabe an Kultur und Geschichte der Sprachgemeinschaft; sie unterstützt die Ausbildung einer eigenen Persönlichkeit, fördert die Imaginationsfähigkeit und die Bereitschaft, fremde Perspektiven einzunehmen, und schließlich übt sie auch Lesefertigkeiten ein. Literarische Lektüre sollte entsprechend nicht nur im eigentlichen Literaturunterricht geschehen, sondern auch in leseanimierenden Projekten, dann oft mit weniger anspruchsvollen Texten als beim zielorientierten literarischen Lernen. Solche Leseanimationen sind gleichsam am Rande des Literaturunterrichts angesiedelt, beispielsweise in Form von Büchernächten, Autorenlesungen, Buchvorstellungen, Bibliothekskontakten und Ähnlichem. In leseanimierenden Projekten wird zwar nicht unmittelbar gelesen, aber doch zum Lesen verlockt – ihnen geht es besonders um Lesefreude, um die Motivation und Bereitschaft, literarisches Lesen als persönlichen Modus des In-der-Welt-Seins, als Erfahrungspotenzial zu entdecken, das in die eigenen Lebensvollzüge habituell integriert werden kann (Bertschi-Kaufmann 2016). Stilles Lesen ganzer Bücher gilt schließlich als eine der effektivsten Praktiken zur Unterstützung des Zweitspracherwerbs (Ockey/Reutzel 2010; Neuland/Peschel 2017), Kinder- und Jugendbücher sind wegen ihrer niedrigen Textkomplexität und ihrer thematischen Lebensweltnähe das ideale Medium dafür. Leseförderung durch eine Steigerung der Lesemenge folgt dem Gedanken „Lesen lernt man durch lesen“ (vgl. Manning/Lewis/Lewis 2010). Denn flüssiges Dekodieren ist auf Übung angewiesen, Leseverstehen darüber hinaus auf Welt- und Textwissen: Beides wird durch viel Lektürepraxis erworben.

Allerdings tun sich gerade schwache Leser/innen schwer mit einem Unterricht, der auf diese Verfahren setzt und entsprechend offen angelegt ist. Sie tendieren dazu, den Lektüreprozess selbst zu meiden. Um dem entgegenzuwirken, kann die Lektüre in die Unterrichtszeit verlegt werden oder das regelmäßige Lesen von Kinder- und Jugendbüchern wird über eine längere Zeit hinweg verordnet. Dann wird es mit Anreizen oder Sanktionen versehen, um sicherzustellen, dass tatsächlich gelesen wird. Die Freiheit der Lektürewahl wird aber trotzdem gewährt, um den Freizeit-Charakter des Lesens wenigstens ein Stück weit zu wahren. Solche Vielleseverfahren gehen über Animationen hinaus, indem sie die eigenständige Lektüre von Büchern tatsächlich einfordern (vgl. detailliert Lange 2012). Im Unterschied zum eigentlichen Literaturunterricht inszenieren sie viel Lektüre und wenig oder keine weitere gemeinsame Verarbeitung des Gelesenen, die Menge steht klar im Vordergrund. Gute spätere Leser/innen, so kann man nämlich beobachten, blicken regelmäßig auf Viellesephasen in ihrer Kindheit und Jugend zurück – viel Lesen steigere gewissermaßen von selbst die Motivation und darüber auch die Lesekompetenz, so die optimistische Annahme, die diesen Verfahren zugrunde liegt.

