Von Mäusen, Ratten und Priestern

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WOLFGANG MAINKA

Von Mäusen, Ratten und Priestern

Ein fantastischer Krimi aus der Unterwelt

des Würzburger Doms

WOLFGANG MAINKA

VON MÄUSEN, RATTEN UND PRIESTERN

Ein fantastischer Krimi aus der Unterwelt

des Würzburger Doms

mit Illustrationen von Simone Mainka




Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

1. Auflage 2015

© 2015 Echter Verlag GmbH, Würzburg

www.echter-verlag.de Umschlag: Christine Eisner, Würzburg Satz: Hain-Team (www.hain-team.de) Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck ISBN 978-3-429-03778-9 (Print) ISBN 978-3-429-04790-0 (PDF) ISBN 978-3-429-06206-4 (ePub)

INHALT

Sonntag

Ein trügerischer und ungewöhnlich schöner Sonntagmorgen

Vier Herren beim Frühschoppen in der „Himmelsleiter“

Eine etwas andere Sonntagsmesse im Dom

Eine seltsame, nicht eucharistische Wandlung

Eine Mäuseliebe mit Komplikationen

Plunder plant, Millionär zu werden

Montag

Ein später Kirchenbesucher mit unlauteren Absichten

Der eine will Geld, der andere hat keines

Schnur und Stracks ermitteln

Plunder auf Pumptour

Dominik und Liebkind lernen sich beim Tanzen kennen

Cora macht sich sonderbare Gedanken

Dienstag

Frühstück bei Schüsslers oder eine Belohnung mit unerwarteten Folgen

Constanze beruft den Großen Rat ein

Viele Kelche, aber welcher ist der echte?

Der Große Rat

Stresstest mit dem Kelch oder eine unbeabsichtigte Verwandlung

Eine kurze Zusammenkunft des Großen Rates mit überraschendem Ausgang

Crazy Cora

Mittwoch

Besuch bei Bruno und eine Weinprobe in der Sakristei

Bruno trifft sich mit Riffifi in der Gaststätte „Zum Onkel“ und Dominik kehrt zurück in die Sakristei

Anna geht ins Kloster, Bruno und Riffifi im Stresstest

Die drei Weisen schmieden einen Plan, der nicht zur Ausführung kommt

Man trifft sich – mal so, mal so

Donnerstag

Anna und das Stockholm-Syndrom

Ein völlig belangloser Donnerstag ohne große Ereignisse

Vom Exodus zum Holiday-Plan

Auf Amors Pfaden

Freitag

Die Mäuse gehen in die Ferien

Morgenstund hat Kelch im Mund

Die Mäuse sind in den Ferien, nur eine nicht

Ein nächtliches Zusammentreffen mit Folgen

Samstag

Ein hektischer Morgen

Wunder über Wunder

Sonntag

Diesmal ist es ein fast schöner Sonntagmorgen

Wirklich letztes Kapitel


SONNTAG

Ein trügerischer und ungewöhnlich schöner Sonntagmorgen

„O mon Dieu, ist denn schon wieder Sonntagmorgen? Uaaah! Nur fünf Minuten, nur noch fünf Minuten“, piepste es verschlafen aus dem Bett in der Ecke des kleinen Raumes. Bett war eigentlich eine maßlose Untertreibung für den Berg bunter bestickter Kissen, goldener Brokatdecken und kostbarer Stoffe.

Die verschlafene Stimme gehörte zu Dominik, der Dommaus, die hier in der Dom-Sakristei wohnte. Gleich neben dem hinteren rechten Fuß des Sakristeischrankes verbarg sich in der Wand ein Mauseloch. Es war von der Sakristei aus nicht zu sehen, weil es im Schatten des Fußes lag.

Genau auf dieses Loch fiel in diesem Moment das strahlend gelbe Licht vom Heiligenschein des heiligen Sebastian aus der Fensterscheibe der Sakristei, tauchte es in ein warmes Sonnengelb und verwandelte die Behausung der Dommaus in eine Luxussuite, die es mit jedem Palast aus Tausendundeiner Nacht hätte aufnehmen können.

