Mehrsprachige Leseförderung: Grundlagen und Konzepte

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4. Studienergebnisse zu Laut- und Vielleseverfahren

In mehreren Studien haben Prof. Gold, unsere Mitarbeiter/innen und ich Laut- und Vielleseverfahren in Schulen praktisch erprobt. Die beiden Förderverfahren sind dabei nicht gegeneinander angetreten – dafür sind sie zu unterschiedlich in ihrer Anlage und Zielsetzung. Aber wir wollten von Lautlesetrainings und Vielleseverfahren wissen, ob sie bezogen auf den Leseprozess jeweils zur Steigerung der Leseflüssigkeit wirksam sind. Darüber hinaus hat interessiert, ob die Verfahren auch das Textverstehen und die Lesemotivation verbessern. Ferner war von Bedeutung, ob es Unterschiede in der Wirksamkeit für Kinder mit mehrsprachigem bzw. einsprachigem Hintergrund gibt – dafür wurde nach der Familiensprache gefragt –, ob Mädchen und Jungen unterschiedlich profitieren, und ob die kognitiven Grundfähigkeiten einen Einfluss auf die Wirkungsintensität der Förderung haben. Während diese Faktoren über Tests erhoben wurden, waren wir bei den Fragen nach dem soziokulturellen Status und nach der Wirkung der Förderungen auf die Lesemotivation und das lesebezogene Selbstkonzept auf Selbstauskünfte angewiesen.

Als Lautleseverfahren haben wir eine Routine modelliert, die wir „Lesetandems“ genannt haben. Dafür lesen zwei Kinder miteinander chorisch mehrfach einen kurzen Text. Die Kinder haben dabei unterschiedliche Aufgaben: Das etwas lesestärkere Kind tutoriert das andere, indem es Lesefehler korrigiert und mit seiner Lesung ein Lesemodell für die Intonation bereitstellt. Das leseschwächere Kind überwindet Stockungen mithilfe seines Modells und wird auf diese Weise bei Fehllesungen und in seinem Leseengagement überwacht. Die vierte Lesung des gleichen Textes, so die Annahme, wird im Tandem von beiden flüssig vollzogen. Nach der Fortbildung der Lehrkräfte wurde das Tandemlesen klassenweise ein Schulhalbjahr hindurch dreimal 20 Minuten wöchentlich durchgeführt.

Auch das Vielleseverfahren wurde mit diesem Zeitkontingent modelliert. Die Klassen bekamen jeweils etwa 100 mutmaßlich interessante und altersgemäße kinderliterarische Bücher; minimale Kontrollverfahren wurden entwickelt und eingesetzt. Auch hier wurden die Lehrkräfte zunächst fortgebildet und die korrekte Durchführung wurde in regelmäßigen Abständen überprüft. In den Deutschunterricht der Klassen, die als Kontrollgruppe dienten, wurde nicht eingegriffen.

In die erste Studie dieser Art waren 527 Schüler/innen der 6. Klassenstufe an Hauptschulen in einem städtischen Gebiet einbezogen; sie lagen im Durchschnitt in ihren Lesekompetenzen erwartungsgemäß etwa eine Standardabweichung unter ihrer Altersgruppe, was etwa einem Schuljahr entspricht. Die Lesekompetenzen der Kinder und verschiedene Hintergrundvariablen wurden über Tests und Fragebögen vor, direkt nach und erneut 4 Monate nach Beendigung der Intervention erhoben. Etwa 63 % dieser Kinder hatten einen Zuwanderungshintergrund, wobei diese Zahl auf der Frage nach der Familiensprache beruhte und vermutlich eher zu niedrig liegt (vgl. detailliert Nix 2011; Rieckmann 2010). Die anschließenden Studien in Grundschulen wurden mit über tausend Kindern in ähnlicher Weise durchgeführt; die Lesekompetenzen der Grundschüler entsprachen dem Altersdurchschnitt (Gold/Behrendt/Lauer-Schmaltz/Rosebrock 2013). Die Durchführung dieser Studien und Details der Verfahren sind publiziert und sollen hier nicht erneut ausgebreitet werden. Auch die Ergebnisse werden im Folgenden nur pauschal dargestellt.