Es liegt nah, in diese mehr oder weniger offenen Konzepte von Leseförderung – in den gezielten Literaturunterricht, in Leseanimationen oder in Vielleseverfahren – literarische Texte in den Herkunftssprachen der mehrsprachigen Schüler/innen einzubeziehen: Kinder- oder Jugendbücher, die außer in Deutsch auch in den Herkunftssprachen vorliegen, können als Klassenlektüre im Literaturunterricht, in leseanimierenden Settings oder auch im Rahmen von Vielleseprogrammen angeboten werden. Dadurch wird das eigenständige Lesen angeregt, die Familiensprache der Kinder wird ebenfalls gefördert, der „monolinguale Habitus“ (Gogolin 1994) in der schulischen Begegnung mit Texten wird relativiert und die Erstsprachen werden wertgeschätzt – das sind alles lesedidaktisch erstrebenswerte Ziele. In Anschlusskommunikationen nach der Lektüre und in weiteren Textverarbeitungsschritten kann Mehrsprachigkeit dann als Ressource für das individuelle Textverstehen und für das interkulturelle Miteinander im Schulunterricht wirksam werden (vgl. Schiedermair 2017; Naphegyi 2015; Jeuk 2017).

Das übergeordnete Ziel des Deutschunterrichts, nämlich die Vermittlung deutscher (Schrift-)Sprache und Kultur, muss in solchen Settings nicht notwendig vernachlässigt werden. Denn nach der Lektüre kann die weitere literaturunterrichtliche Verhandlung des Textes ihren Schwerpunkt im Deutschen haben. Die Zugänglichkeit zur deutschen Textfassung ist für die Migrantenkinder durch die Erstlektüre in der Herkunftssprache erleichtert, sofern die Sprachkenntnisse ausreichend gut sind. Dann unterstützt der Einbezug der anderen Sprachen direkt die sprachlichen und literarischen Lernprozesse, die Mehrsprachigkeit wird als Kompetenz erfahrbar. Wenn man annimmt, dass Migrantenkinder ein gesteigertes Interesse an Themen aus dem Kulturkreis ihres Herkunftslands haben, lässt sich der Erfolg eines solchen Vorgehens theoretisch schlüssig begründen: Das Interesse wirkt sich positiv auf die Wertkognition aus, es erhöht die Anstrengungsbereitschaft und macht den Leseaufwand lohnenswert (vgl. Möller/Schiefele 2004: 117f.), sodass intrinsische Lesemotivation und Erfolgserlebnisse entstehen. Wenn das häufig geschieht, werden solche Leseerfahrungen relevant für das lesebezogene Selbstkonzept und können Buchlesen zur Gewohnheit werden lassen.

 

Allerdings setzen Vielleseverfahren einige Kompetenzen auf Seiten der Schüler/innen voraus: Bei DaZ-Schüler/innen müssen die sprachlichen Kompetenzen in der Herkunftssprache ausreichend entwickelt sein. Zudem muss sich der Leseprozess selbst in der Herkunftssprache bereits so flüssig vollziehen, dass eigenständiges Textverstehen möglich ist. Schließlich werden lesekulturelle Erfahrungen vorausgesetzt wie beispielsweise Wissen über Textsorten, Erfahrungen mit den eigenen Lesebedürfnissen, Imaginationsfähigkeit und die Bereitschaft, sich emotional an den Geschehnissen zu beteiligen, Zielorientierung und nicht zuletzt ein „langer Leseatem“, der seinerseits Engagement für den Leseprozess selbst verlangt.

Das alles ist bei schwachen Leser/innen, auch bei denen ohne Mehrsprachigkeitspotenziale, regelmäßig nicht der Fall (Jörgens/Rosebrock 2011). Entsprechend wurde in der Folge von PISA die Leseförderung im Rahmen des Deutschunterrichts von den Autor/innen der Studie scharf kritisiert: Diese Konzepte ignorieren die Probleme schwacher Leser/innen. Denn die notwendigen mentalen Strategien des Textverstehens werden nicht explizit gelehrt, sondern vorausgesetzt. Zudem sei die Orientierung der Leseförderung ausschließlich auf literarische Texte nicht zielführend: Schwache Leser/innen müssen die bildungssprachlich verfassten Sachtexte aus den verschiedenen Wissensdomänen, denen sie in den Fächern und später im Alltag und Beruf begegnen, verstehend lesen können (vgl. z.B. Artelt/Schlagmüller 2004: 183). Im Zuge des PISA-Schocks haben sich entsprechend nicht nur die Konzepte der Leseförderung im schulischen Kontext reformiert, sondern der Begriff des Lesens selbst hat sich im gesellschaftlich-kulturellen Maßstab verändert: Bis zur Jahrtausendwende war er deutlich stärker bildungsbürgerlich und literarisch grundiert als es heute der Fall ist. Die Dominanz literarischer Texte in der Lesesozialisation hat sich in den Verläufen der literalen Sozialisation allerdings trotzdem gehalten: Auch gegenwärtig bestimmen die inhaltlich und sprachlich einfacheren Texte der Kinder- und Jugendliteratur faktisch den Übergang vom learning to read in den ersten etwa sechs Schuljahren hin zum reading to learn, das in der Sekundarstufe eingefordert wird. Mit ihnen wird im Verlauf der Lesesozialisation das Lesen soweit eingeübt, dass es selbst mühelos wird – allerdings eben nicht bei allen, wie bereits gesagt.