Plötzlich kam Bewegung in den Kissenberg. Ein nacktes Mäusebein schob sich hervor und streckte sich genüsslich. Dann ein zweites Bein. Die fünf Zehen bewegten sich auf und ab wie bei den Fingerübungen eines Pianisten. Und dann tauchte plötzlich aus der Mitte des Berges unter einer langen Zipfelmütze der Kopf eines Mäuserichs auf. Dominik gähnte gewaltig und streckte dabei seine dünnen behaarten Mäuseärmchen in die Luft. Draußen in der Sakristei schlug die Wanduhr neun Mal. Dominik zählte stumm die Schläge. Mit dem letzten Glockenschlag fiel er rücklings in den Kissenberg zurück.

„Verflixt, schon neun Uhr, soooo spät“, rief er aus, mit einem Mal hellwach. Jeden Moment müssten seine Freunde Ronny und Fabian mit dem Frühstück kommen. „Jetzt aber schnell aus den Federn, sonst fällt das Frühstück heute aus!“, spornte er sich selbst an.

Mit einem eleganten Satz hüpfte Dominik aus der Bettenburg und rannte im Nachthemd mit wehender Zipfelmütze hinüber zu seinem Waschkabinett. Auf einem kleinen Podest, einem umgedrehten Altarkerzenstummel, stand ein silberner Fingerhut als Wasserschüssel. Dominik riss sich die Schlafmütze vom Kopf, stemmte beide Arme auf den Rand des Tischchens, schloss die Augen und zählte tapfer „eins, zwei, drei …“. Dann tauchte er blitzschnell seinen runden Kopf dreimal ins Wasser und schüttelte sich. Ein zerzauster Mäusekopf, dem alle Haare abstanden, schaute ihn aus der Spiegelscherbe über dem Waschbecken an.

„Es gibt drei Sachen, an die ich mich nie gewöhnen werde: Weihrauch, Käsefüße, die man nicht essen kann – und die Morgenwäsche!“, knirschte er in den Spiegel. Dann kämmte er sich die Haare, strich sich den Bart lang, warf der Mäusedame auf dem Bild neben dem Spiegel eine Kusshand zu und gönnte sich schließlich ein charmantes Lächeln im Spiegel: „Du siehst gut aus, Sonnyboy! Auf geht’s!“

 

Draußen in der Sakristei wurde die Tür aufgeschlossen und zwei Jungen traten scherzend und lachend herein: Der 15-jährige Ronny und sein um eine Jahr jüngerer Freund Fabian hatten an diesem Tag Ministrantendienst. Ronny, ein schlanker, hoch aufgeschossener blonder Junge mit Sommersprossen, trug über einer verwaschenen Skaterhose ein langes rotes Fußballtrikot des 1. FC Üchtelstücht.

„Hey Ronny, deine Starkicker hatten wohl gestern nicht ihren stärksten Tag“, provozierte Fabian seinen Kumpel, „sonst wären sie nicht so sang- und klanglos untergegangen.“

„Es ist immer das Gleiche mit den Jungs, einmal hopp und einmal topp“, seufzte Ronny und verdrehte dabei die Augen.

Bei Fabian spiegelte sich die Vorliebe für Süßigkeiten aller Art in der Figur wider. Nicht dass er dick war. Nein, er war eher pummelig, so wie die Marshmallows, denen seine Leidenschaft gehörte. Einen ausreichenden Vorrat hatte er stets in seiner dreiviertellangen, weit ausgeschnittenen Jeans. Dazu trug er ein langes Sweatshirt mit den Porträts seiner Lieblingsrapper, der „Phänomenalen Fünf“. Fabian verfasste bei passenden Gelegenheiten auch selbst spontan eigene Texte und trug sie dann mit zuckenden Bewegungen wie ein Tanzbär im Rhythmus des Sprechgesangs vor. Sogleich fiel er in einen Singsang: „Hey, Ronny, alter Fußballschlappen, was ist mit den Bayern los, den laschen Lappen, der eine pennt, der andere fängt Fliegen, und am Ende war’s wieder nichts mit Siegen, uh, ah, uh, uh, ah …“, tönte es mit nicht zu überhörendem Spott. Eine leicht missglückte Pirouette beendete Fabians Tanzeinlage. Dabei flog ein großer rosa Marshmallow aus der Hosentasche auf Ronny zu, der ihn elegant mit dem Fuß in der Luft aufnahm und geschickt auf und ab tanzen ließ. Zum Schluss kickte er den rosa Ball in hohem Bogen über Fabian hinweg, direkt vor Dominiks Mauseloch.