Die Lautlesetandems hatten bei den schwach lesenden Hauptschüler/innen außerordentlich positive Wirkungen: Diese Gruppe hat in ihrer Leseflüssigkeit fast um eine halbe Standardabweichung gegenüber der Kontrollgruppe profitiert. Der durch die Förderung erreichte Vorsprung blieb auch in der Follow-Up-Testung vier Monate später im Wesentlichen erhalten, was bedeutet: Die Förderung hat die Leseflüssigkeit dieser Gruppe nachhaltig verbessern können. Getestet wurde auch das Textverstehen. Dass die Texte verstehend gelesen werden, wird in der Tandem-Routine nicht eigens angestrebt oder unterstützt, es wird nur gefordert, dass angemessen flüssig gelesen wird. Tatsächlich haben sich aber auch die Textverstehensleistungen der Tandem-Leser/innen nicht nur signifikant, sondern relativ stark verbessert, und auch hier war der Erfolg nachhaltig. Das bestätigt die theoretische Annahme vom Voraussetzungscharakter der Flüssigkeit für das Textverstehen. Durch eine lineare Regressionsanalyse konnte errechnet werden, dass die Verbesserung der Leseflüssigkeit an der Verbesserung des Textverstehens mit dem Wert von .54 (p <.01) beteiligt war – das ist ein außerordentlich hoher Wert. Die Bedeutsamkeit von Leseflüssigkeit für das Textverstehen stellt den Einfluss des Wortschatzes auf das Textverstehen (.22 bei p<01) bei der Gruppe leseschwacher 12- bis 13-Jähriger deutlich in den Schatten (a.a.O.). Dieser Befund ist im Blick auf die Förderung mehrsprachiger Schüler/innen mit Flüssigkeitsproblemen von hoher Bedeutung: Zumindest bei den kinderliterarischen Sach- und Erzähltexten, die wir in der Studie zugrunde gelegt haben, steht die erwartbare Hürde eines kleineren Wortschatzes bei den Mehrsprachigen nicht an erster Stelle. Es ist primär fehlende Flüssigkeit, die das Textverstehen behindert. Sie kann erfolgreich durch Lautleseverfahren verbessert werden. Ein weiterer positiver Aspekt der Lautlesetandems ist ihre gute Implementierbarkeit in den Regelunterricht: Trotz anfänglicher Skepsis einiger Lehrkräfte zeigte die begleitende und nachträgliche Evaluation, dass sowohl die Kinder als auch die Lehrkräfte das Verfahren rundherum positiv bewertet haben.

Ähnlich, aber deutlich schwächer waren die positiven Wirkungen der Lautlesetandems auf Flüssigkeit und Textverstehen bei den Grundschulkindern. Auch hier ließ sich das Verfahren problemlos in den Unterricht implementieren. Es gab allerdings auf der Prozessebene des Lesens Deckeneffekte, was heißt: Viele der Kinder lasen die von uns zusammengestellten Texte ohnehin flüssig, sodass keine weiteren Zugewinne bei der Flüssigkeit erzielt werden konnten. Sie beurteilten das Training in der Nachbefragung entsprechend eher als langweilig. Allerdings gab es auch eine große Gruppe innerhalb der Grundschüler/innen, die die Texte als zu schwierig wahrgenommen hat und für die das Tandem-Lesen laut Selbstauskünften zu anspruchsvoll war (Lauer-Schmalz/Rosebrock/Gold 2014, Gold/Rosebrock 2017).

Auch von den Vielleseverfahren waren die Lehrkräfte und die Schülerschaft in der Hauptschul-Studie durchaus begeistert – allerdings: Wenn interessierte Fremde große Kisten mit Buchgeschenken bringen und die Klasse ein Halbjahr lang mit Tests und Unterrichtsbeobachtungen begleiten, liegt Begeisterung unabhängig von der Qualität der Förderung nahe. Und doch zeigten die stillen Lesezeiten keine signifikant werdenden Wirkungen im Vergleich zur Kontrollgruppe: Die Leseflüssigkeit hat sich nicht bedeutend verbessert, und auch das Textverstehen hat nicht profitiert. Am Rande sei hier eine Beobachtung angefügt, die sich wegen der zu kleinen Anzahl an Klassen in unserer Studie nicht empirisch belegen lässt: Die (zu wenigen) Klassen in eher ländlichem Umfeld zeigten Verbesserungen in beiden Dimensionen, Flüssigkeit und Textverstehen, durch die Vielleseverfahren; sie wurden durch die weniger erfolgreichen Klassen im städtischen Umfeld gewissermaßen neutralisiert. Auch Manning, Lewis und Lewis (2010) weisen für den amerikanischen Raum moderate Fördererfolge bei stillen Lesezeiten nach. Nicht verschwiegen werden soll allerdings, dass zahlreiche Us-amerikanische Studien keine Erfolge bei Vielleseverfahren in unterschiedlichen Varianten nachweisen konnten (NICHD 2000).

