Ein Anfang am Ende des Hungers

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„Ich bin wirklich satt, Mum“, sag ich, steh auf und stell meinen Teller weg.

„Ich geh dann mal wieder.“

„Mathe?“, fragt meine Mum und ich sag: „Mathe“ und verlass die Küche.

Raus, denk ich, laufen, spazieren gehen – irgendwas. Ich renn nach oben, meine Augen brennen schon wieder und ich werd wütend, weil ich nicht dauernd heulen will.

Ablenken, ich muss mich ablenken. Mathe! Wo ist das verdammte Buch? Und dann lern ich Formeln, Lösungswege, Regeln und rechne und rechne. Nur nicht nachdenken!

Unten klappert Geschirr – dann klingelt das Telefon und ich hör meine Mum reden - vermutlich mit Tante Elke.

Die reden über mich, denk ich. Bestimmt reden die wieder über mich!

Ich leg meinen Stift hin und versuch zu verstehen, was meine Mum sagt, aber sie spricht ganz leise und ich red mir ein, dass ich sowieso nicht wissen will, was sie sagt.

Ich nehm wieder meinen Stift und häng mich beim Rechnen noch mal richtig rein, bis mein Herz in meinen Ohren wummert und ich fast so heftig atme, wie beim Laufen.

Völlig fertig klapp ich schließlich das Buch zu, zieh mich um, beeil mich im Bad, lass mich auf mein Bett fallen und hoff, dass ich einschlaf, bevor das Chaos wieder kommt.

Kapitel 3

„Jule, Telefon für dich“, meine Mum steht neben meinem Bett.

Telefon … ok … wo ist mein Wecker? Halb zehn … und welcher Tag ist heute?

„Jule, Nina für dich.“ Ich komm mit dem Oberkörper nach oben und streck die Hand aus. Meine Mum gibt mit das Telefon, bleibt noch kurz stehen und als ich sag: „Hi Nina!“, geht sie aus dem Zimmer.

„Mensch Jule. Mein Vater liest grad die Zeitung von gestern und ich hab mal mit reingeguckt “, sagt Nina und klingt total aufgeregt. Ich lass mich nach hinten fallen und seh sie am Frühstückstisch mit ihren Eltern und ihrem kleinen Bruder bei Kaffee und Kakao und Brötchen und ganz viel Nutella und denk, ich muss mal wieder bei ihr übernachten … aber mit am Tisch sitzen und nichts essen? Nicht bei Ninas Mum – niemals …

… „Jule, bist du noch da?“

„Ähm – ja, klar.“

„Hast du mir überhaupt zugehört?“

Hab ich? Ich konzentrier mich. Was hat Nina erzählt?

„Also nicht. Da ist so ein Model gestorben. Ich les dir das mal vor, ok?“ sagt Nina und liest:

Das belgische Model Mia Carol ist tot. Sie starb bereits Mitte November an einer Lungenentzündung. Die junge Frau hatte sich vor einigen Jahren unbekleidet für eine Schockkampagne fotografieren lassen, um auf die Gefahr der Magersucht aufmerksam zu machen. Die Bilder der ausgemergelten, bereits vom Tode gezeichneten jungen Frau hatten damals großes Aufsehen erregt. Wie alt Carol wurde, ist unklar. Ihr Alter wird unterschiedlich zwischen 28 und 30 Jahren angegeben.“

Einen Moment sagen wir beide nichts. Nina nicht und ich nicht und ich frag mich, was ich fühlen soll. Panik, Trauer, Angst?

„Jule?“

„Ja?“

„Was sagst du denn dazu?“

„Mensch Nina“, sag ich, „so mager bin ich doch gar nicht.“

„Das hat diese Mia bestimmt auch gesagt und dann konnte sie vermutlich nicht mehr aufhören und nun ist sie tot. Jule, ich hatte total Angst um dich, als ich das gelesen hab und ein Bild ist auch noch dabei.“

Ich schluck, setz mich wieder auf und seh aus dem Fenster. Es regnet nicht mehr.

„Hast du schon Mathe gemacht?“, frag ich und schlag die Bettdecke zurück.

„Guck ich mir heute Abend noch mal an. Und du?“

„Ich auch“, sag ich und dann frag ich: „Hast du heute Nachmittag Lust auf Kino?“ obwohl ich gar nicht weiß, ob ich Lust auf Kino hab, aber Nina sagt sofort „Klar“, und klingt total erleichtert. „Halb vier am Eingang, ok?“

„Ok“, sag ich, „dann geh ich jetzt mal duschen …“

„… und frühstücken“, sagt Nina und ich sag: „Bis nachher“ und leg auf.

