MORIGNONE

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Из серии: Romanserie Morignone #2
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1. Mädchenträume

2. Schwankender Boden

3. Körpereigene Kräfte

4. Premiere

5. Kälteeinbruch

6. Wertvoll

7. Maskerade

8. Professionelles Kunstnuscheln

9. Ablaufstreit

10. Heuzauber

11. Am Drahtseil

12. Regression

13. Die Hymne

14. Knoblauch

15. Vamp

16. Aus einer anderen Welt

17. Vor dem Kamin

18. Spaghetti aglio e olio

19. Treue

20. Der Sprung

21. Kreide

22. Strudel

23. Fieber

24. Blinklicht

25. Gift und Galle

26. Treibgut

27. Inferno

28. Schümli

29. Klimapazifisten

Impressum neobooks

MORIGNONE Roman

Von Volker Lüdecke

Buchbeschreibung:

Als 1987 in den italienischen Alpen ein Berghang des Pizzo Copetto über der Ortschaft Morignone kollabierte und die Bewohner tötete, dachten die wenigsten als Ursache an den Klimawandel, im Gegenteil, damals prognostizierte man der Menschheit eine neue Eiszeit.

Heute würde die Erforschung der Ursachen andere Prioritäten setzen, denn die jüngeren Generationen erkennen zunehmend, welche Folgen die Erderwärmung für ihre Lebensperspektive hat.

Vor dem Hintergrund der historischen Bergkatastrophe erzählt Band II der Romanserie Morignone in einer fiktiven Handlung die dramatische Rettung aus der "Hölle von Morignone", sowie die "zweite Geburt" der Protagonistin, die ihr Leben verändert.

Die Zukunftsfragen, die uns heute bewegen, werden gestellt.

Über den Autor:

Volker Lüdecke wurde am 28.03.1961 in Hannover geboren und lebt seit 1983 in Berlin.

Seit 1995 werden seine Texte durch die Theaterverlage Felix Bloch Erben und stueckgutverlag vertreten, später auch durch den Drei Masken Verlag und den Verlag razzoPENuto.

1997 erhielt Volker Lüdecke für sein Theaterstück DARJA den Else-Lasker-Schüler-Dramatikerpreis.

Als Prosatexte sind auch erschienen: die Krimireihe "Kommissar Katzorke", "Fracking Desaster Blues", "Die Fliege im Finanzamt".

MORIGNONE Roman

Band 2

Von Volker Lüdecke

Volker Lüdecke, (geb. am 28.03.1961)

Anschrift: 10243 Berlin

Registriertes Urheberwerk: 03BC7B920991A

Die Filmrechte von MORIGNONE Roman werden vertreten und sind geschützt durch Drei Masken Verlag, München

1. Auflage, 2018

© Alle Rechte vorbehalten.

Volker Lüdecke, (geb. am 28.03.1961)

Anschrift: 10243 Berlin

Registriertes Urheberwerk: 03BC7B920991A

Die Filmrechte von MORIGNONE Roman werden vertreten und sind geschützt durch Drei Masken Verlag, München

1. Mädchenträume

In der Bar eines Hotels im österreichischen Skiort Sölden sitzen Professor Gründling und Maria´s Eltern abends zu einer Unterredung zusammen. Das Gespräch verläuft zäh.

„Dass sich meine Studenten so rührend um Maria kümmern, finde ich vorbildlich. Wenn die Generation ihrer Tochter diesen sozialen Geist beibehält, ist mir um die Zukunft nicht bange.“

Mary und Ronald Studer tauschen vielsagende Blicke.

„Bei allem Respekt, Herr Gründling, solange sie so leblos daliegt, bangen wir um Maria´s Zukunft. Der Geist ihrer Generation ist mir schnuppe.“

Studer´s vorwurfsvoller Ton fällt dem vornehmen Professor mit dem graumelierten Kinnbart unangenehm auf. Er nippt am irischen Whiskey, der angenehm durch seine Kehle rinnt. Frau Studer nagt an ihrer dünnen Unterlippe.

