Ein Anfang am Ende des Hungers

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Ein Anfang am Ende des Hungers
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Sylvia Baumgarten

Ein Anfang am Ende des Hungers

Und plötzlich war es Magersucht

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Impressum neobooks

Kapitel 1

www.ich-bin-hungrig.de und oben rechts das Logo einer Krankenkasse – mehr steht nicht auf dem Zettel. Ich schieb ihn über meinen Schreibtisch ganz nach hinten, weil ich ihn am liebsten dort vergessen will.

Was soll ich auch damit?, denk ich und starte meinen Rechner. Während er hochfährt, rumpelt und brummt es im Gehäuse wie immer - schwarzer Bildschirm, weiße Schrift, hellblauer Hintergrund - Willkommen!

Mensch, werd fertig, denk ich genervt und frag mich, warum ich so ungeduldig bin.

… ich-bin-hungrig.de, was für ein bescheuerter Name für ne Website. Auf dem Desktop erscheint ein Wasserfall, und der kleine blaue Kreis verschwindet, dann bin ich online bei Facebook. Die üblichen Namen tauchen auf und Sekunden später kommt die erste Nachricht:

„Na endlich, hab schon gewartet …“, schreibt Nina und normalerweise antworte ich sofort, aber heute geht mir die doofe Adresse nicht aus dem Kopf. Ich starre auf den Bildschirm und dann auf den Zettel ganz hinten in seiner Ecke.

Was bildet sich die Kramer eigentlich ein? Die soll mir Bio beibringen und sich nicht in meine Angelegenheiten einmischen.

Nina hat inzwischen die nächste Nachricht geschickt:

„Alles ok bei dir?“

Nix ist ok, denk ich und schreib:

„Klar, alles in Ordnung. Muss noch kurz weg, meld mich später.“

„Schade“, les ich noch, geh im Chat auf „offline“ und greif nach dem Zettel, den mir die Kramer gegeben hat.

„Jule, kannst du bitte gleich noch einen Moment hier bleiben?“, hat sie gefragt, als ich gerade das Mikroskop in den Schrank geräumt hab.

„Ähm – ich weiß nicht“, hab ich geantwortet, „mein Bus …“

„Dauert nicht lange.“ Dann ist sie wieder nach vorne. Ich hab weiter eingeräumt, und als nach dem Klingeln alle raus sind, bin ich auch mit aufgestanden, hab aber an der Tür gewartet und Nina gesagt, dass ich gleich komme.

Frau Kramer hat ihren Terminplaner aus ihrer Tasche genommen und irgendetwas auf nen Zettel geschrieben. Mit dem Zettel in der Hand kam sie auf mich zu, und als sie Nina im Flur stehen sah, hat sie die Tür zugemacht.

Irgendwie war ich auf einmal neugierig, was sie von mir wollte.

„Jule, ich will nicht lange um den heißen Brei herumreden. Mir ist aufgefallen, dass du stark abgenommen hast in letzter Zeit, und ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie ich damit umgehen soll.“

Ich hab sie nur angestarrt und hätte fast das Atmen vergessen. Klar ist meine Lehrerin immer ziemlich direkt, aber das fand ich schon echt heftig.

Einen Moment lang hat sie nichts gesagt und scheinbar gewartet, wie ich reagiere, und dann hat sie gefragt:

„Kann es sein, dass du ursprünglich nur ein bisschen abnehmen wolltest und nun nicht mehr aufhören kannst?“

Ich glaub, ich hab die ganze Zeit nicht aufgehört, sie anzustarren. Was soll das denn jetzt?, hab ich gedacht, nur weil ich grad ein bisschen Diät mache, muss man sich doch nicht so aufregen. Gesagt hab ich dann: „Wie meinen sie das?“

„Ich mache mir Sorgen, ob du vielleicht gerade eine Essstörung entwickelst und ich möchte nicht tatenlos dabei zusehen.“

Essstörung?, hab ich gedacht, ich entwickle doch keine Essstörung! Wenn ich genug abgenommen hab, hör ich sofort auf.

Wir haben dann beide nichts gesagt und ich glaub, Frau Kramer wollte, dass ich ihr endlich antworte, wollte ich aber nicht.

„Ok, Jule, vielleicht irre ich mich ja, aber falls ich mit meiner Vermutung richtig liege, habe ich dir die Adresse von einem Internet-Forum rausgesucht, wo man dir weiterhelfen könnte.“

„Ähm – ich glaub nicht, dass ich die brauche“, hab ich gesagt und schon mal nach der Türklinke gegriffen.

