Warnung vor Büchern. Erzählungen und Berichte

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Warnung vor Büchern. Erzählungen und Berichte
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Hans Fallada

Warnung vor Büchern

Erzählungen und Berichte

Herausgegeben von Carsten Gansel

Reclam

2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2021

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-961870-8

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014081-9

www.reclam.de

Inhalt

  I Ich übe mich im Dialog Ich übe mich im Dialog Stimme aus den Gefängnissen Tscheka-Impressionen Stahlhelm-Gemüs Was liest man eigentlich so auf dem Lande?

  II Ansehen kostet ja nichts Liebe Ordensgeschwister! Die Verkäuferin auf der Kippe Rache einer Hamburgerin Eine vom Mädchenklub Wer kann da Richter sein? Geschlagene Pferde, gehetzte Menschen Mein Freund, der Ganove Der Strafentlassene Otsches Fluchtbericht Besuch bei Tändel-Maxe Liebe Lotte Zielesch, Ich rate Preisrätsel Auch eine Kriegsgeschichte Bei uns, in der Kleinstadt

  III Das Medusenantlitz des Lebens Vorweihnachtliche Betrachtungen Geistesgegenwart Im Auto zur Brandstätte An der Schwale liegt ein Märchen … Sieben Kinder spielen im Stadtpark Der verlorene falsche Taler Rückschau des Kritikers

  IV Der heimliche Dichter Warnung vor Büchern Gespräch zwischen Ihr und Ihm über Ernest Hemingway Der heimliche Dichter Ich bekomme Arbeit Fröhlichkeit und Traurigkeit Gegen jeden Sinn und Verstand Frühling in Neuenhagen Wie vor dreißig Jahren Christkind verkehrt Eine Königskrone geht auf Reisen

  V Das Todeshaus formt einen Dichter Essen und Fraß Meine Damen und Herren! Ja! – Aber … Nein, doch lieber nicht Osterfest 1933 mit der SA Noch einmal Osterfest 1933 mit der SA Das Todeshaus formt einen Dichter Kalendergeschichten Deine Frau Wie ich Schriftsteller wurde

  Zu dieser Ausgabe I Ich übe mich im Dialog II Ansehen kostet ja nichts III Das Medusenantlitz des Lebens IV Der heimliche Dichter V Das Todeshaus formt einen Dichter

 Nachwort»Bücher sind ja überhaupt die treuesten Freunde« – Hans Fallada als Erzähler»Ich denke nie an meine Leser, wenn ich ein Buch schreibe« – Fallada und das Schreiben»Dafür gibt es eben kein Publikum« – Fallada auf der Suche nach einem Neuansatz»Ich übe mich im Dialog« – Fallada und seine »Großstadttypen«»Ich sitze also tatsächlich zwischen zwei Stühlen« – Fallada und journalistisches Schreiben»Er ist diesmal spannend wie ein Kriminalroman« – Fallada auf der ErfolgsspurVom Erfolgsrausch ins Dritte Reich – Kleiner Mann – was nun?Nach 1945 – Versuchter Neuanfang

[9]I Ich übe mich im Dialog

[11]Ich übe mich im Dialog

Ich weiß, ich kann keinen Dialog schreiben. Ich möchte aber auch gern solch witzigen, überraschenden, schlagfertigen Dialog schreiben können, wie ihn alle Leute in allen Zeitungen schreiben. Ich muss mich üben. Also:

Ich wunderte mich gleich über ihn. Im Café waren ein Haufen Tische frei, er kam aber direkt auf meinen Tisch zu und setzte sich daran. Indes ich eifrigst mit der Zeitung beschäftigt tat, sah ich doch, dass er seinen Hut, einen steifen schwarzen Hut, aufbehalten hatte, was in deutschen Kaffeehäusern nicht üblich ist.

»Ist das Berliner Tageblatt frei?« fragte er.

Dies war stark, ich las gerade die erste Seite.

»Wie Sie sehen, nein«, antwortete ich.

