Mann, Frau, Affe

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Literarische Früherziehung

Literarische Früherziehung beginnt mit dem ungehinderten Griff zum guten Buch, dachte ich. Natürlich will ich auf keinen Fall zu den Eltern zählen, die vor lauter Ehrgeiz ihre Babys in die Neurose treiben und Dreijährige Chinesisch lernen lassen. Aber wenn das Kerlchen mit acht Monaten zur Philosophie greift, kann ich diese wichtige Begegnung doch nicht durch Verbote traumatisch besetzen! Zugegeben, ich hätte ihn ja nicht direkt neben das Bücherregal setzen müssen. Aber er hätte sich auch gelangweilt abwenden können. Stattdessen wälzte er sich näher und langte ins Regal. Nietzsche war nicht in den Griff zu kriegen: Die Bände stehen fugenlos in einem Schuber.

Vielleicht den pummeligen Sloterdijk, der sich daneben gutgreifig aus dem Regal wölbte? Nein. Er schob seine kleine Hand zwischen zwei Bücher und zog ein Reclamheft heraus, dann wälzte er sich auf den Rücken und hielt das Heft mit allen zwanzig Fingern und dem Titel nach oben. »Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs« von René Descartes, 1637 erschienen. Habe ich nie gelesen, dafür sah ich jetzt zu, wie intensive Lektüre aussehen kann. Er schwenkte das Bändchen hin und her, drehte und wendete es, zog an allen vier Ecken und juchzte. Der Sloterdijk wäre dafür zu schwer gewesen.

Das Kerlchen hatte Descartes gewählt, weil der fast nichts wog, und natürlich, gestand ich mir ein, hätte er auch ein leichtgewichtiges Trivialromänchen genommen, wenn es auf Griffhöhe stünde. Der Kleine lachte sich über den »Vernunftgebrauch« kaputt, er kreischte vor Vergnügen. Heitere Wissenschaft! Dann wurde es ernst. Wie alles, was ihn wirklich interessiert, führte er das Heft zum Mund. Wenn ich jetzt nicht eingriff, würde er den 43 Jahre alten Reclamband ankauen und nach und nach zerfetzen, so, wie er es schon mit der Zeitung geübt hat.

»Sorry. Ihre Lesezeit ist leider abgelaufen«, sagte ich und wand ihm das Heft aus den Händen. Unphilosophisches Kreischen erfüllte den Lesesaal. Beim nächsten Mal war er schneller als ich und hielt sich ans Regal daneben, Romanautoren mit »Sch«. Der Schutzumschlag von »Der stille Don« war genauso schnell zerfetzt, wie der alten Taschenbuchausgabe von »Casanovas Heimkehr« die Frontpappe fehlte. »Nein! Nein! Nicht auch noch die ›Gelehrtenrepublik‹! Komm, ich les dir daraus vor. ›Auf Kankerstelzen aus Licht der kleingeschnürte Sonnenleib‹ …« Er schrie. Arno Schmidt ist noch nichts für ihn.

Dafür lässt er sich von seiner Mutter mit bemerkenswerter Geduld »Clara und Paul« vorlesen, wobei sie ihm untersagt, an dem Buch zu nagen. Wir sind da unterschiedlicher Meinung. »An einem Bilderbuch mit dicken Pappseiten kann er doch mal nagen«, sage ich. »Dann macht er das bei deinen Büchern auch«, sagt sie, »oder kannst du ihm den Unterschied erklären?« »Hehe!« Das Kerlchen lachte. Ich muss das mit der literarischen Früherziehung nochmal überdenken.

Raucher von der Rolle

Briefmarken von der Rolle, 100 Stück zu je 55 Cent. »Was ist es eigentlich für ein Motiv?« »Der arme Poet«, sagte die Postangestellte. »Achje, ich nehme doch lieber was anderes. Es muss auch nicht von der Rolle sein.« Ich habe dieses Bild noch nie gemocht. Und die Vorstellung, dauernd diesen armen Poeten auf meine Briefe zu kleben, behagte mir auch nicht. Dem Mann, den Spitzweg in einer süßlichen Mischung aus Karikatur und Idyll vorführt, geht es doch eigentlich sauschlecht unter dem Schirm, der ihn vor Wasser aus dem undichten Dach schützen soll. Was würde es signalisieren, wenn ich meine Rechnungen mit diesem Jammerbild beklebte? Dass ich mehr Honorar brauche?