„Wow, was für eine tolle Idee: Marshmallows zum Frühstück!“, ertönte es freudig unterm Sakristeischrank. Dominik hatte sich bereits wie jeden Sonntag sein Ministrantengewand übergeworfen. Es gehörte zur guten alten Tradition der Sakristeimäuse, wie die Ministranten mit einem roten langen Gewand über dem weißen Spitzenhemd an der Sonntagsmesse teilzunehmen. In diesem Moment ergab die rot-weiße Ministrantenmaus mit dem großen rosa Marshmallow farblich harmonisch abgestimmtes Bild.

„Morgen, Dominik“, rief Fabian, „dein Frühstück, mit einem Pass in die Tiefe des Raums serviert, was sagst du jetzt?“ „Ist mir eigentlich gleich, wie ihr mir mein Frühstück serviert, Hauptsache, ihr vergesst mich nicht. Aber für den Marshmallow vielen Dank dem großen Rapper vor dem Herrn.“

Ronny nahm seine Ministrantenkleider aus dem alten Schrank. „Übrigens, ich habe heute vom Frühstückstisch noch ein Stück gekochten Schinken und eine Scheibe Käse für dich abzweigen können. Ich gehe davon aus, dass du nicht darauf verzichten willst“, rief Ronny hinüber zu Dominik und zog sich den roten Umhang über.

„Das kann ich mir auch nicht vorstellen“, spottete Fabian, der sich ebenfalls umkleidete, „wie ich meinen Dominik kenne, öffnet ihm der Marshmallow nur den Magen und macht Appetit auf die weiteren Gänge.“

„Keep cool, Jungs“, beschwichtigte Dominik seine Gönner, „auch Mäusemägen haben nur ein bestimmtes Fassungsvermögen. Und ich glaube, alles auf einmal bekommt mir nicht, zumal ich den Weihrauchgeruch in der Messe nicht vertrage. Das kann böse Folgen haben. Doch hört, kommt da nicht unser Dompfarrer Liebkind in die Sakristei?“

„Die Tür geht auf, ein Bauch kommt rein …“, feixte Ronny.

„… das kann doch nur der Liebkind sein!“, ergänzte Fabian schmunzelnd.

Im selben Moment öffnete sich die Tür zur Sakristei und tatsächlich kam zuerst ein schwarzer Bauch zum Vorschein, dem ein kleiner Geistlicher in schwarzer Soutane folgte. Dompfarrer Liebkind mit seinem runden, stets roten Vollmondgesicht sah aus wie ein Mönch aus einem Spitzweg-Gemälde. Um den nahezu kahlen Kopf wand sich ein Kranz von kleinen weißen Löckchen. Der leicht bläulichen, von roten Äderchen durchzogenen Nase sah man die Leidenschaft für den guten Frankenwein an.

„Dominus vobiscum“ begrüßte der Dompfarrer seine Ministranten auf Lateinisch, was so viel heißt wie „Der Herr sei mit euch“.

„Et cum spiritu tuo!“, antworteten die beiden Jungen: „Und mit deinem Geiste.“

Dabei lächelten sie sich verschmitzt zu. Zu Pfarrer Liebkind hatten die beiden Ministranten ein besonderes Verhältnis, war er doch allzu oft die Zielscheibe ihrer Streiche. Wobei nicht verschwiegen werden sollte, dass Ronny deren geistiger Vater war und Pfarrer Liebkind ein unermesslicher Quell für allerlei Schabernack.

„Meine lieben Ministranten“, begann der Dompfarrer in unverdächtig leiser Tonlage. „Ich hatte bei meiner letzten Lesung in der Messe ein recht sonderbares Erlebnis. Wie ihr wisst, habe ich im Messbuch stets ein Zeichen an der Stelle, wo ich die Lesung aus den Briefen der Apostel an die Gläubigen vorlese. Bei meiner letzten Lesung fand ich aber auf der Seite einen Text, den jemand mit fast gleicher Schrift in das Buch eingefügt hatte, obgleich er nicht von meiner Feder war. Wartet, ich habe die Seite dabei.“

Pfarrer Liebkind kramte in seiner Tasche, ohne die beiden aus den Augen zu lassen, und zog ein zusammengefaltetes Stück Papier hervor, das er langsam öffnete. Dann setzte er die goldene, runde Brille auf und ging ans Fenster, um besser lesen zu können. Ronny und Fabian tauschten Blicke, so als ahnten sie, was nun folgen sollte. „Brief des heiligen Apostels Paulus an seine Pharisäer“, begann der Dompfarrer mit tragender Stimme und schaute dabei seine Ministranten über den Brillenrand hinweg fragend an. Bei denen traten kleine Schweißperlen auf die Stirn und die rot angelaufenen Ohren bildeten einen deutlichen Kontrast zu den blassen Gesichtern.