Ich schwing mich aus dem Bett und fahr den Rechner hoch. Doppelklick auf „ich-bin-hungrig“, die Seite geht auf und ich meld mich an … nichts … noch mal das Ganze … wieder nichts, dann ein Fenster: Das Forum ist von Samstag, 20.00 Uhr, bis Sonntag, 18.00 Uhr, geschlossen.

Was zur Hölle…?, denk ich genervt. Wieso machen die einfach zu? Und dann fällt mir ein, dass ich vorgestern noch gar nicht wusste, dass es ein Forum für Magersüchtige gibt, und dass ich da mal rumklicken würde schon gar nicht. Warum reg ich mich also auf?

Aber es könnte ja sein, dass jemand was zu meinem Beitrag geschrieben hat und nun muss ich warten bis Sonntag und das geht irgendwie gar nicht.

Ok – Alternative? Laufen? Lernen? Facebook? Unten röhrt der Staubsauger – meine Mum macht den Wochenendputz, danach gibt’s Frühstück. Laufen, denk ich. Wer nicht da ist, kann nicht frühstücken.

Im Schrank sind nur noch kurze Hosen – zu kalt, denk ich, egal – ich will laufen, jetzt, sofort!

Ich zieh ne Fließjacke drüber und warme Socken, dann geht das schon. Ich schleich mich aus dem Zimmer. Der Staubsauger läuft noch. Gut, denk ich – dann Schuhe an und nichts wie raus. Ich mach grad die Haustür auf, da geht der Staubsauger aus, und es ist still im Haus.

„Jule?“ Meine Mum. Am besten so tun, als hätt ich nix gehört – Tür zu und los.

Ich bin schon aus dem Garten, da geht die Tür wieder auf.

„Jule!“, diesmal klingt sie sauer – ziemlich sauer. Ich lauf weiter und spüre Stiche an den Beinen. Verdammte Kälte, denk ich, lauf schneller und krieg schon wieder Seitenstiche. Langsamer, denk ich, lauf langsamer. Ich versuch kräftig auszuatmen – jetzt bloß nicht stehen bleiben, dann lauf ich nicht wieder los.

Verdammt, verdammt, verdammt …Was für eine Scheiße! Geht hier eigentlich gar nix mehr? Ich atme ruhiger, die Seitenstiche gehen weg.

Kalt, denk ich, meine Füße und Beine sind wie tot, meine Hände auch. Ich lauf zurück, versuch den Schlüssel ins Schloss zu stecken, aber ich kann ihn nicht richtig festhalten. Er fällt runter, ich bück mich, da geht die Tür auf – meine Mum.

Ich greif nach dem Schlüssel, steh auf und er rutscht mir wieder aus der Hand. Diesmal hebt meine Mum ihn auf, greift nach meinem Arm, zieht mich in den Flur, macht die Tür zu, lehnt sich dagegen und guckt mich an. Wütend, denk ich, sie ist wütend, und warte, dass sie schreit.

„Jule, was soll das?“, sagt sie dann leise und ich hab Angst, dass sie erstickt, weil sie vielleicht lieber schreien würde, und überleg, ob ich was sagen soll oder lieber den Mund halte.

„Kannst du mir mal erklären, warum du hier bei dieser Schweinekälte halbnackt draußen rumrennst?“

Einen Augenblick ist es still, ganz still, und dann schreit sie doch:

„Jule, verdammt noch mal, rede mit mir!“

Ich guck sie an und es ist mir peinlich, dass meine Mum so die Fassung verliert. Meine Hände und Beine fangen an zu kribbeln. Ich will duschen und zu Nina.

Meine Mum legt sich die Hände vors Gesicht und dann fährt sie durch ihre Haare und kippt den Kopf in den Nacken. Ihre Lippen zittern und bestimmt brennen ihre Augen auch, denk ich, und dann klingelt das Telefon.

Ich überleg, ob ich los lauf und ran geh, aber meine Mum sagt: „Nicht jetzt.“ und als das Telefon aufhört zu klingeln, klingelt im Wohnzimmer ihr Handy. Ich hör am Klingelton, dass es ihr Redakteur ist und nun geht sie doch ran. Ich warte und hör wie sie sagt:

„Kann das nicht Andreas … ? Ach so … und wann? Ok, ich bin halb sieben da …“ und bevor sie wieder in den Flur kommt, renn ich die Treppe hoch direkt ins Bad, schließ die Tür ab, reiß mir meine Klamotten runter, mach das Wasser an und zieh den Vorhang zu.