„Uns interessiert, in welchem Verhältnis ihr Student Vittorio zu unserer Tochter steht. Bei dem Unglück war er zugegen.“

Die Eltern forschen in Gründling´s Gesicht nach einer Antwort. Der stellt sein Glas ab und lehnt sich im gepolsterten Barsessel zurück, um besser Luft zu bekommen.

„Herr und Frau Studer, bei einer Exkursion werden die Studenten in Zweierteams eingeteilt, so ist der übliche Ablauf bei der Gewinnung von Bodenproben. Manche verabreden sich extra dafür, andere arbeiten zufällig zusammen. Für mich ist entscheidend, dass Vittorio nach dem Unglück sofort Hilfe geholt hat. Als Maria aus dem Geröllfeld geborgen wurde, habe ich sofort die Klinik über die Art ihres Unfalls informiert.“

Mary sieht verzweifelt aus, Tränen bilden sich in ihren Augen. Ronald hakt weiter nach.

„Wenn Sie sich einmal in unsere Lage versetzen, Herr Gründling, werden Sie verstehen, dass wir uns die Frage stellen, wie konnte es zu dem Sturz kommen? Man fällt ja nicht einfach so hin!“

Mit blitzenden Augen nimmt Studer einen Schluck vom Kräuterbitter, Gründling dabei ständig fixierend. Dann setzt er seine Ansprache fort.

„Niemand kennt Maria besser als wir. Veränderungen ihres Verhaltens fallen uns selbstverständlich auf. Ja, und die hat es gegeben, seit einem halben Jahr ungefähr. Fragen Sie meine Frau! Eine kontinuierliche Entfremdung, schnurgerade in einer Linie bis zu dieser schrecklichen Lage, in der sie sich jetzt befindet.“

Studer wischt sich ebenfalls eine Träne aus dem Auge.

„Ich fühle mit Ihnen, Herr Studer. Aber während der Exkursion fiel mir im Zusammenhang mit Maria nichts Ungewöhnliches auf. Alles lief eigentlich wie immer, ich war ja nicht zum ersten Mal an diesem Ort.“

Er schaut den aufgebrachten Hotelier entwaffnend an. Mary Studer schnäuzt vernehmlich ins Taschentuch.

„Maria ist unsere einzige Tochter. Vor einem halben Jahr schien noch alles in Ordnung, sie war engagiert und optimistisch, wir haben regelmäßig telefoniert. Dann, auf einmal, nur noch eine Mailbox. Bitte hinterlassen Sie ein Nachricht! Wir haben uns Sorgen gemacht. Hat sie Probleme im Studium?“

Erwartungsvoll schaut Mary den aus Wien angereisten Hochschulprofessor an. Der fühlt sich überfordert, nippt stumm an seinem Glas.

Ronald Studer nimmt einen Schluck Kräuterbitter.

„Wir betreiben ein Hotel im Kanton Wallis, in der Schweiz. Seit Generationen im Familienbetrieb. Das erfordert Einsatz und Engagement. Vor allem bei der Konkurrenz mit den großen Hotelketten. Die unterbieten kostendeckende Preise!“

Gründling nickt zustimmend, obwohl er den Bezug zu Maria nicht versteht.

„In den Semesterferien hat Maria immer mitgeholfen im Hotel. Auf einmal meinte sie, an einem Studiencamp teilnehmen zu müssen. Haben Sie das initiiert?“

„Nein, davon weiß ich nichts.“

Gründling schaut auf seine Armbanduhr.

„Ich begreife nicht, dass Sie nichts über das Studiencamp wissen. Das muss doch in der Hochschule angekündigt worden sein!“

Der Professor zuckt mit den Schultern und schweigt. Ronald Studer nestelt an seinem Bart, Mary Studer versucht zu lächeln.

„Ich habe mit Maria immer über alles reden können, wir sind nicht wie Mother and Child, sondern Freundinnen. Auf einmal verheimlicht sie uns etwas. Das kann ich nicht fassen. Es gibt nur eine Erklärung: jemand hat uns bei ihr schlecht geredet. Dieser Vittorio, ihr Student, Sie müssen ihn doch kennen?“

Gründling überlegt eine Weile.