„Meine lieben Brüder und Schwestern. Als ich das letzte Mal in eurer Mitte weilte, hattet ihr mich auf das Vortrefflichste aufgenommen und mich wie einen von euch bewirtet. Gerne erinnere ich mich dabei an all die vielen Speisen eurer Heimat und die edlen Getränke, die ihr mir beim Festmahl kredenzt habt. Unvergesslich“ – und nun erhob der Pfarrer die Stimme – „sind mir vor allem die köstlichen Bratwürste mit Kraut, die das Mahl eröffneten. Noch heute liegt mir der feine Duft der edlen Würste in der Nase.“ Liebkind senkte die Stimme mit einem Seufzer und fuhr fort: „Und denke ich an das mehrfach aufgekochte Sauerkraut mit seinem Geschmack nach deftigem Speck, so frohlockt mein Bauch in den höchsten Tönen und macht seiner Freude durch …“ – eine kleine Pause setzte ein – „unüberhörbare Blähungen kund. Meine lieben Pharisäer, eure Kenntnis von Gastfreundschaft zeigte sich aber auch in der Auswahl der Getränke. Der ausgeschenkte Silvaner aus dem ‚Teufelskeller‘ in Randersacker ließ mich für eine kurze Weile vergessen, in welchem Auftrag ich zu euch entsandt wurde.“

Liebkinds Stimme wurde hörbar milder und er verdrehte die Augen, als er weiterlas:

„Ich muss gestehen, dass der Geschmack des edlen Tropfens in mir die Versuchung entfachte, mir vorzustellen, dass es sich auch in der Hölle lohnen kann zu verweilen. Daher erhebe ich das Glas und trinke auf euer aller Wohl. Möge der Herr seine segnende Hand über Keller und Küche eures Landes halten und mir oft Grund geben, in eurer Mitte zu weilen. Prost und Mahlzeit! Euer Apostel Paulus.“

Liebkind faltete das Blatt zusammen und sah hinüber zu den Ministranten. Die hatten zwischenzeitlich den ersten Schock überwunden und langsam ihre Fassung wiedergewonnen. Gesicht und Ohren zeigten sich längst wieder in unschuldigem Rosarot.

„Ich gebe zu“, fuhr Liebkind fort, „dass das Verlesen dieser Zeilen bei der versammelten Gemeinde Erstaunen und gelegentliche Heiterkeit auslöste. Das entschuldigt die Missetat jedoch nicht im Geringsten.“ Dabei blickte er den beiden Jungen tief und fest in die Augen, als erwartete er ein sofortiges Geständnis.

„Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, Herr Dompfarrer, wer zu einer solchen Schandtat in der Lage sein kann, oder was meinst du, Fabian?“, sprach Ronny mit sanfter Stimme und einer Unschuldsmiene, die, hätte sie ein Teufelchen aufgesetzt, selbst Petrus am Himmelstor überzeugt hätte, ihm Einlass ins Paradies zu gewähren.

„Genau, Ronny, ich kann es mir nur so erklären, dass ein Übeltäter dies vor langer Zeit geschrieben hat und es schon seit Jahren in dem Messbuch liegt.“

„Wie dem auch sei, ihr betet mir bei eurer nächsten Beichte jeder zusätzlich zwei „Gegrüßet seist du, Maria“ und zwei „Vaterunser“. Das sollt ihr als Fürbitte für die armen verirrten Seelen sehen, die zu solch einer Übeltat fähig sind. Doch nun genug damit. Lasst uns die Messe vorbereiten. Habt ihr schon alle Sachen gerichtet?“

„Ja, Herr Dompfarrer, nur der Messwein fehlt noch, das macht Ihr doch immer selber,“ antwortete Fabian.