Zu heiß, denk ich, als das Wasser über meine Arme und Beine läuft. Ich dreh die Temperatur zurück und stell mich komplett unter die Dusche. Das Wasser läuft und läuft und dann hör ich, wie meine Mum an die Tür klopft. Ich leg meine Hände über meine Ohren, aber ich hör trotzdem, dass sie „Jule“ ruft.

Irgendwann geht sie wieder, denk ich. Ich stell das Wasser aus und lausch – alles ruhig, na bitte. Ich greif nach dem Duschbad, verreib es zwischen den Händen und auf meinem Körper und spür meine Knochen - direkt unter meiner Haut.

Ich guck an mir runter und seh meine Kniegelenke. Sie sehen total riesig aus und mein Körper fühlt sich so hart an, als würde ich nur aus Knochen bestehen.

Ich hör auf, mich weiter einzuseifen, dusch den Schaum ab und greif nach meinem Handtuch. Mir ist immer noch kalt und ich wickel mich fest ein. Als ich aus der Dusche steige, stoß ich an die Waage und frag mich, wann ich mich eigentlich zuletzt gewogen hab. Ich stell mich gleich drauf, so wie ich bin, mit dem Handtuch, und dann seh ich die Zahl, mein Gewicht, und geh wieder runter. Ich setz mich hin, auf die Matte direkt vor der Dusche und starr die Waage an.

Es ist nur eine Zahl, denk ich, nur eine Zahl, Jule. Aber die Zahl ist ein Gewicht, mein Gewicht, und dafür ist sie zu niedrig.

Verdammt, wie spät ist es? Ich spring auf, trockne mich ab, föhn kurz meine Haare, mach mir nen Zopf und dreh den Schlüssel im Schloss. Ich warte kurz und lausch. Alles ruhig – und wenn meine Mum noch draußen steht? Vorsichtig mach ich die Tür auf, aber es ist niemand da. Ich husch in mein Zimmer, greif mir die Klamotten von gestern, zieh mich an, pack mein Handy und mein Geld in meine Tasche und geh die Treppe runter.

Meine Mum telefoniert.

„Thomas, ich bitte dich, lass mich mit deinen Erklärungen in Ruhe. Du hattest immer eine Erklärung für Überstunden und Dienstreisen … darum geht es doch jetzt gar nicht … Jule ist auch deine Tochter …“

Dad, denk ich, sie telefoniert mit meinem Dad.

 

„Moment mal Thomas … Jule?“

Ich zieh hastig Stiefel und Jacke an, nehm meinen Schlüssel vom Schrank, ruf:

„Ich geh ins Kino mit Nina“, zieh die Tür hinter mir zu und renn schon wieder durch den Garten zur Straße.

An der Bushaltestelle stehen jede Menge Leute. Ich stell mich dazu und denk, die starren mich an. Ich will in die Gesichter gucken, aber ich trau mich nicht, weil ich nicht weiß, wo ich hingucken soll, wenn sie echt starren, aber dann kommt schon der Bus. Ich steig ein und während er durch die Straßen fährt, frag ich mich, warum meine Mum mit meinem Dad telefoniert, und ob jetzt alle spinnen.

Die Haltestelle ist direkt vorm Kino und als ich aussteig, wartet Nina schon auf mich.

„Mensch Jule, ich dachte, du kommst nicht mehr.“ Sie nimmt mich in den Arm und ich nehm sie in den Arm und dann gehen wir rein. Wir kaufen die Tickets und Nina kauft sich Popcorn und Cola und ich ein Wasser.

Der Kinosaal ist dunkel und es laufen schon die Trailer für die neuen Filme. Wir suchen uns nen Platz und sitzen gerade ein paar Sekunden, als der Film anfängt.

Ich guck auf die Leinwand, nipp an meinem Wasser und hör Nina und die anderen lachen, aber ich hab keine Ahnung, worüber sie lachen, weil ich andere Bilder sehe als sie - die Zahl auf der Waage und meine Mum, und ich hör, wie sie schreit, und wie sie mit meinem Dad telefoniert, und dann seh ich Leute, die mich anstarren und mich gruselig finden …

„Jule? … Jule!“ Ich zuck zusammen, als ob mich jemand aus dem Tiefschlaf geweckt hätte. Auf der Leinwand laufen Buchstaben vorbei, der Film ist zu Ende. Nina steht auf, geht aus der Reihe und wartet im Gang. Als ich auch aufsteh, hab ich die Wasserflasche noch in der Hand und wunder mich, dass fast nix raus ist. Ich stell sie in eine Halterung neben nem Kinosessel und geh zu Nina.