„Nimm sie doch bitte trotzdem mit. Wegschmeißen kannst du sie immer noch“, hat Frau Kramer gesagt und mir den Zettel in die Hand gedrückt. Ich hab ihn schnell in die Tasche gesteckt, weil Nina ja draußen gewartet hat, und bin raus aus der Klasse. Nina kam auch gleich auf mich zu.

„Na endlich, ich dachte schon, du kommst gar nicht mehr. Was war denn?“

„Nichts, ich soll mich mündlich mehr reinhängen.“

„Wie soll das denn noch gehen?“, hat Nina gefragt und ich glaub, sie hat mir nicht geglaubt, aber ich hatte echt keine Lust, mehr dazu zu sagen und das hat sie wohl kapiert. Jedenfalls haben wir kaum geredet auf dem Weg zum Bus.

Ich hab immer noch keine Lust, mit jemandem zu reden, starre auf den Zettel, auf den Desktop und wieder auf den Zettel.

Essstörung – ich-bin-hungrig.de – ok, denk ich, was soll schon passieren, wenn ich auf die Seite gehe? Nur mal kurz gucken.

Ich tipp die Adresse ein und die Seite öffnet sich sofort. Viel Text, Quadrate in pink, Kreise in grau, Dreiecke in grün – eigentlich ganz ansprechend. Die Überschriften sind verlinkt – Bulimie – binge eating…

Ich klick auf Magersucht:

„Magersucht zeichnet sich durch eine extreme Gewichtsabnahme bzw. Halten eines extrem niedrigen Gewichtes aus, begleitet von der Befürchtung, dick zu werden. Das niedrige Gewicht wird durch ungewöhnliche Ess- und Gewichtsregulationsverhalten und Verweigerung der Nahrungsaufnahme erreicht.“ steht da.

Ok, denk ich, vielleicht hab ich ja ein bisschen übertrieben, aber was soll man denn machen, wenn man nicht mehr in seine Klamotten passt, da gibt’s doch nur ne Diät.

Ich les weiter: Symptome sind z. B. Hyperaktivität, ständiges Kreisen der Gedanken um Nahrung und Gewicht und starke Angst vor Gewichtszunahme – ist doch logisch, denk ich, wenn ich mich monatelang abgezappelt hab, will ich auf keinen Fall wieder zunehmen, da mach ich halt ein bisschen mehr Sport. Trotzdem wird mir beim Lesen ziemlich mulmig – lebensbedrohliche Erkrankung, Herzrhythmusstörungen, Niereninsuffizienz – mag ja sein, aber bestimmt nur dann, wenn man die Kontrolle verliert und das passiert mir sicher nicht.

Eigentlich will ich die Seite sofort schließen, doch dann lande ich wieder auf der Homepage. Rechts am Rand ist ein Link, wo man sich anmelden kann. Ich klick drauf, ein Fenster öffnet sich und ohne, dass ich es großartig verhindern kann, meld ich mich im Forum an. Ich geb meine Mailadresse ein, entscheide, dass sie in meinem Profil erscheinen darf, überleg mir einen Nick und ein Passwort, geh auf senden und krieg ne Nachricht, dass sie mir eine Mail schicken, die ich bestätigen muss, und dann bin ich Mitglied.

Ich schließ die Seite. Auf meinem Desktop erscheint der Wasserfall und ich frag mich, was ich da gerade getan habe. Am besten geh ich mal ne Runde laufen, dabei krieg ich super den Kopf frei.

Ich drück mich vom Schreibtisch ab und roll mit dem Stuhl nach hinten. Mein Desktop ist inzwischen schwarz – nur das Windows-Logo taucht abwechselnd in den Ecken auf.

Ich geh zu meinem Schrank, mach die Schublade mit den Sportklamotten auf und zieh mein Shirt und meine Laufhose an. Die Hose rutscht mir sofort über die Hüften. Ich raff sie mit der Kordel zusammen – die vielen Falten scheuern auf meiner Haut. Das Teil brauch ich mal ne Nummer kleiner, denk ich. Auch den Gurt mit der Handytasche für meinen Oberarm muss ich wieder ein Stück enger machen. Egal. Ich greif mir mein Handy, schieb es in die Halterung und geh aus dem Zimmer.

In der Haustür treff ich meine Mum.