„Ach ja, mein Sohn“ entgegnete der Dompfarrer und ein leichtes Lächeln umspielte dabei seinen Mund, „den Messwein dürfen wir nicht vergessen. Er ist unverzichtbar für die Liturgie.“

Liebkind schritt hinüber zum Sakristeischrank, öffnete ihn und bückte sich. Ganz unten standen in langer Reihe die dunkelgrünen Flaschen aus dem Juliusspital-Weingut mit der Aufschrift „Messwein“. Der Dompfarrer entnahm eine Flasche, als aus dem Inneren des Schrankes ein leises Geräusch drang. An der Flasche hatte schlafend eine kleine Maus gelehnt und war nun umgefallen.

„Oh, hundsverreck“, kam es röchelnd aus dem Mäuseschlund, „gibt’s denn in dieser Kirch’ kein einziges ruhiges Plätzchen, wo man seinen seligen Rausch ausschlafen kann?“

Es war Berthold, eine waschechte Würzburger Maus und ein bei allen Würzburger Mäusen bekannter Trunkenbold, der jeden Winkel des Domes und der übrigen Kirchen kannte und dessen Zuhause das Weinfach der Sakristei war. Geleerte Flaschen wurden in dem Schrank offen abgestellt, bis die nächste Bestellung eintraf. Meist fand sich noch ein kleiner Rest darin, der Berthold einen feuchtfröhlichen Abend bescherte. Der Dompfarrer fand es zwar manchmal merkwürdig, dass eine leere Flasche umgestürzt am Boden lag, maß dem jedoch keine größere Bedeutung zu.

Dominik, der Bertholds Stöhnen hörte, sprang in zwei, drei Sätzen unter dem Schrank hervor, als der Dompfarrer mit der Weinflasche hinüber zum Tisch ging, um den Messwein in die Karaffe auf dem Silbertablett zu füllen. Er befürchtete, dass Liebkind Berthold entdecken würde, wenn er die Flasche in den Schrank zurückstellte. Mit einem mächtigen Satz sprang er ins Weinfach und erblickte Berthold, der mit ausgebreiteten Armen und senkrecht in die Luft gestreckten Beinen dalag.

„Hey Berthold, wach auf. Der Pfarrer kommt gleich zurück“, verkündete Dominik mit gedämpfter Stimme. „Wenn er dich hier sieht, ist es aus mit der Herrlichkeit. Dann kannst du deine private Weinstube für immer vergessen. Komm, lass uns von hier verschwinden!“

Dominik rüttelte an Bertholds Armen und versuchte, ihn wach zu bekommen.

„Mensch, Dominik, alter Spezi, wie wär’s mit einem kleinen Frühschoppen? Oh Gott, ist das hell hier. Sag nichts, wir sind im Himmel!“

„Es ist Sonntagmorgen, du bist noch nicht im Himmel und der Dompfarrer füllt gerade den Messwein ein. Er kommt gleich zurück!“, drängte Dominik den verschlafenen Zecher.

„Dann nichts wie weg! Vielleicht ist hinten im Schrank noch eine Flasche mit einem Rest Wein umgefallen! Den machen wir alle, nicht wahr?“

Im hinteren Teil des Schrankes hatte es sich Berthold gemütlich eingerichtet. Aus alten Weinkorken hatte er sich eine heimelige Sitzecke eingerichtet und eine Zündholzschachtel zum Tisch umfunktioniert. Von der Decke hing an Schnüren ein kleiner silberner Löffel, an jedem Ende eine kleine Kerze, die als Beleuchtung diente. Hier hatte Berthold schon manche Nacht mit Freunden bei Wein und Würfelspiel zugebracht. Das war seine Leidenschaft; bei jeder sich bietenden Gelegenheit zog er die Würfel heraus, um ein paar Kreuzer für einen Schluck Wein zu gewinnen.

„Komm, Dominik, wie wär’s mit einem kleinen Spielchen? Ich spüre, das ist heute mein Glückstag!“, lallte Berthold, langte in die Tasche und holte seine Würfel hervor.

„Ein andermal“, entgegnete Dominik, „es ist nicht die rechte Zeit. Fabian und Ronny haben heute Ministrantendienst und ich werde noch gebraucht für die Messe.

 

Dominik legte Berthold neben den Tisch, ganz hinten in der Ecke, die von außen nicht zu sehen war. Beim Weggehen hörte er noch, wie sich Berthold selig in den Schlaf betete:

„Heiliger Urban mein,

lass mich nicht mit Wasser allein;

ich wünsch’ mir von dir, das wär’ mein Glück,

dass ich in ein Weinfass fall, wenn ich mich bück’,

schwimm’ kann ich eh nicht, das ist mir wurscht,

Hauptsach’ ist, ich krieg kein Durscht. Amen.“

Als Dominik wieder auf dem Fußboden landete, sah er noch den Dompfarrer, gefolgt von den beiden Ministranten, aus der Sakristei gehen. „Ronny, Fabian, wartet auf mich!“, rief Dominik und konnte gerade noch mit hinausschlüpfen, bevor sich die Tür schloss.

