Warnung vor Büchern. Erzählungen und Berichte

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Professor Delbrück sagte sehr richtig zum Schlusse seiner Ausführungen, dass, je größer die Schwierigkeiten des einzelnen bei der Durchführung seiner Abstinenz sind, um so größer aber auch die Wirkungen dieser Abstinenz werden.

Wenn ich das bisher Berichtete in wenigen Worten zusammenfassen darf, so stellt sich die augenblickliche Situation so dar: Ein ständig steigender Alkoholverbrauch findet infolge der rührigen Propaganda des Braukapitals keinerlei Bedenken im Deutschen Volke. Der Guttemplerorden ist von der Öffentlichkeit auf ein Teilgebiet seiner Bestrebungen, die Trinkerrettung, zurückgedrängt, seine Kampfkraft und seine Werbefähigkeit ist gesunken.

Es ist notwendig, dass er in Zukunft in erster Linie der Verhütung von Alkoholschäden seine ernste Aufmerksamkeit schenken muss, damit vor allem auch der Jugendbewegung. Er darf aber keinesfalls den ihm vom Alkoholkapital [60]angebotenen verlogenen Kampf um die Prohibition annehmen, denn für dieses Verbot ist das deutsche Volk noch nicht reif.

Seine Waffen müssen Belehrung und freiwilliger Verzicht sein. Den Weg, den diese Sätze dem Orden weisen, kann und muss jedes Ordensmitglied gehen, es begnüge sich in Zukunft nicht damit, Trinker und Gefährdete dem Orden zur Rettung zuzuführen, sondern jeder wirke im eigenen Kreise, dass alle Lauen und Gleichgiltigen davon überzeugt werden, dass die Abstinenz nicht ein Steckenpferd von ein paar Eigenbrödlern ist, sondern eine, nein, die Lebensfrage des deutschen Volkes.

[61]Die Verkäuferin auf der Kippe

Fräulein! Ja, Fräulein! Hansa 8576 bitte. 8576, ja doch! Könnte ich wohl Frau Eschwege sprechen? Selbst? Tag, Trudel. Bist du allein? Dein Chef ist zum Mittag –? Na also!

Nein, ich rufe vom Automaten. Ich musste dich durchaus gleich sprechen. Also, Trudel, vor allen Dingen, wenn der Hans heute zu euch kommt, erzähl ihm, ich war gestern Abend bei euch. Sag’s auch deinem Mann, dass er sich nicht verquatscht.

Was? War schon da? Gestern Abend? Und du konntest gar nicht schwindeln? Ach, Trudel, Trudel, wie ich das finde! Ich zittere am ganzen Leibe. Erzähle doch bloß. Jedes Wort muss man dir …

Blass ist er gewesen? Aufgeregt? Kunststück! Ich bin auch aufgeregt. Ob er Verdacht hat? Dir hat er kein Wort gesagt?

Natürlich hat er Verdacht. Er hat mich doch neulich mit Max aus dem Café kommen sehen. Ich hab’ ihm vorgeschwindelt, es wär’ ein Vetter auf der Durchreise gewesen. Aber geglaubt hat er’s nicht, ich hab’s ihm gleich angemerkt. Wenn ein Mann schon rücksichtsvoll wird und beim Sprechen ’nen Rührungskloß in der Kehle hat, steht’s allemal flau.

Gott, Trudel, ich hab’ auch immer Pech. Du kannst sicher sein, die Verlobung mit Hans fliegt auch wieder auf. Die Eltern …

Ich soll solide sein? Du hast gut reden. Du hast deinen Oskar und ’nen Trauschein. Wenn du mal einen Seitensprung machst … Ich – für uns Mädel sorgt keiner. Was mache ich denn mit den 90 Mark, die Bremer im Monat [62]gibt? 45 Mark kriegt Mutter und die Abzüge für Krankenkasse un so, es bleiben keine 20 Mark für Kleidung und Schuhe und Ausgehen. Und das ewige Haarschneiden und Nackenrasieren und Ondulieren. Ja, man will sich doch auch nicht ausstechen lassen!

Bei Karstadt ist ein fabelhaftes Crêpesatinkleid, gar nicht teuer, 59 Mark, aber wie soll unsereins dazu kommen? Es ist ein Jammer. Und so gerne ich den Max habe, auf die Dauer wird’s ja mit dem Jungen auch nichts, wenn er mal in der Bar 10 Mark ausgegeben hat, ich bin sicher, er schiebt die ganze Woche Kohldampf.