„Hallo Jule“, sagt sie, „ich wollte gerade Pizza aus dem Gefrierschrank holen. Ist ein bisschen spät geworden.“

Mal wieder, denk ich, und sag:

„Macht nichts, hab schon gegessen.“

„Schade“, sagt meine Mum, aber ich glaub nicht, dass sie das auch so meint. Nach einem Tag voller Interviews, Reportagen und Recherchen am Rechner ist sie abends total platt und hat keinen Bock mehr auf Reden.

Ich steck mir die Kopfhörer in die Ohren und lauf los. Eigentlich will ich nur ne kleine Runde, aber dann kann ich wieder nicht aufhören. Ich lauf und lauf und immer wieder taucht der Text von der „hungrig-website“ vor mir auf. „Hyperaktivität“ – nur weil man gerne Sport treibt, ist man noch lange nicht „hyperaktiv“ – und wer Sport treibt, bleibt nun mal schlank – was hat das bitte mit Magersucht zu tun?

Ich muss kurz stehen bleiben, weil die verdammte Hose schon wieder rutscht und die Musik total nervt. Ich nehm die Kopfhörer raus und lauf weiter und weiter.

Ob die Bestätigungsmail von der „hungrig-website“ schon da ist?, überleg ich und erwisch mich dabei, dass ich auf einmal echt interessiert bin, was die User in den Foren schreiben.

Wie ferngesteuert lauf ich zurück. Zum Schluss noch ein Sprint, dehnen und dann ab unter die Dusche.

 

Als ich zur Tür reinkomm, sitzt meine Mum im Wohnzimmer und telefoniert – vermutlich mit meiner Tante – mit der hat sie dann plötzlich doch Bock auf Reden … Egal, soll sie doch.

Ich lauf die Treppe hoch, dusch mich schnell, zieh mir bequeme Klamotten an und verschwinde in meinem Zimmer.

Der Desktop ist jetzt schwarz, aber der Rechner brummt leise vor sich hin. Ich beweg kurz die Maus, sofort ist der Wasserfall zu sehen, dann zwei Klicks – Mailaccount – Posteingang – und da ist sie schon, die „hungrig-website“-Mail. Als ich sie öffne, zittert meine Hand. Ich klick auf den Link zum Anmelden – Benutzername – Passwort, dann bin ich drin.

Ich überfliege die einzelnen Foren. Von „Neu hier“ bis „Gesund!!!“. In manchen Foren ist richtig was los, in anderen ist niemand. Während ich mich auf der Seite umschaue, frag ich mich wieder, was ich hier eigentlich mache und bin total genervt, dass mir die Kramer den Zettel gegeben hat. Trotzdem klick ich „Bin ich magersüchtig? – Anzeichen, Symptome“ an und les den aktuellsten Beitrag.

„ … habe gerade festgestellt, dass Roibuschtee Kalorien enthält und hatte sofort eine Panikattacke … trinke nur noch eiskaltes Wasser, weil das mehr Kalorien verbrauchen soll, xxx % Fett in Magerjoghurt sind für mich eine Katastrophe … wiege nur noch xxx Kilogramm und kann nicht mehr mit dem Hungern aufhören – außerdem ist mir dauernd kalt. Ist das Magersucht?“ Da wo scheinbar mal Zahlen gestanden haben, steht jetzt „xxx“ – zensiert vom Moderator des Forums:

„Bitte keine Zahlen nennen, das könnte die übrigen User zum Nachahmen reizen und sie unter Druck setzen.“ steht unter dem Text.

Wie bescheuert ist das denn?, denk ich, aber dann fällt mir ein, dass ich ziemlich sauer reagiere, wenn jemand weniger isst als ich oder auch gerade ne Diät macht und richtig viel abgenommen hat – meistens versuch ich dann, noch weniger zu essen.

Ich bin so vertieft in die Seite, dass ich vor Schreck zusammenzucke, als mich plötzlich meine Mum anspricht:

„Sorry, Jule, ich wollte dich nicht erschrecken. Aber du hast mein Klopfen wohl nicht gehört.“

Blitzschnell leg ich die Seite in der Leiste ab. Ob sie was gesehen hat?

Ich dreh mich mit dem Stuhl zu ihr um.

„Schon gut“, sag ich und frag mich, was sie von mir will – irgendwie klingt ihre Stimme anders.

Meine Mum schaut sich im Zimmer um. Auf meinem Sessel liegen Klamotten. Sie nimmt sie runter, legt sie aufs Bett und setzt sich.

Was wird das jetzt?, denk ich, und warte.