2. Textverstehen lehren – Strategievermittlung

Auch in den Schulen ist die Kritik der PISA-Autor/innen angekommen: Lesestrategien als eigener Unterrichtsgegenstand spielen vor allem in der ersten Hälfte der Sekundarstufe eine starke Rolle in einem lesedidaktisch reflektierten Deutschunterricht.

Die Förderung von Lesestrategien bezieht sich, anders als die zuerst genannte Gruppe von Förderverfahren, in der Praxis dominant auf Sachtexte (Philipp 2015). Strategien sind prinzipiell bewusstseinsfähige, aber bei guten Leser/innen oft automatisierte mentale Handlungsfolgen, die gezielt und adaptiv eingesetzt werden, um Textverstehen zu erreichen. Der Leser, die Leserin muss einzelne mentale Schritte – wie z.B. einen Zusammenhang herstellen, noch mal bereits Gelesenes überprüfen, sich einen Begriff klarmachen – auswählen und diese Schritte zielbewusst kombinieren und koordinieren. Für diese strategische Arbeit am Text braucht es auch Metakognition: Der Prozess muss geplant werden – Was soll mir der Text ermöglichen? –, er muss überwacht werden – Habe ich verstanden? –, er muss gesteuert und schließlich evaluiert werden. Wenn Schüler/innen „nicht lernen können“, also gar keine Vorstellung davon haben, wie sie sich einen Wissensbereich eigenständig lesend aneignen, dann fehlt es ihnen an Wissen über effektive Lern- bzw. Lesestrategien.

Lesestrategien erfolgreich zu lehren ist nicht einfach. Schließlich handelt es sich beim strategischen Lesen nicht allein um Wissen, sondern um ein Können, um eine Kompetenz im eigentlichen Sinn. „Wichtiges Unterstreichen“ beispielsweise hilft nur, wenn man sich verdeutlichen kann, was wofür wichtig ist innerhalb einer Textpassage. Insofern kann das Unterstreichen Ausdruck der Anwendung einer Strategie sein, nicht sie selbst. Entsprechend wurde vorgeschlagen, zwischen einzelnen Techniken wie Unterstreichen, Vorhersagen, Zusammenfassen, Klären usw. nicht den Strategiebegriff in Anwendung zu bringen: Zur Strategie wird solches Tun erst, wenn es zielorientiert und adaptiv auf den Inhalt bezogen eingesetzt wird. Abgesehen von der Praxis der Lesestrategie-Vermittlung an den Schulen, deren Erfolge sich m.W. noch nicht überzeugend gezeigt haben (vgl. Souvignier/Philipp 2016, Philipp 2015: 107f.), stellt sich die Frage, ob Strategieprogramme nun das Mittel der Wahl zur Leseförderung bei mehrsprachigen und/oder schwachen Leser/innen sind?