Wie lässt sich der fehlende Erfolg der Vielleseverfahren für Leseflüssigkeit und Textverstehen erklären? Oben wurde bereits die Vermutung formuliert, dass Vielleseverfahren in der Tendenz zu anspruchsvoll für solche Leser/innen sein könnten, die Probleme bei der Flüssigkeit haben. Denn sie verlangen über die Wort- und Satzerkennung hinaus eine ganze Anzahl weiterer Fähigkeiten auf verschiedenen Ebenen von Lesekompetenz. In diesem Zusammenhang ist eine US-amerikanische Studie aufschlussreich (Kelley/Clausen-Grace 2010; vgl. auch Rieckmann 2015): In ihr wurde das sichtbare Verhalten von Schüler/innen beim sustained silent reading, bei Vielleseverfahren, über einen längeren Zeitraum beobachtet und anschließend in acht Typen unterteilt. Die Spitzengruppen innerhalb der acht Typen interessieren in unserem Zusammenhang weniger und seien doch kurz erwähnt: Das sind z.B. die sogenannten „Bücherwürmer“, die auch bei konkurrierenden Beschäftigungsangeboten weiterlesen, oder die „Genre-Leser“, die begeistert solche Serienliteratur lesen, von der sie schon Exemplare kennen. Am schwachen Ende der Typen-Skala modellierten die Autorinnen den Typ des „Fake-Readers“. Diese „Als-ob-Leser“ umgehen faktisch das Lesen – sie lassen z.B. den Blick über die Seiten schweifen oder blättern nach Bildern, und sie finden zahlreiche alternative Handlungen (Hände waschen gehen, Bleistift spitzen, Mäppchen verstauen …), um das Lesen zu vermeiden. Vielleseverfahren laufen bei ihnen offensichtlich ins Leere, denn sie lassen sich auf eigenständige Lektüre nicht ein. Von besonderem Interesse im vorliegenden Kontext ist der Typ des „Überforderten Lesers“ ebenfalls am unteren Ende der Skala. Dieser Typ ist im Grunde engagiert, aber er hat aufgrund zahlreicher einschlägiger Misserfolgserfahrungen innerlich weitgehend aufgegeben. Die Lektüre bricht immer wieder ab. Diesem Typ „Überforderter Leser“ lassen sich besonders viele mehrsprachige Schüler/innen zuordnen, aber auch solche aus wenig unterstützenden familiären Kontexten oder mit kognitiven Beeinträchtigungen. Dieser Typ braucht eine genaue Passung der Lesematerialien zu seinen Fähigkeiten, so Kelley und Clausen, um endlich Erfolgserfahrungen bei der Lektüre zu erleben. Wenn diese Kinder die gleichen Texte wie die guten Leser/innen bekommen, haben sie kaum eine Chance, in die Texte hineinzufinden. Didaktisch interessant an der Studie ist auch die schlichte Methodologie, die sich für die Erforschung stiller Lesezeiten hierzulande und für die Diagnose im Klassenzimmer übernehmen lässt: Anhand des äußerlich sichtbaren Verhaltens wurde das Lesen kategorisiert und konnte relativ trennscharf typisiert werden (vgl. auch Hiebert/Wilson/Trainin 2010).