„War nicht der Knaller für dich der Film, oder?“, fragt sie. Ich schüttel mit dem Kopf und geh mit ihr nach draußen.

„Schon halb sechs“, sagt Nina, „ich muss nach Hause. Mathe, du weißt ja. Ist das ok?“

„Klar“, sag ich und denk, ich muss noch Zeit totschlagen, meine Mum geht erst um sechs, da kommt schon Ninas Bus. Sie steigt ein, setzt sich ans Fenster, winkt mir zu und weg ist sie wieder.

Ich kann zu Fuß gehen, denk ich und geh los, und dann fällt mir ein, dass die Website ab sechs wieder offen ist. Ich geh schneller, weil ich wissen will, ob mir jemand geantwortet hat und als ich in unsere Straße komm, fährt meine Mum gerade aus der Garage. Ich stell mich hinter ne Hecke, damit sie mich nicht sieht und könnt glatt kotzen deswegen.

Als ich reinkomm, ist es kurz nach sechs. Ich renn nach oben, fahr den Rechner hoch und meld mich an. Diesmal klappt es sofort. Im Forum ist schon richtig was los. Ich klick auf „Neu hier“ und les den ersten aktuellen Beitrag.

Kenn ich, denk ich, ich wollt auch nur ein paar Pfund – ok, nicht wegen nem Kerl – wegen ner Hose, aber immerhin hab ich keine Appetitzügler genommen …

Ich les weiter und hör auf zu lesen, weil ich nicht aushalten kann, was ich les, weil Tami von ihrem Onkel missbraucht wird und hofft, dass er sie in Ruhe lässt, wenn sie ganz dünn ist, und wenn nix anderes hilft, schreibt sie, dann verhungert sie halt.

Total entsetzt les ich die Antworten - sie soll nicht aufgeben, sich Hilfe suchen und ihren Onkel anzeigen und ich seh die Links von den Beratungsstellen und Telefonnummern und Ansprechpartner.

Meine Hände werden kalt und zittern. Ich wisch sie an der Jeans ab, spür meine knochigen Beine und komm mir schäbig vor, weil ich wegen ner Hose dünner werden wollte, während andere hungern, weil man ihnen weh tut.

Ich muss wieder essen, denk ich, weil mir sonst auch egal wird, dass ich verhunger und dann seh ich den Beitrag von Sternenzelt, ganz unten auf der Seite, direkt über meinem. Ich les, was sie schreibt und merk, sie schreibt an mich.

Ich stürz mich auf ihre Antwort, damit ich das Entsetzen nicht mehr aushalten muss, und bin mit jedem Satz enttäuschter, weil Sternenzelt schreibt, dass ich mir bei meiner Lehrerin, meinem Hausarzt oder bei einer Beratungsstelle Hilfe suchen soll, und weil ich finde, dass das ne brave Standardantwort ist.

Nen Moment sitz ich da und frag mich, ob Tami ne Frau Kramer oder nen guten Hausarzt kennt, oder ob sie die Kraft hat, eine von den Nummern in ihr Handy zu tippen.

Ich fühl mich total im Stich gelassen und überleg, ob ich mich abmelde und einfach nicht mehr auf die Seite geh, weil ich keinen Bock auf „Hilfesuchen“ hab, sondern ne fertige Lösung brauch, aber dann hör ich Nina, wie sie anruft und von dem toten Model erzählt und ich überleg es mir anders, schreib an Sternenzelt, dass ich keine brave Standardantwort, sondern ne „eigene“ will und schick die Nachricht ab.

Ich fahr den Rechner runter und pack meine Sachen für morgen. Meine Hände sind noch kalt, aber das Zittern lässt langsam nach, dafür knurrt und rumpelt es in meinem Magen, weil ich nix gegessen hab.

Ich frag mich, ob das Rumpeln aufhört, wenn man Appetitzügler nimmt, und warum ich das noch nicht ausprobiert hab, aber dann fällt mir ein, dass ich mal irgendwo gelesen hab, wie gefährlich das Zeug ist.

Vielleicht hilft es ja schon, wenn ich nur ne Kleinigkeit esse. Ich steh auf, geh nach unten und überleg bereits auf der Treppe, welche „Kleinigkeiten“ keine Kalorien haben.