Ich soll mich mit Hans aussöhnen? Ach was, daraus wird nichts. Der mit seinem ewigen Misstrauen! Eigentlich bin ich ganz froh, dass es so gekommen ist. Noch vier, fünf Jahre verlobt sein und dann Kammer und Küche oder bei den Schwiegereltern wohnen, man kommt nicht raus aus der Vormundschaft.

Neulich habe ich die Minna Lenz getroffen. Du weißt doch! Wir nannten sie auf der Schule immer den Ölgötzen, weil sie so doof war. Jetzt heißt sie Mia! Und einen Blaufuchs trägt das Geschöpf, ich bin fast geplatzt vor Neid. Die hat’s raus. 90 Mark im Monat, ich hab’ es ihr gar nicht sagen mögen, ich hab’ mich so geschämt vor ihr in meinem Konfektionsfähnchen. Die verdient manchmal an einem Abend mehr.

Ich soll mich was schämen? Schmutzgeld? Dass ich nicht lache! Wenn Mia nachher Auto fährt, riecht keiner, woher das Geld stammt. Und einen Mann kriegt sie auch noch, wenn sie zur rechten Zeit aufpasst. Es gibt immer welche, die grade auf so eine fliegen, und es braucht gar nicht immer ein alter Daddi zu sein.

[63]Was du redest! Sie geht gar nicht auf die Straße. Sie ist Tanzdame auf der Freiheit. Erstklassiges Lokal. Ich hab’ neulich mit dem Max davor gestanden, aber wir konnten’s uns nicht leisten. Sie hat nur mit den Herren zu tanzen und an ihrem Tisch mitzutrinken. Davon hat sie keine 90 Mark am Abend? Sie kriegt doch Prozente vom Wein!

Und wenn schon! Sie kann sich doch aussuchen! Die geht lange nicht mit jedem. Sie hat mir gesagt, ich soll mal hinkommen und es mir ansehen. Ich weiß noch nicht, aber vielleicht gehe ich mal hin. Ihr Chef stellt mich jeden Tag ein, sagt sie.

Gott, Fräulein, unterbrechen Sie doch nicht immer! Nein, wir sind noch nicht fertig. Der wird auch warten können mit seinen Trikotagen.

Bist du noch da, Trudel? Ein Kunde wollte euch. Na, der kommt auch noch früh genug zu seinen Netzhemden!

Sag mir nur, was mache ich heut Abend bloß mit dem Hans? Das gibt eine schreckliche Szene. Und ich hasse Szenen. Gewalttätig? Das wollte ich ihm nicht raten! Nee, Hans ist schlapp. Der heult höchstens. Natürlich tut er mir leid, aber was soll ich dabei machen?

Wenn er zu Vater läuft, der ist imstande und verhaut mich. Vater hat keine Ahnung von uns Mädels heute, das muss doch alles so sein wie auf seiner Landstelle in Mecklenburg. Hätt’ er doch besser aufgepasst in der Inflation, dann müsste ich heute nicht für 90 Mark …

Mutter hilft mir ja, aber wenn Vater mich schlägt, lauf ich fort. Ich darf doch zu dir kommen? Auf der Chaiselounge. Warum soll ich mich schämen? Dein Mann? Ach, dein Mann hat nichts zu melden, den kriegen wir schon rum.

[64]Was ich nun eigentlich will? Max? Hans? Oder –? Ja, Trudel, ich weiß es doch selbst nicht, wie soll ich denn das wissen? Ich warte eben ab, was heute Abend passiert. Und kommt gar keiner, gehe ich zu dir. Oder auch mal zur Freiheit, Ansehen kostet ja nichts.

Nee, nur das nicht. Ewig warten und hinter dem Ladentisch stehen. Und die andern tanzen und fahren dicke im Auto? Das habe ich nicht nötig. Na, wir werden ja sehen.

Also schön, Fräulein, wir machen jetzt Schluss.

Und sieh dir das Crêpesatinkleid an. Goldig, sage ich dir. Diese Woche kriege ich’s noch, wetten? Trudel! Trudel!!

Schon weg. Na, denn nicht. Verkaufen wir also wieder Trikotagen. –

[65]Rache einer Hamburgerin

Ich habe Tredup, Wilhelm Tredup, seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen. Gestern traf ich ihn wieder, im D-Zug Travemünde – Hamburg. Ich hätte ihn nie erkannt, er aber rief mich sofort beim Namen, half meinem schlechten Gedächtnis nach und ein paar Minuten später schwelgten wir schon in den schönsten Jugenderinnerungen.