»Ich muss dringend etwas nachsehen«, sprach er weiter, ohne auf meine Antwort zu achten.

»Nein«, sagte ich beharrlich.

»Vielleicht steht nämlich etwas von Charlotta drin« – und nahm mir die Zeitung aus der Hand.

Nun hätte ich aufspringen müssen und ihn ohrfeigen, ich gebe das zu. Was wurde dann aus meinem Dialog? Eine Schlägerei. Nein.

»Ober, bringen Sie dem Herrn zu seiner Zeitung einen Kognak«, rief ich und lehnte mich zurück.

Er warf die Zeitung wutbebend auf die Erde und sah mich zornfunkelnd an: »Sie wollen mich beleidigen?« rief er. »Mein Herr!« rief er.

»Ich will Ihnen einen Kognak bezahlen«, sprach ich.

»Hier ist meine Karte!« schrie er und warf sie auf den Tisch.

[12]Gerade kam der Ober mit dem Kognak. »Lesen Sie das Dings vor«, sagte ich zum Ober.

Der Ober stellte den Kognak vor den Herrn mit der Melone, nahm die Karte, kniff einen Klemmer auf die Nase und las mir vor wie folgt: »Eberhard, Graf von Waldelfingen, Oberst der Reserve, Ritter vieler Orden, pe – pe –«

»Es ist gut«, sagte ich, »geben Sie dem Herrn sein Eigentum zurück.«

Der Ober legte die Karte neben den Kognak vor den Oberst und entfernte sich. Mein Gegenüber lächelte plötzlich: »Ich sehe, Sie sind ein starker Gegner. Sie haben natürlich gleich gemerkt, dass ich mit Ihnen Streit anfangen wollte. Es war mir, weil ich mich über Charlotta geärgert hatte …«

»In der Tat …?« fragte ich höflich. Ich wusste nichts anderes zu bemerken.

Er redete nicht weiter. Er nahm seinen steifen schwarzen Hut ab und sah starr hinein. Er seufzte tief und setzte den Hut neben sich auf die Erde. Der Ober glitt rücklings auf Gummi heran und hing den Hut an den Ständer.

»Denken Sie«, nahm er die Unterhaltung wieder auf, »als ich heute nach Hause komme, liegt diese Karte im Entree.«

Er deutete auf das Kartonblättchen vor sich.

»Ihre Karte«, sage ich.

»Nein, die Karte vom Oberst.«

»Sie sind doch der Oberst, Ritter vieler Orden, pp.«

»Der Oberst stand in meinem Salon.«

»Dann haben Sie mir eine falsche Karte gegeben …?«

»Lassen Sie mich die Sache von Anfang erzählen«, bat er flehend. »Es wird sich alles klären. Zuerst der Hut …«

 

[13]Er sah auf die Erde neben sich: der Hut war nicht da. Er saß erstarrt.

»Der Hut hängt am Garderobenständer hinter Ihnen«, sagte ich freundlich.

»Zum Teufel auch!« rief er, sprang auf, ergriff den Hut, sah hinein und kehrte an meinen Tisch zurück. Er setzte den Hut wieder auf die Erde, sah ihn zweifelnd an, hob ihn von neuem empor und legte ihn auf seine Knie.

Ich hatte all das mit interessiertem Auge verfolgt. »Auch der Hut ist in die Sache verwickelt?«

»Eingelocht ist er!« rief er dumpf. »Sehen Sie!«

Er wies ihn. Es musste ein teurer Hut sein, eine feine englische Firma stand drin. »Haarhut?« fragte ich.

Er nahm seinen Finger und stieß oben gegen die Höhe der Wölbung. Es war ein dreieckiges Loch durch Haar und Seidenfutter, wie von einem Säbel gestochen, nun öffnete sich’s.

»Der Oberst?« fragte ich voll Teilnahme.

»Derselbe«, antwortete er düster.

»Er stand in Ihrem Salon?«

»Als ich seine Karte las.« Er raffte sich auf. »Ich will es Ihnen von Anfang an erzählen. Charlotta.«

»Ihre Frau Gattin?« erkundigte ich mich.