 

Die Hoffnung, dass die Vielleseverfahren die Motivation steigern könnten, hat sich in unserer Hauptschulstudie nicht verwirklicht: Sowohl die Lautlese- als auch die Viellesegruppen konnten hier keine signifikanten Steigerungen erzielen, und auch zwischen den Geschlechtern konnten wir keine bedeutsam werdende Differenz finden. In einer weiteren Studie haben wir versucht, dem freien Lesen in einer Hauptschulklasse die systematische Unterstützung und relativ kleinschrittige Kontrolle zukommen zu lassen, von der wir vermuten, dass sie ursächlich am Erfolg der Lautleseverfahren beteiligt sind. Auch diese Studie zum eigenständigen Lesen ist publiziert und soll hier nur erwähnt werden (vgl. Rieckmann 2015; Jörgens/Rosebrock 2011; Rieckmann/Jörgens/Rosebrock 2013). Abgesehen davon, dass eine intensive Unterstützung des freien Lesens nur kleine Fallzahlen zulässt und insofern nur heuristische Ergebnisse liefern kann, ist das gravierendste Problem der Begleit- und Unterstützungsroutinen, dass sie von einer Lehrkraft für etwa 15 leseschwache Kinder nicht geleistet werden kann. Die Implementierbarkeit in das gegenwärtige Schulsystem ist also nicht gegeben.

5. Mehrsprachige Kinder innerhalb der Gruppe schwacher Leser/innen

In der Stichprobe der leseschwachen 12- bis13-jährigen Hauptschüler/innen, die oben knapp beschrieben wurde, berichteten, wie gesagt, 63 % der Kinder, dass sie zu Hause ausschließlich oder zusätzlich eine andere Sprache als Deutsch sprechen. Diese mehrsprachigen Kinder zeigen in unserem Motivations-Fragebogen, für den wir den Motivation for Reading Questionnaire (Wigfield/Guthrie 1997) leicht modifiziert hatten, eine etwas stärkere Lesemotivation als ihre einsprachigen Klassenkamerad/innen; zugleich ist ihr lesebezogenes Selbstkonzept etwas deutlicher ausgeprägt. Diese beiden Komponenten von Lesekompetenz schlagen sich allerdings nicht in ihren getesteten Leseleistungen nieder. Sie verstehen Texte trotz dieser beiden positiven Faktoren etwas schlechter als die monolingual deutschsprachigen Kinder – wobei, wie gesagt, alle Kinder der Stichprobe in ihrer Leseleistung etwa eine Standardabweichung unter Normal lagen. Die deutschsprachigen zeigen dagegen etwas bessere Ergebnisse im Wortschatztest und in den nonverbal erhobenen kognitiven Grundfähigkeiten, und sie berichten von besseren Voraussetzungen in ihrer Lesesozialisation. Die durchschnittliche Lesegeschwindigkeit war bei beiden Gruppen gleich (schwach) ausgeprägt (Gold/Nix/Rieckmann/Rosebrock 2010).

Die beiden prozessnahen Variablen Leseflüssigkeit und (mit Abstand) Wortschatz haben sowohl bei den mehrsprachigen als auch bei den einsprachigen Kindern den größten Einfluss auf das Textverstehen. In beiden Gruppen ist die Leseflüssigkeit der bei weitem wichtigste Prädiktor zur Vorhersage des Textverstehens. Eine kleine Differenz ergab sich beim Einflussgewicht dieses Prädiktors: Bei den mehrsprachigen Kindern hat die Leseflüssigkeit (mit einem standardisierten Reggressionskoeffizienten von β = .54.) ein noch größeres Gewicht für das Textverstehen als bei den einsprachigen (β = .48, beide p <.01). Für beide Teilstichproben gilt: Die soziokulturellen und motivationalen Bedingungsfaktoren, durch die sich schlechte Leser/innen der Stichprobe von besseren unter anderem unterscheiden, fallen bei gleicher Flüssigkeit nicht mehr ins Gewicht; auch gibt es keine Wechselwirkung mit Geschlechtszugehörigkeit und Intelligenz und mit dem Erfolg der Lautleseverfahren (a.a.O.).

Damit lässt sich für die Leseförderung mehrsprachiger Kinder im Deutschunterricht sagen: Bei mangelnder Leseflüssigkeit sind Lautleseverfahren für sie genauso wie für ihre einsprachigen Klassenkameraden das erste Mittel der Wahl. Vermutet werden kann zudem, dass diese Verfahren auch spracherwerbsfördernde Wirkung haben. Davon soll abschließend die Rede sein.