Was hat sich in den letzten zwanzig Jahren nicht alles ereignet – heimlich mustere ich Tredup von der Seite: Was wohl aus ihm geworden ist, was er wohl heute ist? Eigentlich sieht er ein bisschen bequem geworden, salopp aus – und er war doch der Geck des Christianeums. Und sein Braun macht einen so bauerhaften Eindruck, das ist sicher nicht das Braun von vier Wochen Travemünde oder Niendorf.

In einer gedankentiefen Pause – wir haben gerade den griechischen Pauker durch – frage ich beiläufig: »Sag einmal, bist du nun wirklich Exportkaufmann geworden, wie du wolltest?«

Er ist sichtlich gekränkt: »Exportkaufmann? Hab ich nie gewollt! Offizier wollte ich doch werden!«

»Und du bist Offizier geworden?«, frage ich weiter.

»Ja – nein – es ging schief …«

Er versinkt in Erinnerungen. Ich habe auf einen kranken Nerv getippt und lenke ab: »Übrigens, siehst du brillant aus. Warst du in Niendorf?«

»Ich kann dir die Geschichte erzählen. Sie ist –«, er lächelte mühsam, »– ganz nett. Ich wollte Offizier werden und ich wurde es, so sehr der alte Herr vom Burstah schimpfte. Ich war bei den Wandsbeker Husaren und [66]bekannt im ganzen Nest. Auch bei den Mädchen, gerade bei den Mädchen. Nun war da eine angehende Lehrerin, Hamburgerin … Die Hamburgerinnen, sage ich dir, wir erzählen immer von Sizilien und den Spanierinnen, von der Rachsucht der Weiber dort, nun, meine Mieke, ich sage dir, die hat mich ruiniert …«

Er sah nicht sehr ruiniert aus. Ich sagte es ihm.

»Doch! Doch! Ich werde es dir erzählen. Also es kam, wie es kommen musste … Heiße Liebe, ich weiß wirklich nicht mehr, was ich ihr alles erzählt habe. Kurz und gut, eines Tages habe ich die Sache über, schreibe ihr das Übliche von den Leuten, die schon reden, von ihrem guten Ruf, es müsste aus sein.«

»Und sie?«

»Ja, siehst du, sie. Ich habe mancherlei Mädel erlebt, die einen toben, die andern schweigen, die dritten betteln. Sie schrieb mir kühl und ruhig, wenn es aus sein sollte, müsste es ganz aus sein. Donnerstag, Nachmittag 4 Uhr, würde sie bei mir in der Lindenstraße sein und mich erschießen. Ich überlege mir die Sache hin und her. Der Kampf mit einem aufgeregten Frauenzimmer um einen geladenen entsicherten Revolver ist eine heikle Sache. Der Schuss kann losgehen. Sie vielleicht verletzt, Skandal, Gerichtsverfahren. – Endlich gebe ich der Polizei einen Wink.«

 

»Das Klügste, was du tun konntest.«

»Du bist genauso ein Idiot wie ich! (Er war schon wieder im Ton der Penne.) Das Dümmste. – Donnerstagnachmittag 4 Uhr kommt sie die Treppe herauf, bleich, entschlossen. Ich machte ihr auf. Gleich im Vorplatz fassen sie zwei Schutzleute, sie wehrt sich wild, wird untersucht. Sie hat überhaupt keinen Revolver. Hat mich geblufft. – Ich war [67]blamiert. Die Geschichte, gerade gegenüber der Kaserne passiert, spricht sich rum, ich bekomme einen Wink von oben, Feigheit und so, du verstehst schon. Das Ergebnis: schlichter Abschied.«

Er sah trübe vor sich hin. »Traurig«, bemerke ich höflich. »Aber dass gerade die Rachsucht der Hamburgerin schuld sein soll …«

»Höre weiter«, sagte er, »meine Geschichte ist noch nicht zu Ende. In Deutschland war ich natürlich unmöglich, mein Alter verfrachtet mich nach Südwest auf Export. Ich bin da ein Jahr, ungestört, fange wieder an, aufzuleben, da läuft mir in Swakopmund eine Schwester über den Weg: Mieke. Der Blick, der mich von der Seite traf – ich wusste Bescheid. Und richtig, eine Woche später, nach dem Frühstück, bekomme ich Erbrechen, bin sterbenskrank. Der Arzt wird geholt: Vergiftung. Täter unbekannt. Ich erhole mich wieder. Da erfahre ich, dass Mieke in einer Farm, zehn Minuten ab, Wochenpflege verrichtet. Der Zusammenhang war klar.«

»Na, erlaube mal«, bemerke ich.