„Ich kann Ihnen versichern, dass Maria sich außerordentlich für ihr Studium interessiert. Vielleicht auf unkonventionelle Weise, denn sie sucht eigene Herangehensweisen, betrachtet Forschungsergebnisse und Seminarpläne nicht als unantastbar. Einerseits ist das eine Qualität, andererseits manchmal auch ein Hemmschuh. Die meisten Studenten machen es sich leichter. Denen genügt es, ein bisschen an der Oberfläche der Geologie zu kratzen. Natürlich rutschen die viel schneller durchs Studium.“

 

Ronald schaut bestürzt, Mary wütend. Gründling lächelt überlegen.

„Wenn Studenten mein Seminar mit unkonventionellen Ansätzen bereichern, fördere ich sie. Anderen Dozenten missfallen Querdenker, so ist das leider. Wenn in unserer Hochschule eine Gruppe entsteht, die sich „Klimapazifisten“ nennen, warum nicht?“

Erschrocken tauschen die Eheleute Blicke, sie verstehen sich ohne Worte. Mary räuspert sich.

„Finden Sie es in Ordnung, Herr Professor, wenn unsere Tochter dazu angestiftet wird, radikale Ansichten zu vertreten?“

„Mir geht es nicht um Meinungen, sondern um die Eigeninitiative meiner Studenten, Frau Studer. Darauf kommt es an. Aus denen wird etwas, das können Sie mir glauben.“

Gründlings aufmunternd gemeinte Betrachtung erinnert Maria´s Eltern wieder an die bittere Realität, dass ihre Tochter im Koma liegt.

„So sehen Sie das? Haben Sie selbst Kinder?“

Gründling schüttelt den Kopf.

„Dann verstehen Sie uns als Eltern natürlich nicht. Bei aller Wertschätzung ihrer wissenschaftlichen Kompetenz, junge Menschen sind leicht zu beeinflussen und fallen auf Scharlatane herein. Von politischen Verführern ganz zu schweigen. Sie befürworten das? Verantwortungslos finde ich das. Eine Universität sollte für unsere Kinder ein sicherer Ort sein!“

Der bärtige Hotelier mit den markanten Wangenknochen steht auf, Gründling mustert ihn distanziert.

„Wir möchten, dass Maria unser Hotel übernimmt. Ihr Studium der Geowissenschaften ist im Prinzip nutzlos. Ein Luxus, den wir ihr gönnen, weil ihre Mutter Akademikerin ist.“

Sein zorniger Blick trifft Mary, die schuldbewusst ihren Kopf senkt.

„Andere träumen von solchen Möglichkeiten, aber unsere hochwohlgeborene Tochter äußerte zuletzt die wahnwitzige Idee, das Hotel zu verkaufen, um mit dem Erlös die Welt zu retten. Anstatt Touristen in die Bergwelt zu locken, sollten wir unseren Beitrag zum Klimaschutz leisten. Irre, nicht wahr? Wüsste zu gern, wer ihr solche Grillen ins Ohr setzt!“

Mary versucht, ihren Mann zu beruhigen, drückt ihn sanft auf seinen Platz.

„Zu Maria´s Entschuldigung muss ich erwähnen, was sie in ihrer Kindheit erlebt hat. Von einem Tag auf den anderen verloren wir aufgrund des Klimawandels unser Zuhause. Der Berghang, an dem wir wohnten, rutscht ab, seit der Permafrost taut. Eis hält den Berg nur noch im Winter zusammen. Eine Tragödie für unser Sweetheart. Ihr Paradies in der freien Natur endete. Es ist für sie kein Luxus, Geowissenschaften zu studieren, sondern eine innere Notwendigkeit. Maria will die Ursachen herausfinden. Als Biologin von der Stanford University habe ich Verständnis für ihren Forscherdrang.“

Ronald streicht sich nervös durch die Barthaare.