Von wegen. Dieses Bild signalisiert ja tiefstes Einverständnis mit der bürgerlichen Vorstellung von selbstverschuldet brotloser Kunst: »Was muss der Mann auch Gedichte schreiben, das hat er nun davon, und wahrscheinlich sind sie eh alle so schlecht wie die, die er schon in den Ofen links im Bild gesteckt hat, um damit die klamme Bude zu heizen.« Ich bin kein Poet, mag aber Gedichte, bewundere die, die sowas hinkriegen, egal ob im Liegen oder im Stehen, und irgendwie beleidigt Spitzweg die ganze lyrische Zunft.

Angeblich ist sein Bild ein ironischer Gegenentwurf zu Caspar David Friedrichs »Wanderer über dem Nebelmeer«, wo man einen gut gekleideten Einzelgänger von hinten sieht, der gewaltigen Natur gegenüber. Bei Spitzweg, las ich in einer Exegese, sei hingegen die Natur der Floh, den der Poet gerade zwischen den Fingern zerdrückt. Auweia.

Leider gab es den Wanderer nicht als Briefmarke, ich nahm stattdessen eine Kollektion von Leuchttürmen, da macht man nichts falsch, außerdem noch zehn Mal Franz Kafka. Seine Zeichnung von dem Typen, der erschöpft überm Tisch zusammengebrochen ist, vermittelt auch in der Korrespondenz mit Redaktionen das richtige Signal auf hohem Niveau.

Zu Hause ging ich zum Rauchen auf den Balkon. Es regnete, und ich holte einen Schirm. Da stand ich dann, höhenmäßig etwa dem Wanderer über dem Nebelmeer vergleichbar, unter einem Schirm, der an Spitzweg erinnerte. Das wäre doch das passende Bild für unsere Zeit, dachte ich. Weltweit stehen die Schreiber, egal ob Poeten oder Prosaisten oder Kolumnisten oder Kafkaisten, auf ihren Balkons, weil sie, voller Einsicht und guten Willens, an ihren Schreibtischen nicht mehr rauchen. Heroisch klappen sie im Regen die Schirme auf. Verschwunden sind Flöhe und Nebelmeere, der Schirm aber wird geadelt zum Insignium des Konflikts zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischem kreativem Rauchen und sozialem Nichtrauchen.

Kann das mal jemand malen? Das würde ich gleich von der Rolle kaufen.

Im Schatten eines Doppelturms

Ab und zu mache ich auf dem Balkon Fotos von Sonnenuntergängen. Die sehen so aus, als befände man sich in wilder Natur: Am unteren Rand Baumwipfel, ansonsten dramatische Wolken, rot, orange, rosa, violett, diverse Blaus. Es könnte sonstwo sein, Canada etwa, oder Australien. Ich muss dafür nichts wegpixeln. Ich muss nur warten, bis die Sonne überhaupt mal zum Vorschein kommt und Berlin nicht unter der ortstypischen Wolkendecke begraben liegt. Und vor allem darf ich die Kamera nicht zu weit nach links bewegen. Da steht nämlich der Spukturm.

Der Spukturm ist eigentlich ein Doppelturm, er besteht aus zwei zusammengeklebten Hochhäusern der 70er Jahre. Die Berliner nennen das Ding »Kreisel«. Sie haben hier seltsame Bezeichnungen. Die höchste Bodenwelle der Stadt, ein Trümmerberg, heißt »Insulaner«. Hannoveraner sind da anders. Wenn sie in eine Masch einen See graben, heißt er Maschsee und nicht Bergziege, ein Hochhaus heißt Hochhaus, in begründeten Einzelfällen auch Anzeiger-Hochhaus, aber nicht Gurke oder Auster. Als gelernter Hannoveraner kann ich in Berlin auch rings um den Spukturm keinen Kreisel erkennen, dafür aber die weltweit komplizierteste Art, das Ende einer Autobahn mit zwei Straßen zu verknoten.