»Höre weiter. Seitdem ging alles schief. Ich konnte nicht mehr schlafen gehen, ohne mein ganzes Zimmer umgedreht zu haben, ewig waren da Schlangen, Skorpione … mit der ganzen schwarzen, braunen und gelben Bande steckte sie unter einer Decke. Keine Stunde war ich meines Lebens sicher. – Dann kam der Krieg. Ich ging auf Patrouille gegen die Engländer. Wollte aus der Nähe dieses Weibes. Wir werden entdeckt, verfolgt, zerstreuen uns, fliehend, im Dornbusch. Eine ganze Horde Hereros ist auf meiner Spur. Ich fliehe in ein alleinstehendes Farmhaus, wo ich auf Hilfe hoffte. Alles leer und verlassen. Die Hereros auf [68]meiner Ferse. Ich verstecke mich hinter einer Schranktür. Die Hereros brechen ins Zimmer, suchen nach mir. Ich halte den Atem an. Plötzlich berührt etwas Kaltes meine Stirn. Ich erschauere, drehe mich zur Seite. Im Halbdämmern sehe ich neben mir Mieke, sie hat einen Revolver auf meine Schläfe gesetzt. Vor mir die tobenden Hereros, Miekes Revolver auf der Stirn: mir schwindelt, meine Sinne schwinden …«

»Und –? Und –?«, dränge ich.

»Wir haben jetzt ein gutgehendes Geschäft«, sagte er trocken. »Ich habe sie natürlich geheiratet

[69]Eine vom Mädchenklub

Änne Eich, 28 Jahre alt, in der »Statistik« bei Katz und Kitz, gehört dem Mädchenklub »Stern ohne Herrn« an. Jeden Mittwochabend tagt der Klub dieser Sitzengebliebenen, und jede Mittwochnacht macht Änne von Barmbeck nach Horn den Heimweg.

Alleingehende Mädchen der Großstadt sind es gewohnt, von alleingehenden Herren angesprochen zu werden, sie nehmen das nicht tragisch. Die Arten zu reagieren sind verschieden, Änne reagiert überhaupt nicht, sieht nicht, hört nicht, geht im gleichen Schritt weiter.

In der Ritterstraße um 1 Uhr erreicht sie diesmal ihr Schicksal: Ein Schlapphut quasselt sie an mit dem üblichen: »Na, so allein unterwegs? Fürchten Sie sich denn gar nicht? Begleitung gefällig?«

Aenne reagiert nicht.

Der Schlapphut ist hartnäckig, er bleibt neben ihr, redet ununterbrochen weiter, Änne reagiert nicht. Von der Marienthaler- bis zur Mittelstraße ist er schon neben ihr, macht liebenswürdige Konversation und bleibt Luft.

Plötzlich bricht er in den wütenden Aufschrei aus: »Oh, du verfluchte Gans, kannst du denn gar nicht hören!?«, macht kehrt und stürmt den Weg, den er gekommen, zurück.

Änne ist so verblüfft, dass sie ihre Taktik vergisst, stehen bleibt und ihm sprachlos nachstarrt.

Eine Woche später ist das Renkontre längst vergessen und Änne wieder auf dem Heimweg. In der Ritterstraße spricht sie ein Schlapphut an, mit denselben Worten, mit derselben Hartnäckigkeit, derselben liebenswürdigen Konversation.

[70]Änne bleibt ihrer Taktik getreu, amüsiert sich aber königlich, dass er sie nicht wiedererkennt. Wieder an der Mittelstraße derselbe Ausbruch mit der Variation: »Oh, du verdammtes Kamel, kannst du denn gar nicht Piep sagen?«

Er stürmt zu rasch davon, sonst hätte sie diesmal Piep gesagt.

Seitdem ist es um Änne Eich geschehen; zu jeder Nachtstunde irrt sie durch die Ritterstraße, ihn wiederzusehen. Sie sehnt sich danach – ihm ihre Meinung zu sagen.

Sie hat ihn nie wiedergesehen. Und ist redlich unglücklich.

[71]Wer kann da Richter sein?