»Nein, seine.«

»Des Obersten?«

»Richtig. Also Charlotta rief mich heute früh an. Was sie eigentlich wollte, verstand ich …«

»Halten Sie ein!« rief ich. Er sah mich bestürzt an. »Sie beabsichtigen, eine Geschichte zu erzählen?, Ein Erlebnis?«

»Ein schmerzliches«, sagte er voll Wehmut.

»Das geht nicht«, sprach ich entschlossen. »Ich ließ mich [14]mit Ihnen nur ein, mich in witzigem, überraschendem, schlagfertigem Dialog zu üben. Für Erzählungen bin ich leider nicht zuständig. Ober, bitte zahlen!«

»Aber ich versichere Sie, es würde Sie namenlos interessieren!«

»Können Sie es in Dialogform erzählen? Mit verteilten Rollen?«

»Nein«, sagte er traurig.

»So bedauere ich ungemein«, sprach ich und verschwand.

Witziger, überraschender, schlagfertiger Dialog, wie ihn alle Leute in allen Zeitungen schreiben, ist furchtbar langweilig.

[15]Stimme aus den Gefängnissen

Ich habe vor kurzem nahezu fünf Monate Gefängnis in einer mittleren Strafanstalt Deutschlands verbüßt. Dabei habe ich eine Reihe von Beobachtungen gemacht, deren Mitteilung vielleicht nicht allein von dem Gesichtspunkt aus, dass jeder jeden Tag in Untersuchungshaft oder Strafhaft geraten kann, interessant erscheint. (Für Heuchler, die sich diese Gefahr leugnen, schreibe ich nicht.) Ich fühle mich ein wenig wie ein Reisender, der aus einem unbekannten Weltteil zurückgekehrt ist. Ich bin dort gewesen, wo die Seele seltsame Veränderungen erleidet oder, nach längerer Haft, schon erlitten hat, jene Veränderungen eben, die dem »Gebildeten« den »Gewohnheitsverbrecher« unverständlich machen. Den Verbrecher, der stiehlt, wie ein anderer arbeitet, ohne Erregung, selbstverständlich, wird man in der Literatur nicht finden. Er ist noch nicht entdeckt. Die Frage, ob er geworden ist oder von je so war, ist noch unentschieden.

Das Publikum beschäftigt sich kaum mit dieser Frage, es überlässt sie den Fachgelehrten: den Juristen und allenfalls noch den Psychiatern. Der Theologe, der sie auch für sein Arbeitsgebiet hält, geht von der sentimentalen Seite an die Sache heran, er spricht vom »Standpunkt des Lebens«, das »gerettet« werden muss. In seiner Ahnungslosigkeit für Seelisches wird er nie verstehen, dass solche Rettung unmöglich ist: psychische Veränderungen lassen sich nicht rückgängig machen, wie auf physischem Gebiete kein Arzt einem Arm, den ein Zahngetriebe verkrüppelte, seinen früheren Zustand zurückgeben kann. Man soll Schutzvorrichtungen am Getriebe anbringen, da liegt es.

[16]Ich bemerke noch, dass sich meine Beobachtungen und Angaben auf eine Strafanstalt mit einer Belegungsfähigkeit von etwa 130 Mann beziehen, in der im Allgemeinen nur Strafen bis zu einem Jahr vollstreckt wurden. Straf-, Haft- und Untersuchungsgefangene waren nicht in voneinander abgeschlossenen Abteilungen untergebracht.

1

Der Untersuchungsgefangene ist ein Gefangener, dessen Schuld erst bewiesen werden soll, bis zum Termin noch zweifelhaft ist. Die Haft soll ihn an der Flucht, an einer Verdunkelung des Tatbestandes hindern. Man sollte danach annehmen, dass solch, in der Gefängnissprache kürzer gesagt, Untersucher, außer der Beschränkung seiner Freiheit jedes nur mögliche Entgegenkommen findet, denn seine Haft ist ja immerhin möglicherweise unverdient.