In der Küche liegt ein Zettel: „Warte nicht mit dem Essen, wird spät, Bussi, Mum.“

Ich mach den Kühlschrank auf und wieder zu - greif nach dem Obstkorb auf der Arbeitsfläche, schieb ihn wieder weg - mach die Kühlschranktür wieder auf, greif nach nem Joghurt, nehm nen Löffel aus der Besteckschublade, geh nach oben, reiß den Deckel auf und fang schnell an zu essen, weil ich den Becher sonst ungeöffnet irgendwo stehen lasse. Damit ich nicht noch mehr esse, putz ich gleich Zähne, geh ins Bett, deck mich zu, dreh mich auf die Seite und hör, wie mein Magen weiter knurrt und rumpelt.

Genervt dreh ich mich auf den Rücken und leg die Hände auf meinen Bauch - fühlt sich hart an und leer, denk ich, und merk, dass ich wütend werd, weil ich nicht einschlaf und das Gerumpel nicht aufhört. Ich überleg, ob ich das Licht wieder anmach und noch mal aufsteh, aber dann geht leise die Tür auf und meine Mum flüstert meinen Namen. Ich frag mich, warum ich nicht gehört hab, wie sie reingekommen ist und versuch, gleichmäßig zu atmen.

„Jule?“, fragt sie noch mal und ich denk: Nein, Mum! Geh raus! Ich will nicht reden, nix erklären, nix versprechen und auch nicht wissen, warum du mit Dad telefoniert hast – geh endlich, damit ich einschlaf und das Gerumpel aufhört - und dann geht sie tatsächlich. In meinem Bauch rumpelt es weiter und irgendwann schlaf ich ein.

Kapitel 4

Als mein Wecker klingelt, ist Montag und es fühlt sich an wie ein Virus auf dem Rechner, von dem man weiß, dass er da weg muss, aber man hat keine Ahnung wie.

Ich steh erstmal auf, geh ins Bad und mach nen Bogen um die Waage, weil Wiegen keinen Hype mehr macht, seit ich weiß, dass meine Zahl besser nicht mehr niedriger werden sollte.

Was für eine Scheiße, denk ich, und hab keinen Bock auf Duschen und Schminken, weil ich keine Ahnung hab, wie ich den Virus aus dem Montag kriegen soll.

Es rauscht leise in der Leitung, meine Mum nimmt unten Wasser.

Los, denk ich, davon, dass du hier stehst, geht’s dir auch nicht besser!

Wenigstens duschen, denk ich, steck meine Haare hoch, dreh das Wasser ganz weit auf und lass mir den harten Wasserstrahl auf den Rücken prasseln, bis nur noch kaltes Wasser kommt und ich mich in mein Handtuch wickeln muss, damit ich nicht erfriere.

Ich geh schnell über den Flur. Von unten riecht es nach Kaffee, und ich hab plötzlich total Sehnsucht nach einem Dad, der mit der Zeitung in der Küche sitzt und nach frischen Brötchen und einer Mutter, die mir ein Schulbrot schmiert und fragt, was drauf soll.

Ich schluck den Kloß in meinem Hals runter, weil mein Dad nicht in der Küche sitzt und meine Mum nicht fragt, was auf mein Schulbrot soll und lass das Handtuch einfach fallen. Ich greif nach Socken, Slip, BH und frag mich, warum ich überhaupt noch nen BH trage und warum mir jetzt erst auffällt, dass ich kaum noch Busen hab.

Ich zieh mich an, seh auf meiner Uhr, dass ich mich beeilen muss, renn mit meiner Tasche nach unten und wär fast mit meiner Mum zusammengestoßen. Sie lehnt am Türrahmen und sieht so traurig aus wie an dem Tag, als mein Dad ausgezogen ist.

„Morgen, Mum“, sag ich, weil ich nicht weiß, was ich sonst sagen soll. Ich geh an ihr vorbei, greif nach meiner Jacke und spür, dass sie mich anguckt. Ich guck sie auch kurz an, und als ich seh, dass ihre Lippen zittern, tu ich so, als hätt ich’s nicht gemerkt. Ich zieh schnell meine Jacke und meine Stiefel an, sag: „Wird knapp“ und „Bye Mum!“, wink ihr zu, stürz aus dem Haus, renn zum Bus und bin froh, dass ich keinen Bock auf Schminken hatte, weil mir das ganze Zeug jetzt durchs Gesicht laufen würde.

Als ich um die Ecke komm, steht der Bus schon da. Ich renn schneller, steig als letzte ein, wisch mir hastig durchs Gesicht und bleib an der Tür stehen. Der Bus fährt los, ich halt mich an der Stange fest, und guck aus dem Fenster.