Nun wird sich ja wohl über kurz oder lang in Berlin jener Prozess abspielen, in dem eine Tochter gegen ihren Vater wegen Körperverletzung, denke ich, klagen wird. Man erinnert sich gut: Zwei Töchter des Kommunalbeamten Weber gingen mit einer Freundin ins Wasser, ersäuften sich, weil ihnen das Leben untragbar, schmutzig hässlich geworden schien. Die dritte der Schwestern, unsäglich erschüttert, will gegen den Vater vortreten, der die Schuld an diesen vertanenen Leben tragen soll.

Manchmal, wenn ich nicht einschlafen kann, spiele ich mir diesen Prozess vor, mit fingierten Personen, ohne Detailkenntnis, einen Dutzendprozess, mir durch die Schwere des Opfers von unzähligen gleichgearteten unterschieden. Leicht, nicht wahr, scheint es zu erraten, welche Beweggründe die Schwester zu ihrem Schritt getrieben: Die tausendmal Gedemütigte, die Stille, die dem Kampf auswich, die von dem Vater, der neuen Mutter wegzog, ein neues Leben für sich zu beginnen, sie musste schrecklich aufhorchen, als die Nachricht von jenem dreifachen Tod sie erreichte. Hatte sie nicht eine Pflicht versäumt? Sie hatte gemeint, nur für sich stille zu sein, nur für sich auszuweichen, nun erwies es sich, dass sie für die Schwestern mit geschwiegen hatte. Nun, wenn sie für sich klagt, klagt sie für die schweigenden Toten, klagt sie gegen den Vater, entsühnt die Schwestern, entschuldet sie.

Mehr im Hintergrunde, eine halbdunkle Gestalt, dieser Vater. Man weiß so wenig von ihm, es liegt so nahe, gegen ihn Partei zu sein. Die Jugend gegen das Alter, drei tote Mädchen gegen einen lebenden Beamten. Was hat er denen [72]getan? Er hat erwachsenen Mädchen eine neue Mutter gegeben, seine Tochter ›liederlich‹ und ›verseucht‹ geschimpft, sie geschlagen.

Nein, hier weiß man nichts, alles dunkel. Alles Vorhergegangene müsste aufgerollt werden und man würde kaum anderes finden als dieses: Scheltworte, Schläge. Irgendeinmal war es dann zu viel. Wer soll da Richter sein? Wer entscheiden, ob gerade aus des Vaters Hand der Tropfen kam, der über den Rand des Gefäßes lief?

Zwar: ein Kriminalbeamter … Kaum wird dieser Mann ein Verehrer der Frauen, ein Freund der Menschen gewesen sein. Dies war sein Schicksal, dass sein Beruf auf ihn abfärben musste. Wer tagaus, tagein sein Leben hindurch, sein ganzes Leben hindurch, Dirnen und Zuhältern, Diebinnen und Einbrechern Fallen stellen, sie einschüchtern, überlisten, erraten muss, wer sein Lebtag im Elend und Verbrechen zu wühlen hat, er wird zu sehr geneigt sein, leichte, auch leichtsinnige, tänzerische Schritte junger Menschen für das zu nehmen, was sie nicht sind, doch sein könnten: Vergehen, Verbrechen, Vorboten dieser beiden.

Auch er hatte gemeint, das Rechte zu tun, einem alle Verachtenden war es nicht gegeben, Halt zu machen in seiner Verachtung vor dem eigenen Kinde.

Doch nun schiebt sich in meinem nächtlichen Schattentheater – man erinnert sich doch, in einer fingierten Welt, mit Durchschnittsfiguren, spiele ich mir eine Dutzendgeschichte ab, man erinnert sich doch? –, nun schiebt sich zwischen die Parteien eine dritte Figur, wächst, wird riesengroß, von ihr wird die Lösung erwartet, muss sie kommen: der Richter.

[73]Alles ist ja so einfach. Da ist ein Amtsgericht mit so und so viel Richtern für so und so viel Bezirke, und der und der Richter ist von Scheines wegen zuständig in dieser Sache, er hat zu entscheiden.

Wenn es auch Nacht ist, der Schlaf noch immer nicht kommt, ins Ungemessene wollen wir darum doch nicht phantasieren.

Keine Furcht! Wir wissen zu gut, derartig unwägbare Dinge sind erst recht in keinem Prozess zu wägen, es ist auch gar nicht Sache eines Prozesses, sie zu wägen. Der Richter hat festzustellen, ob eine Körperverletzung stattgefunden hat oder nicht, das ist alles.

Nein, die Klägerin wird wohl doch nur für sich handeln, nie für die toten beiden Schwestern. Nein.