Grob geschätzt 163 Ampeln regeln den zähen Verkehr auf zahllosen Teilabschnitten. Es ist unmöglich, dieses Labyrinth ohne anzuhalten zu überqueren, sogar ein Selbstmordattentäter unter Zeitdruck würde hier unwillkürlich bei Rot warten. Umwürgt von diesem Netz erhebt sich also das »Kreisel« genannte Monument, auf das mein Balkon eine fabelhafte Sicht bietet. Der Doppelturm ist völlig leer und nachts zappenduster bis auf rote Lämpchen an den Kanten zur Orientierung der Flugzeuge, die bis vor Kurzem nach Tempelhof flogen (noch so ein irrer Name! Als wäre da mal die Akropolis gewesen und nicht ein preußischer Exerzierplatz).

Wegen einer Asbestverseuchung, deren Beseitigung fast 100 Millionen Euro kosten würde, darf in den Turm niemand hinein, fast niemand. Ein Architekt, der drin war, hat mir erzählt, man habe von oben eine berauschende Sicht bis hin zum Insulaner und nach Tempelhof und wohl noch weiter. Eine Berlinerin, die nicht drin war, reagierte indigniert auf meine Bemerkung, der Turm verstelle mir die Sicht nach Südosten. Ich sei hier schließlich in einer Großstadt. Mein toter Lieblingsnachbar hätte dem Spukturm und auch dem irren Labyrinth womöglich etwas abgewonnen. Aber Franz Kafka gefiel der Rathausplatz, wie die Ecke damals hieß, auch so.

Auf meinen Abendfotos existiert der Spukturm jedenfalls nicht. Die Leute, denen ich sie zeige, fühlen sich von den Sonnenuntergängen über Baumwipfeln allerdings nicht an Australien oder Canada erinnert. Manche sagen, es sähe aus wie über den Feldern und Wäldern nördlich von Hannover.

Tiere blicken dich an

Neulich bin ich mal wieder in meiner Lieblingsgegend spazierengegangen, nördlich von Hannover, in den Feldern ums Dorf, in der Dämmerung. Außer mir war nur noch ein Trecker unterwegs, ich wusste auf einmal nicht mehr, wie man Stress buchstabiert. Und dann waren da die Kühe. Zehn Kühe standen hinterm Zaun in einer Reihe unter Bäumen. »Guten Abend«, sagte ich, und weil mir das etwas zu wenig schien für so viele, fügte ich an: »Na, ihr?« Es ist nicht leicht, bei Kühen den richtigen Ton zu treffen, aber sie fanden es wohl okay. Gemeinsam sahen sie mir nach, während ich vorbeispazierte.

Und diese Stille! Wenn ich jetzt auf den Balkon trete, höre ich Autos brausen und sehe hunderte von Menschen, Straßen, Häuser und Hochhäuser, ein paar Bäume auch, aber hinter denen ist die Stadt noch lange nicht zu Ende. Es ist in Berlin nicht einfach, sich vorzustellen, wie es wohl war, als hier nur ein paar Dörfer in der Landschaft standen. Aus dieser Zeit ist in meinem Stadtteil ein Straßenname geblieben, »Frohnhofstraße«, da muss es einen Hof gegeben haben. Die Straße ist eine Asphaltschlucht, eingeklemmt zwischen S-Bahn-Damm und den Spukturm, dessen obere Etagen bei Nebel verschwinden.

 

In so einer Stadt ist eine Kuh seltener als ein Eisbär. Denn Kühe in Halbtrauer, wie Arno Schmidt sie nannte, also das ganz normale europäische Fleckvieh, gibt es nicht mal im Zoo. Wer in Berlin eine Kuh sehen will, begibt sich zur Domäne Dahlem. Das ist ein Ökohof mit U-Bahn-Anschluss, umgeben von Stadt und mit immerhin so viel Feld, dass man eine Viertelstunde braucht, um das Areal abzuschreiten. Am Wochenende gibt es Märkte und Kinderbelustigung, dann kommen viele Familien, und den Kindern werden die Rinder gezeigt. Ein paar Tage nach meinem Landspaziergang fuhr ich dorthin. Ein junger Stier wurde im Kreis geführt, auf dem Kinder reiten durften, und eine Mutter sagte zu ihrem Kind: »Willst du die Kuh nicht mal anfassen?« So werden Bildungslücken von einer Generation an die andere weitergereicht. Während in Walsrode jedes Kind eine Kuh von einem Stier unterscheiden kann, kennen kleine Berliner den Unterschied zwischen U-Bahn und S-Bahn. Aber es gab auch eine richtige Kuh dort auf dem Ökohof. Zehn Städter standen am Gatter und sahen sie an.