Ich beweise: dem Untersucher geht es schlechter als dem Strafgefangenen!

Der Untersucher liegt fast stets auf Einzelzelle. Er sitzt Monate und Monate allein, mit keinem Menschen kann er ein Wort wechseln. Früh morgens wird er aus seiner Zelle gelassen und darf eine halbe Stunde in streng vorgeschriebenem Abstande von Vor- und Hintermann im Freihof spazieren gehen. Zwei Beamte passen dabei scharf auf, dass nicht ein Wort gewechselt wird. Wagt es jemand, wird er abgeführt und streng bestraft. Will der Untersucher arbeiten, so kann er auf seiner Zelle Taue mit den Fingern zu Werg zerzupfen, die tötendste, langweiligste Arbeit, die es gibt. Darf der Untersucher rauchen? Jawohl, Erlaubnis kann [17]ihm erteilt werden, ich habe aber nur in zwei Fällen erlebt, dass sie erteilt wurde. Wenn er Geld hat, darf er sich Lebensmittel besorgen lassen, aber welche Schwierigkeiten werden ihm dabei bereitet! Wie oft muss er erinnern, wie lange warten! Vor allem aber: Männer, von denen sich doch mancher unschuldig glaubt, müssen um jede Kleinigkeiten bitten, bitten, bitten, die ihnen ohne weiteres gewährt werden müsste.

Der Strafgefangene ist dagegen den ganzen Tag mit seinen Gefährten zusammen, er arbeitet draußen in der frischen Luft auf dem Holzhof, in Gärtnereien, auf Gütern, er schwatzt mit den andern, er sieht die Welt: Bäume, Straßen, Menschen. Der Untersucher hat die vier weißen Zellenwände und die blinde Scheibe seines Fensters, er hört das Schlüsselbund klappern, das ist seine Welt. Der Strafgefangene raucht fast täglich, auf den Gütern bekommt er reichlichere Kost, in der Anstalt häufig Zusatzportionen. Der Untersucher kann hungern.

Wenn die Untersuchung wenigstens schnell ginge, beschleunigt würde! Aber dieses endlose Verschleppen gehört zu den größten Unbegreiflichkeiten und Grausamkeiten, die denkbar sind. Es vergehen Wochen und Wochen von einer Vernehmung zur andern, Monate geschieht nichts, der Gefangene muss warten. Nur warten. Ich weiß schon: Sicher geschehen unterdes ungeheure Dinge mit den Akten, sie werden von Prenzlau nach Potsdam geschickt. Eine kommissarische Vernehmung. Frist bis da und da. Frist überschritten. Anmahnen. Der Gefangene wartet.

Der Strafgefangene weiß, den und den Tag werde ich frei sein, der Untersuchungsgefangene grübelt: Wer weiß? Er wartet.

[18]Mich selbst hat ein gnädiges Geschick vor der Untersuchungshaft bewahrt, aber wenn ich an manchen mir bekannten Untersucher denke, der nun schon im zehnten oder elften Monat seiner Haft lebt, packt mich eine grenzenlose Erbitterung gegen jene Herren Untersuchungsrichter, die vollständig vergessen zu haben scheinen, dass es Menschen sind, die dort warten, verzweifelnd und verzagend warten. Genügt es denn nicht, dass er pünktlich seinen Haftverlängerungsbescheid bekommt, der ihm mitteilt, wieviel Wochen er vorläufig weiter warten darf? Der Untersuchungsrichter denkt, es genügt.

Dann tritt das ein, was man in der Gefängnissprache »Spinnen« heißt: »X fängt an zu spinnen.« Beim Vorbeigehen hört man ihn reden in seiner Zelle, restlos, immerzu, nur um seine Stimme zu hören, er weint dazwischen, er bekommt Wutausbrüche. Der Gefangene wird verwarnt, er wird vorsichtig behandelt. Eines Tages ist er dann stumm geworden. Er spricht nicht mehr, er liest nicht einmal mehr sein eines Bibliotheksbuch in der Woche. Oft weigert er sich sogar, zur Freistunde zu gehen, er stellt seine Arbeit ein. Nun sitzt er allein oben in seiner Zelle, monatelang. Was tut er? Was denkt er?