6. Fazit und Vermutungen

Die wesentlichen Fragen zur Aneignung von Lesekompetenz durch Zweitsprachenlernende wurden empirisch noch nicht in Angriff genommen (so auch Lesaux/Geva 2008): Abgesehen davon, dass Textverstehen generell eine Schwäche von language-minority students ist, wissen wir viel zu wenig über die Natur ihrer Textverstehensprobleme. Es fehlen Informationen bezüglich demografischer und kontextueller Faktoren, z.B. zur Bedeutung der Jahre gezielten Unterrichts in der Zweitsprache im Verhältnis zu den Leistungen in diesem Bereich oder zum Verhältnis von mündlichen zu schriftlichen Sprachleistungen usw. (ebd.: 49). Für Schüler/innen der „Risikogruppe“ mit und ohne fremdsprachlichen Hintergrund kann in Übereinstimmung mit vorhandenen Studien lediglich empfohlen werden, den Förderschwerpunkt auf die grundlegenden Fertigkeiten der Wort- und Satzerkennung und auf eine Erweiterung des Wortschatzes zu richten – was allerdings kein Argument gegen die ganzheitlichen literaturbezogenen Verfahren sein kann! In diesem Sinne argumentiert auch Grabe (2009).

Auch in den höheren Klassenstufen darf die schulische Leseförderung die basalen Lesefertigkeiten nicht aus den Augen verlieren. Denn: Wenn auf der Wort- und Satzebene nur langsam und fehlerhaft dekodiert wird, wie es bei DaZ-Schüler/innen meist auch in der Sekundarstufe oder der Berufsschule der Fall ist, stellen sich Folgeprobleme beim Verstehen des Textinhaltes ein – die disfluente Lektüre erschwert den Aufbau einer kohärenten mentalen Textrepräsentation und behindert unmittelbar das weitere Lernen. Die Maßnahmen zur Förderung der Leseflüssigkeit sollten darauf abzielen, die Qualität und den Automatisierungsgrad des Dekodierens zu verbessern, die Lesegeschwindigkeit zu steigern und die Fähigkeit zur expressiven prosodischen Gliederung auszudifferenzieren. Wer flüssig und angemessen sequenziert liest, stellt bereits Leseverstehen auf der Satzebene unter Beweis. Allerdings sollte im Blick bleiben, dass eigenständiges Lesen mehr Kompetenzen verlangt als das Lautlesen mit seinen portionierten kurzen Texten in geregelten kooperativen Routinen – und dass eigenständiges Lesen das Ziel aller Leseförderung ist und bleibt.

Soweit das Fazit – allerdings resultieren aus den skizzierten Studien mehr offene Frage als gesichertes Wissen. Forschungsdesiderate zur Leseförderung mehrsprachiger leseschwacher Schüler/innen sollen abschließend angeführt werden:

Möglicherweise verbessert sich durch die Lautleseverfahren auch der Wortschatz. Leider haben wir diese Komponente nicht getestet, der Wortschatz wurde nur als Bedingungsfaktor herangezogen. Das könnte für einsprachige Schüler/innen ebenso gelten wie für mehrsprachige. Damit ein geschriebenes Wort aus dem Kontext heraus verstanden und in den Sichtwortschatz aufgenommen wird, braucht es die ggf. mehrfache aufmerksame Lektüre des Wortes, die Lautleseverfahren gewähren. Gesichert scheint, dass die sprachliche Oberfläche der Lesestoffe für die Förderung möglichst einfach sein sollte; erzählende Kinderliteratur ist insofern ideal geeignet. Jeuk (2015: 143f.) schlägt zur Kompensation des kleineren Wortschatzes und der größeren Schwierigkeiten mit der Morphosyntax Textvereinfachungen für die Deutsch-Lernenden vor.

Ein weiterer Bereich des Profits durch Lautlesetandems könnte die Einübung in schriftsprachliche Satzkonstruktionen sein. Wenn genuin literale Satzformen mehrfach gelesen werden, könnte das Verstehen und der Gebrauch von deutschen schriftsprachlichen Satzmustern gewissermaßen über das "Einschleifen" syntaktischer Regeln erworben werden. Auch hier gilt: Das ist überaus sinnvoll für Schüler/innen mit nicht ausreichend entwickelten sprachlichen Fähigkeiten – die es unter den mehrsprachigen wie unter den einsprachigen "Risikokindern" gibt.