Auch Lesestrategievermittlung setzt gewissermaßen hoch an: Sie bezieht sich vor allem auf die Textebene, indem textseitige Darstellungsmittel systematisch auf den thematischen Zusammenhang bezogen werden. Entsprechend sind Lesestrategien Kompetenzen, die sich gut von der Erst- in die Zweitsprachenlektüre tansferieren lassen (Grabe 2009: 127, 151) – sofern sie in der Erstsprache ausgebildet wurden, was bei Zweitsprachlektüre auf akademischem Niveau der Fall wäre. Aber selbst für solche Leser/innen mit höchsten Kompetenzen in der Erstsprache fordert Grabe für den Fremdsprachenerwerb ein lesedidaktisches Primat für die Wort- und Satzebene, für die Leseflüssigkeit (ebd.: 329f.), für diejenige Ebene also, auf der auch leseschwache Schüler/innen deutlich Probleme zeigen. Trotzdem drängt sich im Zusammenhang mit der Förderung von Lesestrategien folgende Frage auf: Brauchen Leser/innen mit Deutsch als Zweitsprache teilweise andere Lesestrategien für das Lernen aus deutschsprachigen Texten als Muttersprachler/innen? Sie ist m.W. noch nicht erforscht; aber plausibel wäre das schon: Eine solche Strategie für Mehrsprachige wäre es u.U., Lernende dazu anzuhalten, auf der Wortebene gesteigerte Aufmerksamkeit auf Phonologie, Orthografie und Morphologie zu legen und so nach sprachlichen und/oder thematischen Verwandtschaften zu ihrer Muttersprache Ausschau zu halten. Einzelne unbekannte Wörter könnten beispielsweise konsequent markiert und bewusst auf den Kontext bezogen werden, statt den Leseprozess durch Nachschlagen bei jeder unbekannten Wendung zu unterbrechen oder Unverstandenes gar zu ignorieren. Sinnvoll könnte auch sein, sprachliche Konnektoren grundsätzlich zu identifizieren und zu fokussieren. Ein solches strategisches Verfahren bei der Wort- und Satzidentifikation führt zu Effizienz bei der Lektüre in der Zweitsprache, so berichtet Grabe mit Blick auf akademisches Lesen (2009: 128). Aus theoretischer Perspektive scheinen also insgesamt diejenigen Strategien erfolgversprechend, die unterhalb der Textebene angesiedelt sind und insofern als Voraussetzung für das universale Textverstehen gelten müssen. Eine weitere, über die Wort- und Satzebene hinausgehende naheliegende Hypothese: Sollten bei Lernenden mit schwächeren Deutschkenntnissen gezielt die Top-Down-Strategien gestärkt werden, also die Fokussierung auf den Einbezug des Wissens zum Textthema explizit herausgefordert werden? (Vgl. in diesem Sinn Niebuhr-Siebert/Baake 2014: 178, 255ff.). Zum strategischen Lesen bei geringeren Sprachkenntnissen fehlen Forschungen. Wir wissen allerdings, dass das Textverstehen erheblich behindert wird, wenn sich mehr als ein bis zwei Prozent unbekannte Wörter im Text befinden, die nicht textintern geklärt werden. In welchem Ausmaß unbekannte Wörter in Lesetexten das Verstehen verunmöglichen, ist naturgemäß kaum zu quantifizieren: Denn unbekannte Wörter sind nicht der einzige Faktor von Textschwierigkeit (vgl. zu Textkomplexität systematisch Rosebrock 2017). Im Kontext der Lesedidaktik fordert Allington (2009) für unabhängiges Lesen einen Anteil von 99 % an Wörtern, deren Bedeutung bekannt ist – ein Wert, der für Lernende mit Mirgrationshintergrund wohl in der Regel nicht zu realisieren ist. Wenn die gängigen Strategietrainings durch ihre Fokussierung auf die Textebene die Wort- und Satzebenen, auf der mehrsprachige Schüler/innen ebenfalls Leseprobleme haben, verfehlen, dann dürfte das auch auf die schwachen Leser/innen mit Deutsch als Muttersprache zutreffen: Auch für sie sind die sprachlichen Anforderungen der Bildungssprache oft zu hoch, auch ihre Sprachkenntnisse sind nicht ausreichend.