„Wahrscheinlich verlorene Jahre! Bevor die Welt untergeht, sind wir längst von ihr verschwunden. Aber was soll´s, gegen das große Ganze kann keiner an. Dieser Klimapalaver, die reinsten Mädchenträume! Ich frage mich: was geht da vor in ihrem Institut?“

Am Professor perlen die Vorwürfe ab. Er versteht die emotionale Lage der Eltern, strahlt souverän eine freundliche Ruhe aus.

„Maria ist gesellschaftspolitisch engagiert, das sollte sie nicht erschrecken. Sie findet sicher ihren Weg.“

„Wenn sie denn aufwacht!“

Maria´s Vater verschüttet ungeschickt seinen Kräuterbitter, was ihn zorniger macht.

„Wir reden hier nicht über eine Bagatelle, Professor Gründling, sondern über ein Menschenleben. Das unserer Tochter. Sie haben es durch ihren Uniausflug in ein gefährliches Geröllfeld leichtfertig aufs Spiel gesetzt. Es wird eine Untersuchung geben. Das habe ich bereits mit dem Rektor ihrer Universität telefonisch besprochen. Wir werden sehen, wie die Sache ausgeht. Ich glaube jedenfalls nicht an einen Unfall.“

Mary legt beruhigend ihre Hand auf Ronald´s Arm, doch der wischt sie unwirsch zur Seite.

„Der zweite Fehler, für den ich Sie verantwortlich mache, Herr Professor: dass Sie Maria nicht sofort in die Schweiz gebracht haben. Wir haben die besten Krankenhäuser der Welt. Die beste medizinische Versorgung! Diese Klinik hier, in Sölden in Österreich, was soll ich davon halten? eine Unfallklinik. Wenn sich einer beim Skifahren die Haxen bricht, ist er dort sicher gut aufgehoben. Aber mit einem Schädel-Hirn Traum vermutlich nicht. Jetzt liegt sie da und ist nicht transportfähig. Das heißt, Sie haben denen unsere Tochter auf Gedeih und Verderb ausgeliefert!“

Mary bricht wieder in Tränen aus.

2. Schwankender Boden

Ein helles Licht über ihren Augenlidern lässt Maria auffahren. Einen Moment lang ist sie geblendet und orientierungslos. Dann, nach einer Weile, schaut sie blinzelnd zum Wellblech des Scheunendachs empor, das vom Wetterleuchten eines vorbeigezogenen Gewitters flackernd aufleuchtet. Von oben wandert ihr Blick an Strohballen herab, die bis unter die Decke aufgetürmt liegen. Sie befindet sich auf dem Heuboden einer Scheune, weiß sie jetzt wieder.

Von unten dringt Musik herauf. Fina zaubert Filmmusik aus ihrer kleinen Quetschkommode. Kriminaltango.

Maria versucht, aufzustehen, aber ihre Arme und Beine sind schwer. Eine innere Stimme flüstert ihr zu, dass sie aufstehen muss, um von hier fortzukommen. Endlich steigt sie Sprosse für Sprosse die Holzleiter hinab, mitten hinein in das tumultartige Treiben im riesigen Innenraum der Scheune.

An den Wänden sind Fackeln befestigt, die das rustikale Ambiente in ein flackerndes Licht tauchen. Vittorio zimmert aus Brettern, die er auf Obstkisten nagelt, eine Bühne. Kinder spielen Verstecken zwischen alten Traktorenreifen. Dazwischen bellen Hunde, Katzen klettern im Gebälk und Hühner picken am Boden. Es herrscht ein chaotisches und wuseliges Durcheinander.

„Hat jemand die Kiste mit Nägeln gesehen? Wie soll ich ohne Nägel eine Bühne bauen?“

Vittorio schlägt mit dem Hammer einen Rhythmus auf das vor ihm liegende Brett, Fina probiert sofort den Sound einer Mundharmonika dazu aus. Alek eilt, völlig durchnässt vom Regen, mit einem Schweißgerät von draußen herein. Zaza wirft ihm ein Handtuch zu, er trocknet sich seine kurzen Haare ab.

„Leute, ich kann damit vielleicht das Loch im Kühler reparieren. Dann fahren wir aus diesem öden Drecksloch heute Nacht wieder ab. Was haltet ihr davon?“

Spöttisch spendet Ponzo Beifall für Alek´s Erfolg, die anderen sind zu beschäftigt, um auf ihn zu achten.