Zu Vielleseverfahren kann vermutet werden, dass ihre Voraussetzungsfülle an den fehlenden Effekten auf der Prozessseite des Lesens beteiligt ist. Die Vorstellung, dass durch die Involviertheit in die spannende, interessante oder lustige Geschichte die Lesemotivation so angeregt wird, dass Lesehürden im hierarchieniedrigen Bereich überwunden werden, ist nicht ganz unberechtigt – denn viele Kinder werden ja auf diesem Weg zu Leser/innen. Aber es fallen eben auch zu viele aus diesem Königsweg zum habituellen Lesen heraus und werden schnell von den Lesefortschritten der anderen abgehängt, wenn ihre Kompetenzen nicht zum Lesematerial passen. Auch das betrifft die mehrsprachigen nicht anders als die einsprachigen schwachen Leser/innen.

Eigenständiges engagiertes Lesen ist und bleibt das übergeordnete Ziel aller Leseförderung! Das Setting eines Lautleseverfahrens, bei dem portionierte adaptive Texte vorgelegt werden, bei dem die Lesezeit seitens der Lehrkraft eingeteilt und überwacht wird und bei dem ein/e Partner/in die gemeinsame Aufmerksamkeit aufrecht erhält, entfaltet eine stark unterstützende Wirkung, wie gezeigt werden konnte. Es kann aber nur ein früher Schritt auf dem Weg zum eigenständigen Lesen sein. Ohne eine anregende, vielfältige und auch mehrsprachige schulische Lesekultur ist die Aneignung von Lesekompetenz als die Fähigkeit, Lesen für die eigenen Lebensvollzüge zu gebrauchen, für die Schwächeren wohl kaum erreichbar.

Zusammenfassung

In diesem Kapitel wurden Verfahren zum weiterführenden Lesen im Rahmen des Deutschunterrichts fokussiert auf mehrsprachige Schüler/innen vorgestellt. Beschrieben bzw. diskutiert wurden Verfahren, 1. die auf literarisches Lesen bzw. auf extensive Lektüre von Kinder- und Jugendliteratur zielen, 2. die den Erwerb von Textverstehens-Strategien anzielen und 3. die die Entwicklung der Leseflüssigkeit anstreben. Die Wirksamkeit der Verfahren wurde im Blick auf Flüssigkeit und Textverstehen dargestellt. Insgesamt wurde argumentiert, dass eigenständige Lektüre für die leseschwächsten etwa 20 Prozent der Schüler/innen in der Grundschule und Sekundarstufe mit altersangemessenen Texten tendenziell zu voraussetzungsreich ist, um deutliche Wirkungen für das Textverstehen zu entfalten. Das gilt auch für die üblichen Verfahren zur Strategievermittlung. Lautleseverfahren zeigen dagegen gute Erfolge; ob sie über die Flüssigkeitsförderung und das bessere Textverstehen hinaus auch weitere Profite bei Wortschatz und syntaktischen Fähigkeiten für Mehrsprachige bieten und ob spezifische Strategien für Mehrsprachige entwickelt und im Deutschunterricht vermittelt werden könnten, bleiben offene Fragen.

Studienfragen

1 Was ist mit dem Begriff „Sichtwortschatz“ gemeint? Warum soll bei Lautleseverfahren ein Text grundsätzlich mehrfach gelesen werden?

2 Warum vermutet man, dass die Lektüre von Kinderliteratur die Lesemotivation von Kindern steigert?

3 Welche Lesestrategien können spezifisch für Lernende mit nicht deutscher Familiensprache formuliert werden?

[bad img format]Lektüreempfehlungen

Rosebrock, Cornelia/Nix, Daniel (2017): Grundlagen der Lesedidaktik und der systematischen schulischen Leseförderung. 8., überarbeitete und erweiterte Auflage. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren.

Bertschi-Kaufmann, Andrea (2016): Offene Formen der Leseförderung. In: Bertschi-Kaufmann, Andrea/Graber, Tanja (Hrsg.): Lesekompetenz – Leseleistung – Leseförderung. Grundlagen, Modelle und Materialien. 6. Auflage. Seelze: Klett Kallmeyer, S. 170–182.

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