Im schulischen Alltag lässt sich gut beobachten, dass das mangelnde Textverstehen der schwachen Leser/innen nicht allein ein Problem mangelnder Lexik in der Zweitsprache oder fehlender Textverarbeitungsstrategien ist. Schlechtes Textverstehen, wie es die Schulleistungsstudien gemessen haben, stellt eigentlich nur die Spitze eines Eisbergs dar, unter der sich die elementareren Leseschwierigkeiten verbergen: Die Gruppe der schwachen Leser/innen hat Probleme bereits auf der Wortebene, die sich im Grad der Automatisierung der Worterkennung, in der Genauigkeit beim Dekodieren und in der Langsamkeit des Prozesses ausdrücken. Auch auf Satzebene zeigen sich Schwierigkeiten: Leseschwache Schüler/innen erkennen und verstehen grammatische Strukturen weniger rasch und insgesamt schlechter. Diese Probleme auf Wort- und Satzebene können das Verstehen auf Textebene natürlich nicht unbeschädigt lassen. Für mehrsprachige Schüler/innen kommen, wenn sie das Deutsche noch lernen, zu den Schwierigkeiten beim Dekodieren und flüssigen Erfassen der Propositionen noch Probleme des geringeren Wortschatzes, also bei der Wortbedeutung, hinzu. Der Verstehensaufwand potenziert sich, wenn auf allen genannten Ebenen Defizite im Vergleich zu den durchschnittlich oder gut lesenden Altersgleichen auftreten. Sollte die Leseförderung dann nicht an der Basis des Eisbergs ansetzen – an den hierarchieniedrigen Teilfertigkeiten des Leseprozesses also?

3. Förderung der basalen Teilkomponenten – Leseflüssigkeit

Leseschwache Kinder und Jugendliche lesen in aller Regel weit langsamer, fehlerhafter und stockender vor als sie sprechen können, und zwar auch dann, wenn der Text keine in ihrer Bedeutung unbekannten Wörter enthält. Für das Lesen in der Muttersprache lässt sich daraus schließen, dass sie die Wortgestalten, vor denen sie stocken, noch nicht in ihren Sichtwortschatz, das mentale Lexikon, aufgenommen haben. Bei Mehrsprachigen ist ggf. nicht nur das der Fall, sie stolpern zudem auch deshalb über einzelne Wörter, weil sie ihnen in allen drei Dimensionen – Lautgestalt, grafische Erscheinung, Bedeutung – unbekannt sind. Dann müssen sie sie wie ein/e Erstklässler/in im Schriftspracherwerb lautierend erlesen und versuchen, dem so Entzifferten eine Bedeutung zuzuordnen. Bei Kindern und Jugendlichen, die in den Lesetests der Leistungsstudien Defizite beim Textverstehen zeigen, lassen sich nicht immer, aber eben sehr häufig Stockungen, Verlesungen, ein insgesamt zu langsames Lesetempo und eine wenig textgerechte Intonation auch bei einfachen Texten beobachten, kurz gesagt: Probleme bei den basalen Teilfertigkeiten von Lesekompetenz, bei der Leseflüssigkeit. Bei der Gruppe der 12- bis 13-Jährigen in der Hauptschule und in den entsprechenden Zweigen von Gesamtschulen ist das der Fall: In Lesetests zeigten sie nicht nur Probleme beim Textverstehen, sondern auch erheblich unterdurchschnittliche Leistungen bei der Lesegeschwindigkeit, die als Indikator für die Leseflüssigkeit gelten kann (vgl. Rosebrock/Rieckmann/Nix/Gold 2010).