Aber etwas anderes ereignet sich nun, ein grotesker Gedanke kommt mir, nach so viel Schwulst etwas sehr Triviales: ein Bedenken. Ja, sage ich in mir, wird man denn, kann ich denn dieser Tochter völlig glauben? Der Vater hat ihr Liederlichkeit vorgeworfen, sie wird also einen Liebhaber haben, sie ist nicht verheiratet, davon ist nichts bekannt, also –? Sie ist mündig, zweifelsohne, den Vater ging das eigentlich nichts mehr an, sicher, aber schließlich ist er doch der Vater. Das kann man am Ende verstehen, so ein Mädchen, gestern war sie unmündig, da durfte ich sie noch schlagen, heute ist sie mündig, wenn da die Hand noch einmal ausrutscht …

Sie ist unsittlich, und wer unsittlich ist, der lügt auch. Ihre Glaubhaftigkeit ist vermindert, ihre Angaben sind mit Vorsicht aufzunehmen, sie will sich entlasten.

Nun spricht wieder etwas anderes: Manches Jahr ist es schon her, dass Alfons Kerr sagte, die Zeiten des [74]geschlechtlichen Alleinbesitzes gingen vorüber, seien beinahe schon vorbei, es mehrten sich die Anzeichen … Mancher ist seiner Ansicht geworden. Aber hundert Jahre dauert das noch, bis es anerkannt wird, in den Kreis offizieller Betrachtungen einbezogen.

Wir, wir sind noch hundert Jahre zurück. Wir halten immer noch bei der Virginität des jungen Mädchens. Ein Mädchen, das keinen Liebhaber gehabt hat, ist anständig (und glaubwürdig), aber ein Mädel, das einen Liebhaber gehabt hat, ist unanständig (und vermindert glaubwürdig). Wer illegitim besessen worden ist, ist im Wert herabgesetzt.

Alte Geschichten? Uralte! Und doch sehen wir immer wieder und werden es auch diesmal wieder sehen, unsere ganze Umwelt steht auf und schreit: Unsittlich! Recht ist ihr geschehen!

Wer kann da richten –? Einer jener, die auf Moral schwören, täte der Tochter Unrecht, und einer von denen – muss ich der Probabilität halber sagen, die auf Unmoral schwören –? – dem Vater!

Eine Sackgasse, nicht wahr, hier geht es nicht weiter, wenn der Urfall dieses Falls entschieden werden soll, so kann er eben nicht entschieden werden.

Dieser Dutzendfall für alle Fälle. Richter, die wie Kaufleute waren, entrüsten sich über einen, der einen Wechsel unterschreibt, für den noch keine Deckung da ist, der erst aus späteren, immerhin nicht mathematisch sicheren Einnahmen gedeckt werden soll, Richter, die politisch entschieden Partei sind, entscheiden politische Prozesse, Richter, deren künstlerische Bedürfnisse sich nicht über das Ullsteinbuch erheben, urteilen über Kunst. Wie kann das [75]sein? Sind sie keine Menschen? Werden sie nicht ihre Töchter zu verteidigen meinen gegen jene Tochter?

Und: es ist nun einmal nicht anders, für den Richter gibt es eine rein fiktive Welt, eine Welt der festgesetzten Normen, dort ist die Jungfräulichkeit des Mädchens festgesetzt, das normale Schamgefühl urteilt über Kunst und Kredit beansprucht nur, wer Deckung bereits hat. Eine irreale Welt, eine Welt, die nichts, nichts mit dem Leben gemein hat.

Wenn dem aber so ist, warum erregen wir uns so, warum haben wir noch immer nicht gelernt, diese irreale Welt als etwas Gegebenes hinzunehmen? Warum schreien wir nach Gerechtigkeit?

Es sitzt in uns – mit anderen Lügen – von der Kindheit, von der Schule her, dass Recht und Gerechtigkeit sich decken, sich wenigstens decken sollen. Ach, sie decken sich nicht, sie haben nicht einmal etwas miteinander gemein. Wir müssen von unsren ungerechten Ansprüchen ablassen.

Kein Urteil, das gefällt wird, wird endgiltig gefällt. Es kommt eine andere Generation, mit ihr ein anderes Denken. Und jede Generation hat ihre Hexenprozesse gehabt und jede kommende wird sie haben. Doch bleibt zu wünschen, dass der Richter nicht gar zu hartnäckig seine Welt gegen das Leben verteidige. Urteilen, verwerfen ist nichts, verstehen alles.

Doch auch dann noch kann kein Richter gerecht sein und kein Urteil irgend etwas entscheiden.

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