Draußen tanzen Lichter und ich seh meine Mum und ihre Augen und ihre Lippen und hör, wie sie „Jule“ ruft und frag mich, ob sie echt gerufen hat, oder ob ich mir das eingebildet hab.

Im Bus ist es warm und stickig und ich bin froh, als er an der Schule hält. Als die Tür aufgeht, steig ich sofort aus, atme einmal tief und guck, ob ich Nina irgendwo seh, da steht sie auch schon neben mir. Sie nimmt mich in den Arm, sagt:

„Hallo Jule“, und hakt mich ein, und als wir über den Schulhof in unseren Klassenraum gehen, bin ich total dankbar, dass sie sonst nix sagt oder fragt.

Die anderen sind schon auf ihren Plätzen, nur Bea ist noch unterwegs zu ihrem Tisch. Eigentlich fahren wir morgens zusammen und ich frag mich, ob Bea nicht im Bus war, oder ob ich sie nicht gesehen hab.

Sie stellt ihre Tasche ab, dreht sich kurz um, und als sie uns sieht, fragt sie auch schon, ob ich keine Leute mehr kenn. Ich will grad antworten, da kommt Frau Wöling mit den Englischklausurheften unter dem Arm in die Klasse und wir setzen uns hin.

Bea sitzt direkt vor mir und als Frau Wöling sagt, dass sie mit den Klausuren sehr zufrieden ist, und dass es eine Eins gegeben hat, hör ich wie Bea „Bestimmt Jule“, flüstert. Als ich dann mein Heft krieg und nachguck, steht echt ne Eins drunter, aber ich spür keine Freude und es macht mir Angst, dass ich mich nicht freu.

Ich sitz da und starr auf mein Heft und als Frau Wöling noch mal zu mir kommt und sagt:

„Das war wieder ausgezeichnet, Jule!“, hab ich plötzlich Angst, dass ich mal Klausuren schreib, die nicht mehr ausgezeichnet sind.

Ich versuch zu lächeln und Frau Wöling lächelt auch und geht wieder nach vorne, und dann fällt mir auf, dass ich noch nix von Nina gehört hab. Ich guck zu ihr rüber und seh sie vor ihrem Heft sitzen.

„Bitte keine Fünf“ sagt sie und sieht total verzweifelt aus. Sie schlägt das Heft auf, fängt an zu kreischen, dass sie ne Vier hat, haut mit beiden Händen auf den Tisch und als sie mich anstrahlt, merk ich, dass ich mich nicht mal mit meiner besten Freundin freuen kann.

Ich hol tief Luft und sag:

„Nina, wie geil!“, und hab Panik, dass ich mich nie mehr freuen kann, und dann dreht sich Bea um und fragt, ob ich die Eins hab. Ich nick und sag: „Ja“, und dass es mir übrigens echt leid tut, dass ich sie im Bus nicht gesehen hab, weil ich noch so müde war.

Bea sagt: „Kein Ding“, und grinst und ich bin froh, dass sie grinst, weil ich es nicht aushalten kann, wenn jemand sauer auf mich ist.

Ne Weile reden alle durcheinander, aber dann bittet Frau Wöling um Ruhe und spricht mit uns über die Arbeit bis es klingelt.

Sie wünscht uns viel Erfolg bei Mathe, geht aus der Klasse und trifft in der Tür Herrn Lohmann. Die beiden bleiben stehen und reden leise miteinander und Nina stößt mich an und sagt: „Wetten, die haben was zusammen?“ und ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll, weil es mir völlig egal ist, wer mit wem was hat.

Herr Lohmann ist inzwischen nach vorne gegangen und holt die Matheaufgaben raus. Er erklärt noch ein paar Sachen und sagt, dass wir nicht abschreiben sollen, und als er kurz stehen bleibt und den Aufgabenzettel auf meinen Tisch legt, frag ich mich, ob mein Dad vielleicht was mit ner anderen hatte und ob er deshalb ausgezogen ist.

 

Blödsinn, denk ich, aber ich spür, dass mir der Gedanke weh tut und bin froh, dass ich überhaupt noch was spür.

Ich schlag mein Heft auf und fang an zu rechnen. An den Lösungen zu arbeiten, fühlt sich total gut an, und als ich das letzte Ergebnis unterstreich und mein Heft abgebe, ist das fast wie Abschied.

Weiterrechnen, denk ich, ich will weiterrechnen, weil ich hier Lösungen finde, und weil Zahlen nicht sauer auf mich sind und keine Fragen stellen, auf die ich keine Antworten hab.