Sie druckst erst ein bisschen rum, und dann sagt sie:

„Meinst du nicht, dass du deine Diät übertreibst? Du siehst schrecklich mager aus. Findet Elke auch.“

Was geht das meine Tante an?, denk ich, sag aber erstmal nichts. Meine Mum sagt auch nichts – wahrscheinlich hat Tante Elke sie geschickt – das wär mal wieder typisch, die Frau muss sich überall einmischen. Überhaupt – was ist hier eigentlich los? Erst macht die Kramer Stress und nun meine Mutter.

Scheinbar fühlt sich meine Mum auch nicht besonders wohl in ihrer Haut.

„Also, ich würde es besser finden, wenn du jetzt aufhörst mit dem Hungern und wieder vernünftig isst. Guck mal, wir haben doch die Mikrowelle und im Gefrierschrank sind lauter leckere Sachen, da könntest du dir nach der Schule gleich was warm machen.“

Klar, denk ich, im Gefrierschrank – zum Kochen hat hier ja niemand Zeit. Am liebsten würd ich ihr ins Gesicht sagen, dass es ihr sonst auch egal ist, was ich mache, weil sie nur ihre Arbeit im Kopf hat. Aber dann kommt wieder die Nummer mit „schließlich muss ich uns zwei alleine durchbringen“ – und das muss ich gerade überhaupt nicht haben, darum versuch ich zu lächeln und sag:

„Ok, mach ich.“

„Bestimmt, Jule?“

„Klar, versprochen. Ab morgen ess ich wieder.“

Keine Ahnung, ob sie mir glaubt. Zumindest steht sie auf und geht zur Tür. Kurz bevor sie da ist, dreht sie sich noch mal um und sagt:

„Ich weiß ja, dass hier nicht alles optimal läuft, aber dein Vater kümmert sich nun mal kaum.“

Wenn’s nicht so traurig wär, hätt ich vermutlich nen Lachkrampf gekriegt „nicht alles optimal“, so sag ich nur:

„Kein Ding, Mum. Mach dir keine Sorgen, das passt schon.“

Ich dreh mich um und es dauert noch einen Moment, dann hör ich, wie sich meine Zimmertür öffnet und schließt.

Erleichtert atme ich aus und mach die Seite wieder auf. Inzwischen gibt es einen neuen Beitrag. Unter dem Nick „klabautermann6838“ schreibt jemand:

„Ich schaff es nicht, mehr als xxx Kalorien täglich zu mir zu nehmen. Meine Freunde sagen, ich sehe schon klapperdürr aus und meine beste Freundin findet mich sogar „gruselig“, aber immer, wenn ich versuch, mehr zu essen, hab ich total das schlechte Gewissen und geh erstmal laufen oder fahr Rad …“ Noch während ich den Text lese, wird ein weiterer Beitrag eingestellt:

„Liebe Klabautermann,

warst du schon bei einem Arzt? Untergewicht ist keine Bagatelle und Magersucht keine Erkrankung, die irgendwann von alleine verschwindet. Ich rate dir dringend, dir professionelle Hilfe zu suchen.

Sollten die Zahlen in deinem Nick übrigens dein vorheriges und dein aktuelles Gewicht beinhalten, würde ich es besser finden, wenn du das änderst.

Liebe Grüße, Donnertella, Moderatorin im Forum

Ich schlucke – verdammte Axt, das sind aber klare Ansagen, denk ich.

Ich les noch einige Beiträge, die schon älter sind, und dazwischen immer wieder Antworten der Moderatoren, sich „professionelle Hilfe“ zu suchen. Meistens sind Links von Beratungsstellen eingefügt oder ein Hinweis, wo man welche findet.

Mir wird immer noch mulmiger beim Lesen und außerdem ist mir saukalt. Ich hol meine Jacke vom Bett und kuschel mich erstmal ein.

Puh, denk ich, was die hier schreiben, kenn ich auch – da gibt’s nichts schönzureden, aber ich bin sicher, dass ich sofort aufhören könnte, wenn ich wollte – oder doch nicht?

Für heute reicht es mir jedenfalls. Draußen ist es inzwischen dunkel. Total geschafft log ich mich aus. Facebook ist noch offen, aber ich hab immer noch keinen Bock auf Kontakte – also auch hier – Abmelden – Start und Ausschalten. Ich bin hundemüde und leg mich auf mein Bett.

Kapitel 2

Draußen ist es schummrig und Regentropfen trommeln aufs Dach, als ich wieder aufwach. Mein Wecker zeigt halb acht. Verdammt, verschlafen. Ich setz mich auf, aber dann fällt mir ein, dass Samstag ist und ich lass mich nach hinten fallen.