Es geschah, dass ein Untersucher, der so zehn Monate in Einzelzelle gelegen hatte, in eine neu eingerichtete Gemeinschaftszelle für Untersuchungsgefangene verlegt wurde. Man glaubte, er würde glücklich sein. Er flehte, in seine Zelle zurückzudürfen. Er konnte die Gesichter der Menschen nicht mehr ertragen, ihr Sprechen nicht, nicht ihren Geruch. Wird er je wieder »draußen« unter anderen Menschen leben können? Welche Veränderungen sind in ihm vorgegangen!

[19]Jeder kann jeden Tag verhaftet werden. Aller Sache ist es, von der ich schreibe, nicht die einzelner, fremder Menschen. In den Gefängnissen die Leute sind nicht anders wie du, sie leiden wie du, sie möchten leben wie du. All dies hat, so umgrenzt, gar nichts mit den großen Worten wie Gerechtigkeit zu tun. Es ist eine rein praktische Frage, die jeden angeht.

2

Doch auch das Leben des Strafgegangenen ist schwer und dunkel genug. Gewiss, es gibt eine kleine Gruppe, die sich wohl fühlt, für die Strafe überhaupt keine Strafe ist. Es sind das in der Hauptsache junge Burschen vom Lande mit wenig entwickelter Intelligenz und geringem Trieb zum andern Geschlecht, ihre ganze Sorge konzentriert sich darauf, dass sie auch genug zu essen bekommen.

Zu ihnen treten die Walzenbrüder, die meist wegen Bettelei ihre sechs Wochen »abreißen«. Sie, die teilweise sehr oft vorbestraft sind (ich lernte einen kennen, der seine 43. oder 44. Strafe verbüßte), stehen der Strafhaft mit heiterer oder brummiger Gelassenheit, jedenfalls mit Gelassenheit gegenüber. Für ihre Einstellung scheint mir eine Frage kennzeichnend, die der eben erwähnte Rekord-Vorbestrafte an einen Untersucher, einen halb verzweifelnden älteren Beamten richtete: »Na, du bist wohl auch ein bisschen zur Erholung hier?« Das war kein Witz, ihm war es ernst mit dieser Frage. Für den Stromer ist das Gefängnis eine Erholung.

Aber das ist die Minderzahl, die andern leiden schwer genug. Und auch hier machen, wie bei den [20]Untersuchungsgefangenen, sinnlose, gedankenlose Grausamkeiten des Reglements das Schwere unnötig schwerer.

Warum darf ein Strafgefangener nur alle vier Wochen einen Brief absenden und empfangen? Ausnahmen sind statthaft, müssen aber in jedem einzelnen Fall erbeten werden, ihre Bewilligung ist ungewiss.

Warum darf er nur ein Bibliotheksbuch in der Woche bekommen? Gewiss, er soll arbeiten, aber, wenn er seine Arbeit getan hat, warum soll er da nicht lesen dürfen? Da sitzt er nun mit einem Kriegsecho, einem Roman von der Mahler oder gar einem jener elenden Traktätchen, die ein völlig verlogenes Hirn geschrieben haben muss, und liest es nun zum dritten Mal Wort für Wort, Satz für Satz, Seite für Seite – muss sein Hirn da nicht revoltieren?

Die lyrischen Dichter haben Unrecht: Kein Gefangener in einer preußischen Strafanstalt darf, das Gesicht gegen die Stäbe seines Gitters gepresst, dem Zuge der Wolken nachschauen oder sein Herz an Baumwipfeln erfreuen. Das Reglement verbietet das. Zum ersten ist sein Fenster aus geripptem, milchigem Glase, durch das kein Gegensand zu unterscheiden ist, dann aber darf er gar nicht auf sein Bett klettern und oben durch den freien Raum des Klappfensters spähen. Das wird streng bestraft. Ich habe selbst erlebt, dass ein Gefangener für diese Sünde mit drei Tagen schweren Arrests belegt wurde. Fluchtversuche werden mit schwerem Arrest bestraft. Die Beschädigung von Bibliotheksbüchern wird mit schwerem Arrest bestraft. Unbegründete Beschwerden werden mit schwerem Arrest bestraft.