Ich dreh mich schnell um, geh zu meinem Platz und seh Nina vor ihrem Heft sitzen. Sie sieht aus, als könnten Zahlen beißen, und ich würde am liebsten ihr Heft nehmen, alles noch mal rechnen und beim Abgeben den Abschied wieder spüren, und dann sagt Herr Lohmann:

„Noch fünf Minuten!“ und Nina guckt von ihrem Heft hoch und ich weiß, fünf Minuten reichen nicht, um Lösungen zu finden und Nina weiß das auch.

Als es zur Pause klingelt, sammelt Herr Lohmann die letzten Hefte ein, sagt, dass er sie so schnell wie möglich durchguckt und geht aus der Klasse.

„Sorry, Nina“, sag ich, „ich hätt dir echt gern geholfen“, und Nina sagt:

„Mensch Jule, ist doch ok.“ Sie holt ein Taschentuch aus ihrem Rucksack und wischt vorsichtig unter ihren Wimpern lang. „Du kannst nicht alle retten, fang erstmal bei dir an.“

Und dann rennen plötzlich alle mit Zetteln durch die Klasse, auf denen die Lösungen stehen, und ich hör ständig meinen Namen, guck auf die Zettel und nick, wenn ich das gleiche Ergebnis hab, oder schüttel mit dem Kopf, wenn’s nicht passt, und bin echt froh, als die Pause zu Ende ist.

Als etwas später Frau Kramer reinkommt und mich anguckt und lächelt, wunder ich mich plötzlich, dass sie sich Gedanken um mich gemacht hat, und irgendwie find ich es cool und spannend. Gleichzeitig frag ich mich aber, warum ich dann jedes Mal weglauf, wenn meine Mum sich kümmern will, obwohl ich eigentlich auch will, dass sie mich in den Arm nimmt und festhält.

Ich hör Frau Kramer reden und seh, dass sie was an die Tafel schreibt, und Nina schreibt auch was, und ich frag Nina leise, was sie schreibt.

„Was an der Tafel steht“, sagt sie und grinst, weil sie sonst diejenige ist, die nicht weiß, was wir machen sollen, und ich find es total verführerisch, dass mal jemand anderes weiß, was zu tun ist.

Komisch, denk ich, dass ich mir dauernd wünsch, dass mir jemand sagt, was ich machen soll. Dabei fühl ich mich doch fast erwachsen und will auf jeden Fall studieren oder ins Ausland, wenn ich mein Abi hab, und wenn mir jemand sagen würde, ich soll das lassen, würd ich vermutlich Gegenstände werfen.

Nen Moment geht mein Blick ins Leere, aber dann nehm ich meinen Stift und fang an zu schreiben wie die anderen, weil ich hoff, dass ich dabei nicht denken muss.

Ich hab grad die Hälfte abgeschrieben, als Frau Kramer die Stunde zusammenfasst und ne Bioklausur ankündigt. Ich hör ihr zu und frag mich, ob ich mich traue, sie um Hilfe zu bitten, wie Sternenzelt mir geraten hat, aber eigentlich weiß ich gar nicht, wie sie mir helfen kann.

Als es das nächste Mal klingelt, ist Schulschluss. Wir packen zusammen und Nina sagt, dass sie noch schnell auf den Vertreter gucken will, weil sie gehört hat, dass Herr Maler auf ner Skifreizeit ist, und wir dann nachmittags nicht Politik haben.

Ich geh hinter Nina aus der Klasse, und als wir über den Flur gehen, spür ich, dass jemand hinter mir ist. Ich guck über meine Schulter und seh Frau Kramer. Sie geht ein bisschen schneller, bleibt neben mir stehen und sagt:

„Jule, wenn ich dir irgendwie helfen kann, dann sag mir bitte Bescheid.“ Ich bleib auch stehen und guck sie an und nick nur, weil ich schon wieder den Kloß im Hals und das Brennen in den Augen hab. Frau Kramer lächelt mich noch mal an und geht weiter, und ich guck ihr hinterher und denk an die Website und an Sternenzelt.

„Donnerwetter“, sagt Nina, „die hängt sich ja richtig rein. Hätt’ ich gar nicht gedacht.“ Und ich nick wieder, weil ich das ja auch nicht gedacht hätte.

Frau Kramer ist inzwischen im Lehrerzimmer verschwunden, und wir gehen zum Vertreter. Politik fällt tatsächlich aus.