Weiterschlafen, denk ich, und warte auf wohlige Schläfrigkeit, aber nichts passiert. Ich bin hellwach – am Samstag um sieben Uhr dreißig – na super … und was fang ich jetzt an mit dem Tag? Bei Facebook ist noch keiner. Ich könnte ne Runde laufen, aber bei Regen? Was liegt heute sonst noch an? Abends Kino mit Nina.

Ach du Schande, Nina, ich wollt mich doch noch melden – die ist bestimmt stinksauer.

Ich such auf dem Schreibtisch nach meinem Handy und find den Zettel mit der hungrig-website. Ob es da neue Beiträge gibt? Ich könnte ja einfach mal gucken – nur ganz kurz. Während mein Rechner hochfährt meldet mein Handy eine Nachricht bei WhatsApp – bestimmt von Nina.

Sie ist von meinem Dad und er schreibt, dass wir unser Treffen morgen leider verschieben müssen, Termine.

„Aber wir holen das nach, versprochen!“ … bla …

Hatte ich sowieso nicht auf dem Schirm – bisher haben wir fast alle Treffen „verschoben“. Dafür krieg ich ein dickes Geschenk zum Geburtstag und Papas Gewissen freut sich wieder.

Ich leg das Handy zurück und fühl mich ätzend – außerdem knurrt mein Magen und Hunger ist das Letzte, was ich jetzt gebrauchen kann. Vielleicht hilft ja Ablenkung. Ich klick mich auf die hungrig-website, da klopft es an meiner Tür und meine Mum guckt um die Ecke.

Was wollen die alle von mir?, denk ich, und würd am liebsten hysterisch kreischen.

„Morgen Jule“, sagt meine Mum, „ich hab uns Brötchen geholt. Kommst du zum Frühstück?“

Scheinbar rächt sich gerade das frühe Aufstehen – ich hab Halluzinationen. Seit wann holt meine Mum am Samstag Brötchen? Normalerweise fährt sie um diese Zeit in die Redaktion und kommt erst mittags zurück. Was mach ich denn jetzt? Mein Magen knurrt weiter, mein Gesicht wird heiß und mein Herz schlägt wie blöd – Panik!

„Kommst du?“, fragt meine Mum noch einmal und ihre Stimme klingt vorsichtig.

„Ich dachte, du bist schon weg“, bring ich mühsam raus.

„Bin ich auch fast, aber wir haben schon so lange nicht mehr zusammen gefrühstückt.“

An mir liegt’s nicht, denk ich und sag:

„Ich muss mich noch auf Mathe vorbereiten, schreiben wir Montag – ich ess dann hinterher. Kannst ja alles stehen lassen.“

„Schade“, sagt meine Mum und ich hoff, dass sie gleich geht, aber dann fällt ihr der Termin mit meinem Dad ein.

„Triffst du dich morgen mit deinem Vater?“

„Nee, hat abgesagt“, sag ich und weiß, was jetzt kommt.

„Klar, wie üblich – ist ja alles wichtiger als seine Familie – das war schon immer so.“

Ich schluck, weil meine Mum das ausspricht, was ich gerade gedacht habe, aber ich will’s nicht hören, nicht jetzt. Am liebsten würd ich sie anschreien:

Geh endlich raus, Mum – frühstücken oder arbeiten – egal – Hauptsache raus, aber stattdessen sag ich so cool wie möglich:

„War nicht so schlimm“, obwohl meine Augen brennen, und ich glatt losheul, wenn ich weiterrede.

Ruhig Jule, denk ich, bleib ganz ruhig, und sag:

„Mum, ich muss jetzt echt was tun.“

Meine Lippen zittern. Ich dreh’ mich schnell zum Schreibtisch und lausche. Endlich schließt sich die Tür. Ein Blick über die Schulter – sie ist weg.

Verdammt, denk ich, sie soll wiederkommen und mich in den Arm nehmen, so wie früher - und dann fang ich an zu heulen und heul und heul bis ich hör, dass unten die Haustür zufällt.

Ich wisch mir mit beiden Händen durchs Gesicht, überleg, was ich jetzt am besten mache und geh nach unten. Auf dem Küchentisch steht ein Korb mit Brötchen und Croissants – Unmengen! Wer soll das denn essen? Daneben Butter, Marmelade, Nutella.

Hunger, denk ich, ich hab Hunger – und dann hör ich auf zu denken und fang an zu essen und als ich wieder anfange zu denken, ist der Korb leer. Ich fühl mich entsetzlich. In meinem Kopf tobt ein Gewitter.