Was schwerer Arrest ist? Eine Zelle im Keller, 1,80 m lang und breit, der meiste Raum wird von einer [21]Holzpritsche eingenommen. Wasser und Brot. Keine Bewegungsmöglichkeit. Keine Wärme. Am zweiten bis dritten Tag hat sich der Gefangene schon wund gelegen, das Frostgefühl verlässt ihn nicht mehr.

Strafe? Ja, Strafe, er hat ja aus dem Fenster gesehen.

Hier scheint das Missverhältnis so groß, dass ich beim Schreiben zögere. Sätze fallen mir ein, die ich von Beamten gehört habe: »Frieren sollt ihr ja.« – »Es soll ja eine Strafe sein.« – »Es soll ja schwer sein.«

Ich verstehe nichts mehr.

Wie ist das eigentlich? Jemand wirft in der Betrunkenheit ein paar Scheiben ein und prügelt eine Frau: neun Monate Gefängnis. Jemand schlägt aus Eifersucht seine Liebste tot: acht Jahre Zuchthaus. Jemand bittet einen anderen um zehn Pfennige: sechs Wochen Gefängnis.

Ich werde eifrig, ich beginne zu rechnen: Sechs Birnen weniger sechs Äpfel, was macht es? Ah, ich beginne zu begreifen, Strafe, Bestrafung, das ist etwas Überliefertes, etwas, von dem längst der Sinn verloren ging. In der Kirche singen sie ja auch Lieder und sagen Gebete auf, ohne dass sie sich etwas dabei denken: Der Sinn ist verloren gegangen, die Einrichtung besteht noch.

 

Wer denkt an Sühne, Reue, Buße? Wird es gut, bist du wieder der Alte, wenn du nach neun Monaten frei wirst? Gar nicht.

Heute ist es so, dass es gewisse Spielregeln gibt. Man kann sie außer Acht lassen, dann muss man bezahlen mit acht Jahren oder neun Monaten, je nachdem. Fünf Mark sind auch nicht das Buch, das du dafür kaufen willst, Geld und Buch sind etwas ganz Verschiedenes, aber unter gewissen Umständen sind fünf Mark eben doch das Buch.

[22]Eine der ersten Fragen, die der Strafgefangene an den Ankömmling richtet, lautet: »Hast du auch etwas davon gehabt?« Er will wissen, ob du deine Ware fürs Geld bekommen hast, denn er hat gelernt, dass man auch unwissentlich die Spielregeln verletzen kann. Doch nur von der wissentlichen Verletzung hat man etwas. Er grinst über das Gerede von Strafe, Reue, Besserung. Das ist es ja gar nicht. Und er hat sicher recht. Man gibt Geld für das Buch, man gibt Lebenszeit für die Tat. Alles andere ist unwahres Gerede, diese kalte, klare Tatsache zu umnebeln.

Darüber sei man sich klar. Und ist man so ehrlich, so grenze man auch den Begriff Strafe reinlich ab. Sie ist eine Freiheitsberaubung mit Arbeitszwang. Alles andere lasse man fort. Was soll das, dass der Gefangene keine Briefe schreiben soll? Er soll keine Ablenkung haben, zur Besinnung kommen, Reue verspüren? Glaubt man, dass ausgerechnet der Gefangene dazu da ist, das Rätsel von Gut und Böse zu lösen oder von der Willensfreiheit des Menschen?

Das ist alles Unsinn. Auch hier Reinlichkeit. Dies und dies ist deine Strafe, sonst nichts, damit ist es gut. (Damit ist es noch lange nicht gut.)

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