Ein kunterbunter Zug bewegte sich in Richtung Kirchenraum. Vornweg Liebkind mit seinem Kugelbauch, dahinter die beiden Ministranten und zu deren Füßen lief die kleine Dommaus im Ministrantengewand emsig hin und her.

Vier Herren beim Frühschoppen in der „Himmelsleiter“

Zur selben Zeit, als die Morgenmesse im Dom begann, saßen nur einen Steinwurf entfernt vier ältere Herren in der verrauchten alten Weinstube „Zur Himmelsleiter“ in der Katharinengasse: der Apotheker Anton Feuerlein, ein großer, hagerer Endfünfziger mit bereits weißem Haar, Studiendirektor Meiseneier, schrulliger Gymnasiallehrer und anerkannte Autorität in Sachen Leben und Werk des romantischen Dichters Adalbert Stifter, der Kaufmann Bernhard Hüpsch, ein ausgewiesener Wein- und Frauenliebhaber, und Antiquitätenhändler Dr. Karl Plunder, profunder Kenner alter Damen und ihrer Nachlässe.

„Haben Sie gehört, liebe Stammtischbrüder, wir haben einen neuen Bischof bekommen“, informierte ein sichtlich erfreuter Professor Meiseneier die Runde: „Josef Kapellmann heißt er, kommt aus dem Rheinland und soll ein recht humorvoller Mensch sein. Und einen Spitznamen hat er bei den Würzburgern auch schon weg; sie nennen ihn ‚Happy‘, weil er so lustig ist.“

„Happy, das ist doch mal ein pfiffiger Name für einen Bischof. Der passt so gar nicht ins Bild der alten Betschwestern“, lachte Dr. Plunder. „Wenn ich an seinen Vorgänger denke, der war eher ein stiller, zurückgezogener Mann. Viel eher nach deren Geschmack.“

„Sehr richtig!“, pflichtete ihm Meiseneier bei. „Um es mit den Worten Adalbert Stifters zu sagen: Der Zustand war so nicht länger ertragenswert; man habe den Eindruck gewinnen können, es böte sich den Gläubigen ein katholisches Vakuum.“

Lachend erhoben die vier Herren ihre Weingläser und prosteten einander zu.

Das Honoratioren-Quartett versammelte sich jeden Sonntag zur Zeit der Morgenmesse in der „Himmelsleiter“. Sie nannten sich „Die Philosophen“ und über dem Stammtisch hingen, in Holz geschnitzt, die „Drei weisen Affen“ mit dem Schriftzug „Die Philosophen“.

„Liebe Cora, schenk uns noch eine Runde von dem vortrefflichen Silvaner vom ‚Escherndorfer Lump‘ ein – auf meine Rechnung“, rief Hüpsch hinüber zur Kellnerin, die am Schanktisch die grünstieligen Weingläser polierte. Die fesche Enddreißigerin war, was ihre Reize und den „Marktwert“ bei Männern anbetraf, schon etwas über dem Zenit, aber dennoch für die vier Herren wie die übrigen Gäste eine wahre Augenfreude. Vor allem der tiefe Ausschnitt des um eine Größe zu klein gewählten Dirndls ließ manch älteren männlichen Gast in Gedanken versinken: „O Herr, du nahmst mir leider das Können, so nimm mir bitte auch das Wollen!“

„Kommt sofort, meine Herren“, erklang Coras helle, freundliche Stimme.

Die „Himmelsleiter“, eine der ältesten Weinstuben der Stadt, führte ihren lustigen Namen nun seit mehr als hundert Jahren. Nach einer alten Anekdote hatte sie ihn von einer gewissen Jungfer Kathrin, die hier in der Katharinengasse einst eine Weinstube besaß. Sie war dank ihrer weiblichen Reize das Objekt manch männlicher Begierde, gleichwohl selbst aber sehr wählerisch. Besonders die Geistlichkeit hatte es ihr angetan und so kam der Großteil ihrer Gäste aus den nahen Kirchen und Klöstern. Das stete Ein- und Ausgehen von Kaplänen, Prioren, Domkapitularen und jungen Theologen zu jeder Tages- und Nachtzeit ließ in der Bevölkerung den Spruch aufkommen, in der Weinstube herrsche ein reges Treiben „wie auf der Himmelsleiter“. Und als Kathrin eines Tages einem rosigen Töchterlein das Leben schenkte, brachte dies die Gerüchteküche in der Stadt heftig zum Brodeln. Vor allem, weil sie den Kindsvater niemals benannte.