Aufhören, das soll aufhören, sofort! Ich muss ne Lösung finden, Schadensbegrenzung, egal wie.

In Panik renn ich die Treppe nach oben, reiß frische Laufklamotten aus dem Schrank und zieh mich an, während ich wieder runter renne. Gefühlte Stunden später hab ich endlich Schuhe an und lauf durch den Regen. Ich warte auf den „Hype“, aber nichts passiert. Lauf schneller, denk ich, krieg Seitenstiche und hab immer noch das Gewitter im Kopf.

Die Seitenstiche werden schlimmer, ich lauf langsamer und versuch ruhiger zu atmen. Es gießt in Strömen. Ich will nach Hause, und dann soll alles wieder gut sein, so wie gestern, bevor ich wusste, dass es „ich-bin-hungrig“ gibt.

Der Regen hat nachgelassen. Noch fünfzig Meter bis zur Dusche. Langsam lauf ich aus. Die Garage ist offen und leer. Niemand zu Hause – auch gut.

Ich dusche lange und heiß, trockne mich ab, häng mein Handtuch weg und guck kurz in den Spiegel.

Alles easy, denk ich, kein Grund zur Sorge. Klar hab ich abgenommen, aber von „klapperdürr“ oder „gruselig“ kann echt nicht die Rede sein.

Ich zieh mich an, geh direkt an meinen Rechner, öffne „ich-bin-hungrig“, log mich ein und klick auf „Gesund“ – keine Ahnung warum. Vielleicht will ich einfach lesen, dass es normal ist, wenn man am liebsten jeden Tag stundenlang durch den Wald laufen würde, den Kalorien- und Fettgehalt von sämtlichen Lebensmitteln kennt, in Panik gerät, wenn irgendjemand aus der Klasse Kuchen mitgebracht hat, seine Klamotten in der Kinderabteilung kauft und die Hosen trotzdem zu weit sind, oder wenn man von Gesprächen gelangweilt ist, in denen es nicht um Sport oder Diäten geht, und darum Verabredungen am liebsten ständig absagen würde …

Oh Gott , Nina und Kino – ich hab mich immer noch nicht gemeldet – wo ist mein Handy?

Liegt noch da, wo ich es hingelegt hatte, nachdem mir mein Dad nen Korb gegeben hat. Ich such nach Ninas Namen, geh auf Nachricht senden und schreib:

„Kann nicht mit ins Kino, geht mir nicht gut und muss noch für Mathe lernen. <3 Jule

Dass die ersehnte Erleichterung nach dem abgesagten Treffen mit Nina ausbleibt, ignorier ich und les den vorletzten Beitrag auf der Website.

 

Callimeronika ist gerade aus der Klinik zurück und fragt, ob es normal ist, dass es ihr trotz ambulanter Therapie so schwer fällt, sich wieder im Alltag zurechtzufinden.

Die Antwort kommt von Sternenzelt und ist zehn Minuten alt:

„Liebe Callimeronika,

während du in der Klinik warst, haben im Prinzip andere deinen Alltag organisiert, damit du dich intensiv darauf konzentrieren konntest, gesund zu werden. Jetzt musst du dich wieder selbst darum kümmern und ich finde es absolut verständlich, dass das zu Anfang sehr anstrengend ist. Veränderungen brauchen Zeit! Hab ein bisschen Geduld, und nimm dir nicht zu viel auf einmal vor.

Liebe Grüße, Sternenzelt“

Was für ein schöner Nick, denk ich, und was sie schreibt, hört sich zwar ziemlich brav an, aber irgendwie logisch.

Ich seufze, da klopft es an meiner Tür und noch ehe ich dazu komme, die Seite zu minimieren, kommt Nina ins Zimmer gestürzt.

„Nina, was machst du denn hier?“, frag ich und weiß nicht, was mich mehr aus der Fassung bringt, dass Nina plötzlich da ist oder dass die „hungrig-Seite“ noch zu sehen ist.

„Mensch Jule, was ist los mit dir?“, fragt Nina. Unten fällt wieder die Haustür ins Schloss. Meine Mum ist zurück und hat Nina mit reingenommen, denk ich – und dann sitz ich da und starre Nina an.

„Jule?“, fragt sie, „geht’s dir gut?“

Geht’s mir gut? Keine Ahnung, wie’s mir geht. Ich dreh mich um und leg die Website ab.