„Maria, wo warst Du? Die Requisiten müssen sortiert werden.“

Verwirrt schaut sich Maria um, entdeckt einen großen Koffer und öffnet ihn. Sie ordnet alles, was darin liegt, auf einen alten Öltank neben der halbfertig gezimmerten Bühne. Vittorio kommt auf sie zu, um ihr zu helfen.

„Wer hat beim letzten Abbau die Prometheus Marionette im Requisitenkoffer verstaut? Die Zündhölzer fehlen. So kann ich die Figur nicht spielen.“

Wütend entwirrt Vittorio die Fäden am Bügel der Marionette. Maria beobachtet seine flinken Handgriffe. Dann betrachtet sie ihre Finger, die ihr dagegen unbeholfen erscheinen.

„Mach kein Gewese um deine Marionette, Vittorio! Deinen Siegerplatz verlierst Du heute Abend an Ponzo. Bei dem Publikum aus Greisen und Bauernlümmeln wird er der Star des Abends. Du kannst deinen depperten Halbgott wieder einpacken.“

Vittorio lässt seine Marionette einen furiosen Tanz aufführen.

„Du hast recht, Alek. Über Ponzo´s Clownerien werden sie lachen. Bei dir lachen sie nur aus Schadenfreude. Wenn deine Jonglage misslingt.“

Alek sieht seine Streitlust angestachelt. Vittorio zeigt ihm den Mittelfinger.

„Vor einem Publikum, das jeden Tag nur zusieht, wie sich Schafe und Ziegen vermehren, wird dein Prometheus ein intellektueller Rohrkrepierer.“

Er macht eine obszöne Kopulationsgeste in Vittorio´s Richtung, Ponzo äfft ihn nach.

„Geh schweißen, Alek!“

„Was können Ignoranten von deiner Prometheus Story haben?“

Er verdreht die Augen. Zaza, die Theaterleiterin, mischt sich ein.

„Respekt vor unseren Zuschauern, Alek! Vergiss nicht, wir leben durch sie.“

Zaza weiß, die Stimmung in der Gauklertruppe zu kontrollieren.

„Respekt? Tut mir leid, ich finde, die Prometheus Nummer sollte heute entfallen.“

Als sich Vittorio auf Alek stürzt, stellt sich Maria schnell zwischen die Rivalen. Sie breitet die Arme aus, worauf beide ihre Arbeit wieder aufnehmen. Alek zieht sich eine Kapuze über den Kopf und trägt das Schweißgerät in den strömenden Regen hinaus. Am riesigen Tor der Scheune dreht er sich um.

„Kollegen, falls euch bei der nächsten Panne auffällt, dass kein Mechaniker mehr da ist, der euch die alte Schrottkiste repariert, hab ich was Besseres gefunden. In diesem Drecksloch übernachten? Wie tief wollt ihr noch sinken?“

Keiner beachtet ihn. Maria läuft schwankend über die improvisierte Bühne, die Bretter sind wacklig montiert.

„Wie auf Glatteis, Vittorio! Darauf soll ich spielen?“

Zaza schaut missvergnügt zu.

Der Clown balanciert auf dem Seil, haut sich mit einem riesigen Plastikhammer auf den kahlen Schädel und jodelt bei jedem Schlag. Die Dorfjugend flippt aus.

Ohne Vorwarnung schleudert Zaza Wurfmesser quer durch die Scheune, die wie Geschosse in einem Pferdesattel landen, der an einem Haken eingestaubt an der Bretterwand hängt. Alle halten den Atem an.

„Eine Ratte. Oder nur ein Rattenschatten? Die nächste treff ich, das versprech ich.“

Das Jodeln hört auf, die langjährige Chefin des Tourneetheaters weiß, sich Respekt zu verschaffen.

Maria ist beeindruckt. Auf einmal fühlt sie sich fremd und läuft unter das schmale Vordach hinaus, wo sich Vittorio vor der Aufführung eine Zigarette genehmigt. Es regnet immer noch in Strömen. Er bietet ihr eine an. Sie lehnt ab.