Als Kathrin später ihr Lokal aufgab und als Haushälterin bei einem Domkapitular in Dienst trat, sprach man von einem „Kardinalfehler“. Die Weinstube allerdings behielt auch danach den Namen „Himmelsleiter“ und die dralle Cora setzte Kathrins diesbezügliche Tradition in bester Manier fort.

„So, meine Herren, vier Mal der ‚Escherndorfer Lump‘, wohl bekomm’s!“, sprach Cora und senkte beim Servieren ihren Ausschnitt weit über den Tisch. Hocherfreut blickten Professor Meiseneier, Apotheker Feuerlein und Dr. Plunder auf den spendierten Trunk, Hüpsch hingegen in Coras tiefes Dekolleté.

„Ja, unsere ehrenwerten Bischöfe haben uns schon so manch merkwürdige Geschichte hinterlassen“, sinnierte Meiseneier und nippte am Silvaner. Dr. Plunder nickte.

„Ja, ich meine mich zu erinnern, dass es in früherer Zeit doch ziemlich seltsam zuging, wenn ein neuer Bischof in sein Amt eingeführt wurde. Ganz anders als heute. Sagen Sie mal, Herr Professor, Sie als alter Historikus wissen doch sicher, wie das damals war!“

„Nun, es war schon recht ungewöhnlich, was sich im Mittelalter bei der Einführung des neuen Bischofs abspielte. Es ist Ihnen sicherlich bekannt, dass diesen früher das Domkapitel aus den eigenen Reihen wählte. Das war die Versammlung aller Domherren, meist nachgeborene Söhne von Adelsfamilien aus dem Frankenland, die nicht in der Erbfolge standen und deshalb in die Würzburger Domschule geschickt wurden.“

„Die Töchter, die man nicht an den Mann bringen konnte, kamen ins Kloster“, warf Bernhard Hüpsch ein. „Und heute findet man sie im Café Michel!“, ergänzte Plunder.

„Wie war das aber mit der Einführung, Herr Professor, was passierte denn da Merkwürdiges?“, fragte Feuerlein neugierig.

„Ja richtig, mein Lieber, die Amtseinführung. Nun, der Neugewählte ritt an der Spitze seines Hofstaats von der Festung in die Stadt. Auf der Alten Mainbrücke wurde er vom Domkapitel empfangen und musste, es ist fast nicht zu glauben, alle seine Kleider ablegen und sich seines Schmuckes entledigen.“

„Nackt? Sagen Sie bloß, Meiseneier, der stand splitterfasernackt auf der Brücke!“, rief Hüpsch ungläubig. „Nicht ganz, denke ich“, beschwichtigte ihn Plunder, „die Unterhose wird er wohl noch angehabt haben.“

„Wer stand nackt auf der Mainbrücke?“, rief Cora von der Theke herüber. Ihr entging kaum ein Gespräch und das Thema machte sie natürlich neugierig.

„Der Bischof, Cora, der Bischof“, antwortete Hüpsch.

„Das glaub’ ich nicht. Sonst hätt’s bestimmt in der Main-Post gestanden“ – Cora blickte skeptisch zum Stammtisch und putzte weiter ihre Gläser.

„Meine Herren, bitte! Mit dem gebührenden Ernst! Wie dem auch sei, sein Pferd schenkte der Bischof dem Truchsess, so war es Brauch. Dann kleidete man ihn in eine grobe Kutte aus grauem Sackleinen und führte ihn mit einem Strick um den Leib an die Pforte des Domes. Dort angekommen, musste er vor dem Domdekan niederknien und um Einlass bitten. Nachdem er im Dom das Glaubensbekenntnis gesprochen hatte, wurde er in festliche Gewänder gekleidet und legte sodann an den vier Türen des Doms die Hände auf die Türringe zum Zeichen der Vermählung mit seiner Kirche.“

„Und warum soll der nackt gewesen sein?“ Cora war längst neugierig zum Tisch der Philosophen gekommen.