Nina steht hinter mir und ich hör, wie sie atmet. Komisch, mir ist noch gar nicht aufgefallen, dass Nina beim Atmen leise schnaubt. Erst fang ich an zu grinsen, steigere mich dann in Gelächter und spür plötzlich Tränen – heiß und nass – meine Tränen.

„Jule, du machst mir Angst“, sagt Nina und genauso klingt sie auch. Ich dreh mich um und seh sie vor mir stehen – verschwommen wie im Nebel – und dann spür ich sie – ihre Arme, ihre Hände auf meinem Rücken und wir heulen beide.

„Mensch Jule, kann es sein, dass es dir ziemlich scheiße geht?“, fragt Nina irgendwann. Sie lässt mich los, holt Taschentücher und wischt mir durchs Gesicht. Wir stehen auf und setzen uns aufs Bett … und dann erzähl ich Nina alles – von dem Morgen, als meine Lieblingsjeans nicht mehr gepasst hat, von dem Tag danach, als ich aufgehört hab normal zu essen, von dem Zettel mit der hungrig-website von Frau Kramer, von meiner Mum, die keine Gelegenheit auslässt, über meinen Dad herzuziehen und von meinem Dad, der keine Verabredungen mit mir einhält.

„Dabei hab ich mir echt Mühe gegeben, dass sie sich wieder vertragen. Ich hab für die Schule gepaukt, wie verrückt Gitarre geübt und mich beim Handball reingehängt, damit ich überall immer besser und besser werde, weil ich dachte, sie sind dann stolz auf mich, aber irgendwann hat mein Dad einfach seine Sachen gepackt, und dann ist er weg und meine Mum hat gesagt, dass es so besser ist und dass wir auch alleine klarkommen und jetzt arbeitet sie dauernd und wenn ich sie brauche, ist sie nicht da.“

Nina sitzt mir gegenüber, im Schneidersitz – wie immer. Aber im Prinzip ist schon lange nichts mehr „wie immer“. Ich hab nen bescheuerten Kloß im Hals und wieder das fiese Brennen in den Augen.

„Mensch Jule“, sagt Nina und ihre Stimme ist ganz leise, „wieso hast du nichts gesagt? Ich hab doch gemerkt, dass was nicht stimmt, aber du hattest den totalen Panzer um dich rum. Ich bin gar nicht an dich rangekommen und konnte nur zugucken, wie du immer dünner und dünner geworden bist. Weißt du eigentlich, wie schlecht man sich dabei fühlt?“

Ich schlucke – verdammtes Brennen - wisch mir über die Augen und Nina gibt mir noch ein Taschentuch.

„Was willst du denn jetzt machen?“, fragt sie und ich spür Panik, weil ich es nicht weiß.

„Ich hab nicht die Spur einer Ahnung“, sag ich. „Als ich angefangen hab mit der Diät, hab ich mich so schrecklich einsam gefühlt, wie an dem Tag, als mein Dad ausgezogen ist, aber als die ersten Kilos weg waren, war das einfach nur geil, ein Supergefühl, und ich wollte mehr davon. Wenn ich dann mal ne Phase hatte, wo kein Gewicht mehr runter ging, hab ich einfach weniger gegessen oder bin ne Runde mehr gelaufen und irgendwann war das alles ganz normal.“

„Mensch Jule, guckst du denn nicht in den Spiegel? Du siehst schon richtig gruselig aus – nur noch Haut und Knochen.“

„Gruselig“ – das hab ich grad schon mal gelesen. Witzig, denk ich, und frag mich, ob ich echt so schlimm aussehe und warum mir das nicht auffällt.

Es klopft, und ich zuck zusammen, Nina auch. Meine Mum guckt um die Ecke.

„Ich hab euch Kakao gekocht“, sagt sie, verschwindet kurz und kommt mit nem Tablett und zwei Sheep-World-Tassen zurück: Sie stellt es auf meinen Sofatisch und gibt jeder von uns eine Tasse.

„Oh danke“, sagt Nina und ich sag:

„Das ist ja lieb von dir“, und fühl mich wie ne Heuchlerin.

Einen Moment bleibt meine Mum bei uns stehen. Sie sieht total verlegen aus, und ich wünsch mir, dass sie wieder geht. Macht sie dann auch, und als sie raus ist, gucken Nina und ich uns über unsere Tassen an und ich hab solche Sehnsucht nach Kichern und albern sein, dass es weh tut.

„Ich muss los, Jule, oder soll ich noch bleiben?“, fragt Nina, als unsere Tassen längst leer sind und wieder auf dem Tablett stehen.