Schweigend schauen sie Alek dabei zu, wie er eine Schweißnaht auf dem nassen Metall des Kühlbehälters zieht. Es dampft und zischt, Alek flucht leise vor sich hin.

Im Licht eines gelblich strahlenden Scheinwerfers tropft Öl aus dem alten Motor ins nasse Gras. Ein bunt schillerndes Delta verzweigt sich von dort bis zu einer Pfütze im Feldweg.

Über die Dorfstraße biegt eine Gruppe mit Fackeln und in hohen Gummistiefeln auf den Weg zur Scheune ein. Die Abendvorstellung der Gauklertruppe scheint sich herumgesprochen zu haben.

Dann erkennt Maria, dass sie sich auf ihrem Weg in zwei Gruppen teilen. Einige laufen mit einer Trage zum Flusslauf hinunter, der schon breit über die Ufer getreten ist, die anderen kommen auf sie zu.

„Die Einheimischen vertrauen ihren Heiligen mehr als den Behörden. Bei diesem Sauwetter tragen sie eine Statue zum Fluss. Damit ihr Heiliger Vieh und Hütten beschützt. In dem engen Tal kann das Wasser alles fortreißen.“

Maria berührt der Anblick.

„Sieht eher aus wie ein Sarg, den sie tragen?“

„Eine Statue ihres Schutzpatrons.“

Maria stutzt.

„Wieso kennst Du dich hier so gut aus, Vittorio?“

Vittorio schaut sie belustigt an, dann macht er eine unschuldige Miene.

„Ich war in der Zukunft schon einmal hier.“

Unverblümt flirtet er mit ihr. Maria gefallen seine dunklen Knopfaugen, aber etwas stört an ihm. Sie weiß es nicht zu definieren.

„Wir sitzen hier fest, Maria. Machen wir das Beste daraus?“

Sie lächelt und betrachtet seine Lippen, die verführerisch geschwungen sind. Ein dicker Tropfen platscht ihr vom Dach herab ins Gesicht.

„Ich werde nass. Gehen wir rein?“

Vittorio lacht laut auf, tritt er seine Zigarette auf dem matschigen Boden aus und folgt ihr in die Scheune.

3. Körpereigene Kräfte

Die Ärztin, eine schlanke Frau Ende vierzig mit halblangen schwarzen Haaren und einem sonnengebräunten Teint, hat Mary und Ronald zum Gespräch in ihr Büro gebeten. Dr. Mohn, die Maria operierte, thront hinter einem chromfarbenen Schreibtisch, während die Eltern auf zwei Besucherstühlen kauern.

„Unsere Unfallklinik in Sölden ist zwar nicht groß, aber mit modernster Medizintechnik ausgestattet. Nach den Untersuchungen, die wir durchgeführt haben, hat ihre Tochter gute Chancen, wieder aufzuwachen. Die Einblutung im Gehirn dürfte sich auflösen. Zum Glück ist der menschliche Körper so beschaffen, dass er sich regeneriert. Mein Appell an sie: haben sie Geduld! Alles braucht seine Zeit.“

 

„Fünf Tage im Koma, seit ihrem Unfall!“

Mary´s normalerweise voll klingende Stimme hat sich in ein kaum hörbares Flüstern verwandelt. Sie ist am Ende ihrer Kräfte.

„Frau Dr. Mohn, meine Frau und ich müssen ständig an den Skiunfall von Michael Schumacher denken. Ein schreckliches Beispiel. An wie viel Geduld appellieren Sie? Wie lange wird es dauern?“

Ronald´s Stimme klingt verzagt. Seine Wut über die angeblichen Versäumnisse der Verantwortlichen ist einer depressiven Stimmung gewichen. Sein Blick wandert öfter resigniert zu Boden. Wenn er aufschaut, dann mit Misstrauen, um im Gesicht der Ärztin zu forschen, wie sie wirklich über den Zustand ihrer Patientin denkt.