„Ach, meine liebe Cora, das war so ein Brauch im Mittelalter, wenn wir einen neuen Bischof bekommen haben“, beruhigte Meiseneier die Bedienung.

„Na ja, der Happy würde das sicherlich auch machen, wenn man ihm sagt, was bei uns früher so abging. Er soll ja ein lustiger Kerl sein und jeden Spaß mitmachen. Ich werde es ihm mal stecken, wenn er wieder zu mir kommt“, sprach Cora und entschwebte mit wippenden Hüften in Richtung Theke.

Die Blicke der Herren folgten jeder Schwingung ihres Körpers, nur Meiseneier schaute versonnen in sein Glas.

„Herrlich, bewegend und doch so anmutig“, strahlte Feuerlein. „Ja, die Tradition hat sich lange gehalten!“, murmelte Meiseneier. „Man kann gar nicht genug davon bekommen“, seufzte Hüpsch. Meiseneier fühlte sich geschmeichelt: „Wenn Sie möchten, erzähle ich Ihnen noch mehr davon.“

„Nur zu, lieber Professor, es ist eine wahre Augenweide“, stimmte Dr. Plunder seinen Stammtischbrüdern bei.

„Man wusste ja schon immer, dass der Bischof der reichste und mächtigste Mann der Stadt war“, warf Kaufmann Hüpsch ein, der sich nach Coras wahrlich formvollendetem Abgang wieder Meiseneier zuwandte. „Es würde mich mal interessieren, wie viel Vermögen der Bischof einst sein Eigen nannte.“

„Sicher war der Bischof früher der reichste Mann der Stadt und die Kirche hat ja heute noch den größten Grundbesitz von allen“, bestätigte der Professor und nahm einen Schluck Wein.

Am Tisch der Philosophen trat ein kurzes Schweigen ein. Meiseneier ließ genüsslich den Silvaner im Mund rollen, Feuerlein blies kleine Rauchwölkchen in den Himmel und Hüpsch starrte ins Nichts.

„Was, meinen Sie, Professor, ist wohl der kostbarste Besitz der Bischöfe?“, fragte Plunder mit wachsendem Interesse. Man merkte ihm an, dass ihn dieses Thema beschäftigte.

„Das lässt sich schwer sagen“, antwortete Meiseneier. „Geht man von dem aus, was für die Gläubigen eine Kostbarkeit darstellt, so kann man sicher die Gebeine der Frankenapostel Kilian, Kolonat und Totnan nennen, die in der Kiliansgruft begraben liegen.“

„Man spricht aber doch auch davon, dass es den Kelch des Abendlandes gibt, der im Altar des Doms aufbewahrt wird. Eine Kostbarkeit aus Gold von unschätzbarem Wert, ein Gefäß, das Wunder vollbringen soll“, ließ sich Plunder vernehmen.

„Kelch des Abendlandes, Wunder, Gold und Edelsteine, was hat das zu bedeuten? Sie machen uns neugierig, mein lieber Plunder. Jetzt aber auf den Tisch, was es damit auf sich hat“, forderte der Apotheker und ließ in kurzen Abständen weiße Wölkchen aus seiner Zigarre aufsteigen.

„Ja, man spricht viel von diesem Wunderkelch, aber etwas Genaues weiß ich eben auch nicht“ – der Antiquitätenhändler klang resigniert. „Aber vielleicht weiß einer von Ihnen mehr über diesen Wunderkelch?“

Man spürte förmlich, dass das Thema alle am Tisch zu interessieren begann und die Spannung allmählich wuchs. Die Herren schauten sich an, als erwarte jeder vom anderen eine Erklärung. Schließlich richteten sich die Blicke auf Meiseneier. Wenn einer etwas über das Geheimnis des Kelches wusste, dann ja wohl er. Der Studiendirektor hatte schon viele Bücher über die Geschichte der Stadt geschrieben und galt daher als Koryphäe auf diesem Gebiet.

„Nun ja, ein wenig weiß ich darüber Bescheid.“ Man merkte Meiseneier an, dass er nicht gerne über dieses Thema redete. „Nun kommen Sie schon, Professor“, drängte Bernhard Hüpsch, „heraus damit! Wir wollen jetzt wissen, was es mit dem Kelch auf sich hat!“

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