Ich schüttel den Kopf. „Ist schon ok. Ich glaub, ich muss jetzt sowieso nachdenken.“

„Echt ok?“

„Echt ok!“

Nina steht auf, nimmt mich in den Arm, geht zur Tür, winkt und weg ist sie.

Die „hungrig-website“ ist noch offen. Ich klick auf „Neu hier“ und fang an, alles zu schreiben, was ich grad Nina erzählt hab. Zum Schluss noch „Danke für’s Lesen! Liebe Grüße, Jule“ und schnell auf senden, damit ich es mir nicht noch mal anders überleg.

Während ich mich abmelde, frag ich mich, warum ich irgendwie das Gefühl hab, dass ich mich entscheiden muss und hoff, dass Nina mit dem ganzen Müll klarkommt, den ich gerade bei ihr abgeladen hab.

Aber eigentlich ist Nina total ehrlich, denk ich, die sagt schon, wenn’s reicht – sollte ich vielleicht auch mal machen. Ich seufze zum x-ten Mal und überleg, ob ich runtergeh oder für Mathe lerne, da klopft es schon wieder. Die Tür öffnet sich ganz langsam und meine Mum guckt ins Zimmer wie vorhin.

„Ist Nina schon weg?“, fragt sie, obwohl sie sicher gehört hat, dass Nina gegangen ist.

„Seit ner halben Stunde“, sag ich und warte. Meine Mum wartet auch, und dann fragt sie: „Soll ich uns was kochen?“

Ich guck sie an und denk, ich bin im falschen Film - meine Mum will uns was kochen. Frag mich lieber, ob du mich in den Arm nehmen und festhalten sollst, damit ich in Ruhe heulen kann oder frag mich, ob ich es scheiße finde, dass mein Dad keine Verabredungen mit mir einhält, aber doch nicht, ob du uns was kochen sollst!

Und dann tut sie mir plötzlich leid, wie sie da steht, und ich bin wieder kurz vorm Heulen, weil ich nicht weiß, ob sie was kochen soll, und weil in meinem Kopf ein Kalorien-Gewitter lostobt, wenn ich mir überlegen muss, ob sie was kochen soll und eigentlich will ich auf keinen Fall, dass sie kocht, weil ich dann was essen muss, und dann sag ich:

„Gemüse und Kartoffeln vielleicht“, und meine Mum strahlt mich an. Sie nickt, dreht sich um und geht zur Tür, und ich denk, fehlt nur noch, dass sie anfängt zu hüpfen.

„Ich ruf dich, wenn ich fertig bin“, sagt sie noch und geht raus.

In meinem Kopf donnert das Gewitter und ich überleg, wie lange ich für Gemüse und Kartoffeln spazieren gehen muss. Krank, denk ich, das ist total krank.

„Gruselig“ hat Nina gesagt. Kann ja gar nicht sein. Ich steh auf und stell mich vor meinen Schrank mit der Spiegeltür. Haare sind ganz ok – aber … oh – mein – Gott – mein Gesicht! Meine Arme! Meine Beine! Wann ist das denn passiert? Ich schieb die Ärmel von meinem Shirt nach oben und hör Nina sagen: „Nur noch Haut und Knochen“ und weiß, wenn ich mein Hosenbein hochschieb, sehen meine Beine auch so aus. Scheiße, denk ich, das ist gruselig! Und dann ruft meine Mum, und ich weiß, dass ich jetzt Kartoffeln essen muss.

Ich atme ein, ganz tief, guck noch mal in den Spiegel, dreh mich schnell weg und geh nach unten. Meine Mum gießt die Kartoffeln ab, auf dem Tisch stehen Teller und eine Kerze.

Flucht, denk ich, raus hier, aber dann fragt sie: „Trinkst du O-Saft?“, und ich sag: „Lieber Wasser.“ Ich setz mich hin und meine Mum gibt mir Kartoffeln und Gemüse.

„Rührei auch?“, fragt sie und ich sag nein, dabei könnt ich für Rührei sterben.

Die Kartoffeln und das Gemüse auf meinem Teller werden langsam weniger und ich hab plötzlich Panik, dass ich noch was nach nehm, wenn mein Teller leer ist. Ich leg die Gabel zur Seite, sag, dass ich satt bin, spür den Blick von meiner Mum und denk, gleich fragt sie, was mit mir los ist, und ob sie was machen kann. Ich überleg schon, was ich sagen soll, aber sie sagt nur, dass ich ja echt wenig gegessen hab und fragt, ob ich vielleicht noch was zum Nachtisch mag.

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