„Geil“, sagt Nina, „und Erdkunde haben wir auch erst nächste Woche wieder, weil Frau Barich noch im Krankenhaus ist – das heißt: nachmittags kein Unterricht!“

Sie dreht sich um und strahlt mich an, und als wir aus der Schule gehen, merk ich, dass es mir eigentlich egal ist, dass Politik und Erdkunde ausfallen.

Als wir an der Haltestelle ankommen, sagt Nina, dass sie heute Nachmittag noch Schwimmtraining hat und fragt, ob wir uns vielleicht morgen treffen wollen.

Ich überleg, welcher Tag morgen ist, sag: „Müsste passen“, nehm Nina in den Arm, und als ich in meinen Bus steig, kann ich es kaum erwarten, zu Hause den Rechner hochzufahren.

Als ich reinkomm ist es still. Wie immer, wenn ich reinkomm. Ich geh in die Küche. Auf der Arbeitsfläche liegt ein Zettel von meiner Mum und daneben steht eine Aluschale mit Lasagne.

„Hallo Jule, ich sehe zu, dass es heute nicht so spät wird. Mach dir doch schon mal die Lasagne warm – Bitte!“

Ich mach den Kühlschrank auf und stell die Lasagne wieder weg, und es macht mir ein schlechtes Gewissen, dass meine Mum „Bitte!“ schreibt und ich sie trotzdem wieder wegstell, aber ich kann das Zeug nicht essen – unmöglich!

Stattdessen koch ich einen Liter Wasser, häng nen Teebeutel in meine Sheepworldtasse und koch mir Früchtetee, weil heißer Tee den Magen füllt und es in meinem Bauch schon wieder gluckert und rumpelt.

Mit meiner Tasse balancier ich die Treppe hoch, starte nach ner gefühlten Ewigkeit meinen Rechner, log mich ins Forum von der hungrig-website ein und seh immer noch die Aluschale im Kühlschrank und Mums Zettel mit dem „Bitte!“.

Ich greif nach meiner Tasse und zieh die Hand zurück. Zu heiß, denk ich, klick auf „Neu hier“ und frag mich, warum ich so aufgeregt bin. Ich scroll nach unten und überflieg die Beiträge von Cassy, Antoinette und Katzenaugen, und was sie schreiben klingt nach „Haut und Knochen“ wie bei mir. Ich überleg, ob ich ihnen antworten soll, merk aber, dass ich dazu grad nicht die Geduld hab, weil ich ja selber nach ner Antwort such.

Langsam scroll ich weiter und versuch mich zu erinnern, was ich Sternenzelt genau geschrieben hab und hab plötzlich Angst, dass sie beleidigt ist, aber dann seh ich ihre Antwort und bin total erleichtert.

Ich fang gleich an zu lesen und weiß schon nach dem ersten Satz, dass sie nicht sauer ist, weil sie schreibt, dass es ihr vermutlich noch sehr schlecht gehen würde, wenn sie keine Hilfe angenommen hätte, und dass es ihr wichtig ist, das an die anderen im Forum weiterzugeben, die noch nicht wissen, wie es weitergehen soll.

„Allerdings muss ich dir Recht geben. Wenn ich damals eine „brave Standardantwort“ ;-) bekommen hätte, wäre ich vermutlich auch enttäuscht gewesen“, schreibt sie, und erzählt, wie sie in die Magersucht gerutscht ist und während ich lese, werden aus ihren Worten Bilder und ich kann den Strudel sehen, von dem sie erzählt. Ein Strudel, der sie mitgerissen hat wie ein spannendes Abenteuer. Alles war neu und aufregend: weniger essen = weniger Gewicht – noch weniger essen = noch weniger Gewicht - und sie hat sich bereitwillig darauf eingelassen, aber dann ging der Sog nach unten, auf Hungerphasen folgten Fressattacken und dann wieder Hungerphasen und manchmal hat sie sich auch übergeben, und plötzlich hatte sie Panik und wollte wieder raus. Eine Weile hat sie noch geglaubt, dass sie es alleine schafft, doch dann haben ihre Kräfte immer weiter nachgelassen, bis sie nur noch ihre Stimme hatte. Sie hat um Hilfe gerufen, aber niemand konnte sie hören, weil sie zu leise war. Erst als sie geschrien hat, so laut sie konnte, hat ihr jemand ein Seil zugeworfen und sie rausgezogen - und ich sitz da und weiß, dass ich „Hilfe“ rufen muss, bevor ich keine Kraft mehr hab, weil Magersucht kein aufregendes Abenteuer ist.

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