Das ausschlaggebende Argument für ein Primat der Förderung der basalen Lesefähigkeiten liegt im Voraussetzungscharakter, den die hierarchieniedrige Fähigkeit Leseflüssigkeit gegenüber den hierarchiehohen Fähigkeiten des Textverstehens hat: Wenn die Wort- und Satzerkennung durch Automatisierung flüssig geworden ist, muss sich der Leser/die Leserin nicht mehr auf die Buchstaben-, Silben- oder Worterkennung konzentrieren. Die Silben, Wörter und Wendungen sind dann in seinem Sichtwortschatz gespeichert. Dieser Sichtwortschatz ist ein mentales Lexikon, in dem die Lautgestalt eines Wortes oder Wortteils, seine grafische Erscheinung und seine Bedeutung miteinander verbunden niedergelegt sind. Ab Schuleintritt wird er systematisch aufgebaut; am Ende der Grundschule sollte der Sichtwortschatz angemessen reichhaltig sein, sodass beispielsweise Texte der Kinderliteratur flüssig gelesen werden können. Flüssig heißt: Auf Wortebene werden annähernd alle Wörter automatisiert und fehlerfrei erkannt und verstanden. Auf Satzebene zeigt sich eine akzeptable Lesegeschwindigkeit von deutlich über 100 Wörtern pro Minute beim Vorlesen (die normale Sprechgeschwindigkeit liegt bei etwa 120–160 Wörtern pro Minute, eine normale Lesegeschwindigkeit erreicht beim stillen Lesen etwa 300 Wörter pro Minute) und eine der Syntax angemessene Prosodie; beides ist beim Vorlesen der natürlichen Sprechgeschwindigkeit bzw. Intonation angenähert (vgl. Rosebrock/Rieckmann/Nix/Gold 2011).

 

Die Automatisierung der Wort- und Satzerkennung eröffnet eine mentale Entlastung vom Entziffern, die ihrerseits die kognitiven Ressourcen für das Textverstehen freigibt. Man kann sich die Wirkung der Automatisierung am Beispiel anderer komplexer Leistungen vergegenwärtigen: Etwa das Autofahren oder ein Musikinstrument zu spielen sind solche Leistungen. Erst wenn das Schalten, Kuppeln, Blinkersetzen und Abbremsen „in Fleisch und Blut“ übergegangen sind, kann der/die Fahrer/in auch noch den Nachrichten im Radio verstehend zuhören; erst wenn die Finger beim Klavierspielen „von alleine“ wissen, welche Bewegung vollführt werden muss, kann sich der/die Musiker/in mental dem größeren Zusammenhang der Töne, nämlich Melodie und Rhythmus, zuwenden.

Automatisierung wird prinzipiell durch Üben erworben. Das Prinzip des Übens ist die variierende Wiederholung. Auf das Lesen bezogen ergeben sich aus diesen Überlegungen zwei Förderansätze: Mit sogenannten Lautleseverfahren kann der Leseprozess selbst überwacht und ggf. korrigiert werden, und er kann wiederholt werden, bis der Übungstext flüssig erlesen werden kann. Wenn die Übungstexte ausreichend lang sind, können die Wörter und Sätze bei der wiederholten Lektüre nicht mehr einfach memoriert und auswendig daher gesagt werden, sondern müssen erneut erlesen werden. Die Lesung des gleichen Textes kann so oft geschehen, bis er flüssig vorgelesen werden kann, was heißt, dass alle in diesem Text gegebenen Wörter und Wendungen tatsächlich im Sichtwortschatz abgelegt und veknüpft wurden.

Die zweite Option wurde oben schon unter dem Begriff Viellesen genannt: Sie besteht in einer Erhöhung der Dosis. Wenn viel gelesen wird, so die Argumente für eine Wirkung von viel Lektüre auf die Leseflüssigkeit, dann werden Wörter immer wieder auftauchen und auf diese Weise angeeignet, sodass sich Leseflüssigkeit sukzessive einstellt. Man hofft, dass das Interesse an der Story die Lesemotivation aufrechthält, sodass auch tatsächlich gelesen wird (dazu unten ausführlicher). Zudem steigert das viele Lesen das Weltwissen, ebenfalls eine wichtige Teilkomponente von Lesekompetenz.

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