„Die ärztliche Diagnose für Michael Schumacher ist mir nicht bekannt, Herr Studer. Ich kann aber ausschließen, dass bei meiner Patientin eine irreversible Verletzung vorliegt. Eine Schwellung des Gehirns ist nach solch einem Schlag gegen den Kopf normal. Wir haben die Gehirnflüssigkeit reguliert und geben entzündungshemmende Medikamente. Ich bekomme das in den Griff. Wir tun wirklich alles, um die Selbstheilungskräfte ihrer Tochter zu stärken. Sie wirken besser als die beste Medizin. Eine Operation, direkt im Gehirn, würde Risiken bergen. Die möchte ich zu diesem Zeitpunkt vermeiden. Falls eine OP wider Erwarten ratsam würde, informiere ich sie selbstverständlich vorher.“

Die Sorge über eine negative ärztliche Prognose fällt von den Eltern ab, Mary lächelt sogar.

„Hat sich Maria´s Universität bei Ihnen gemeldet, Frau Dr. Mohn?“

Die Ärztin sucht zerstreut in Unterlagen, die in kleinen Stapeln auf ihrem Schreibtisch liegen.

„Ja, hier, die Unfallversicherung der Universität hat geschrieben. Ich kann ihnen dazu einen Rat geben. Bei der Einschätzung von betrieblichen Unfällen halten sich die Parteien mit konkreten Aussagen meistens zurück. Das liegt an den Versicherern, die Verhaltensregeln für die am Unfallgeschehen Beteiligten ausgeben. Einen Maulkorb. Sie setzen ihre Klientel unter Druck, behaupten, der Schadensfall werde ansonsten nicht reguliert.“

„Schadensfall?“

Der Puls des Hotelier´s steigt steil an.

„Verzeihung, im Zusammenhang mit ihrer Tochter ein unglücklicher Begriff. Es tut mir leid!“

Ronald kämpft mit seinem Groll, die Ärztin beobachtet, wie sein Blutdruck steigt.

„Es gibt einige offene Fragen, Frau Dr. Mohn. Wurde vor der Exkursion ein regionaler Wetterbericht zu Rate gezogen? Ist es überhaupt gestattet, die Studenten zu zweit auf so gefährliches Terrain zu schicken? In meinen Augen eine Verletzung der Aufsichtspflicht.“

Ronald bemerkt in seiner aufbrausenden Art nicht, dass die Ärztin die falsche Ansprechpartnerin ist.

Dr. Mohn erwidert nichts, steht aber auf, um die beiden zur Tür zu begleiten. Ihr Beratungstermin ist beendet. Als der Hotelier sich anschickt, weiterzureden, unterbricht sie ihn gleich.

„Es tut mir leid, Herr Studer, ein Fehlverhalten seitens der Universität kann ich nicht beurteilen. Professor Gründling wirkte auf mich übrigens wie ein netter älterer Herr, der sich für seine Studenten einsetzt. Besonders für Maria. Clara und Vittorio sind zwei Studenten, die sich rührend um Maria kümmern. Während der OP und die folgende Nacht haben sie im Flur der Klinik gewartet. Solchen Einsatz erlebe ich nicht alle Tage.“

Die Eltern drücken der Ärztin die Hand.

„Danke! Vielleicht suchen wir einen Schuldigen, wo es gar keinen Schuldigen gibt? Weil das Schicksal waltet, wie es will, und aus irgendeinem rätselhaften Grund ein Unglück für sie vorgesehen hat. Schauen Sie, mein Mann ist krank vor Sorge. It makes him really feel sick.“

Mary lässt die Hand der Ärztin nicht los. Sie braucht die emotionale Nähe zu ihr. Dr. Mohn zögert, die Eltern einfach hinauszudrängen.

„Mein Mann fährt gleich zurück nach Brig, viel Arbeit wartet auf ihn. In den nächsten Tagen werde ich bei Maria wachen und ihr aus ihrem alten Tagebuch vorlesen. Sie hat es als Schulkind verfasst.“

Dr. Mohn nickt ihr wohlwollend zu, drängt sie nun aber behutsam hinaus.

„Servus, Frau Studer. Wir sprechen morgen wieder miteinander.“

„Ade!“

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