Das Tier stand auf einer kleinen Weide und blickte irritiert auf die Zuschauer. »Guck mal, wie die guckt!«, sagte einer. Ich dachte daran, wie ich allein den zehn Kühen gegenübergestanden hatte. Wie still es gewesen war. Wie herrlich es ist, wenn eine ganze Herde im Galopp über die unermesslichen Weiden der norddeutschen Tiefebene donnert. Ich bin nun mal kein Berliner. Ich hätte mich zur Vorführkuh auf die Weide setzen können, mit einem Schild am Zaun: »Hausrind, 2 Jahre, Niedersachse, 47 Jahre«. Vielleicht hätten sich noch ein paar weitere Zugereiste danebengesetzt.

Ein Streifen für Ringo

Natürlich finde ich sie toll. Alle ihre Stücke, von vorn bis hinten, aus diesem magischen Jahrzehnt. Jeder Wurstverkäufer, jeder Waffenhändler, jeder Hund und jede Katze und die meisten anderen finden mittlerweile die Beatles toll, und dass die Musik davon nicht schlechter wird, ist womöglich das krönende Indiz für ihre Qualität. Innerhalb dieser Gemeinde gehöre ich aber womöglich zu einer Minderheit, wenn ich sage, dass ich es vollkommen unötig finde, was neulich der Fremdenverkehrsminister von Großbritannien getan hat. Er hat die Zebrastreifen unter Denkmalschutz gestellt, über die einst die vier Musiker schritten, um sich fürs Cover von »Abbey Road« fotografieren zu lassen.

Konsequenterweise müsste man dann alle Plätze, Straßen, Häuser, Landschaften, die herausragend in der Weltkunst verewigt wurden, im Originalzustand belassen. Für größere Objekte wie Canalettos Dresden und das Paris Balzacs vor dem Bau des Eiffelturms ist es zu spät, man kann auch nicht Themse und Ärmelkanal für alle Schiffe sperren, die anders aussehen als die von William Turner gemalten, man fände auch kaum noch kompetentes Personal. Sogar das Lönneberga von Michel bzw. Emil, wie er im Original heißt, sieht nach hundert Jahren anders aus, als Astrid Lindgren es kannte. Und welche der von Ottorino Respighi vertonten »Pinien von Rom« rauscht heute noch im Wind?

Es wäre doch grauenhaft, wenn Kunst jede Welt, von der sie ausgeht, in der Realität wie in Gießharz erstarren ließe. Von den vergänglichen Zebrastreifen in der Abbey Road sind jene unvergänglichen, über die das Quartett seit August 1969 marschiert, unabhängig. Sie existieren als Cover und in den Köpfen und führen ins Unermessliche. Denkmalschutz für Requisiten und Modelle ist dagegen total beschränkt. Oft ist Kunst sogar noch schöner, wenn man nicht mal das Modell kennt. Mit sechzehn habe ich »Penny Lane« für ein anbetungswürdiges Mädchen gehalten; ich war ernüchtert, als ich erfuhr, dass die Beatles damit eine Straße meinten. Das Straßenschild haben Fans so oft abgeschraubt, bis die Stadtverwaltung den Namen einfach auf eine Mauer malen ließ.

Dieselbe Stadtverwaltung will nun das Geburtshaus von Ringo Starr abreißen lassen, weil es baufällig ist. Das finde ich hingegen gar nicht gut. Geburtshäuser großer Künstler sollten erhalten bleiben, gern auch angegammelt, nirgendwo kapiert man so gut, dass sie klein anfingen. Wenn man das schäbige Ziegelhaus betrachtet, wird die Musik noch wahrer. Wenn es nun aber einen Welthit »Madryn Street Number 9« gäbe und Ringos Babyadresse ein Modell der Weltkunst wäre, eine Art Buddenbrookhaus? Gibt es nicht, kann es nicht geben. Für so ein Lied war und ist Ringo viel zu bescheiden. Bescheidener als Thomas Mann, Paul, John und George zusammen. Okay fände ich es daher, wenn man von den berühmten Zebrastreifen den von ihm betretenen zweiten von rechts liegen ließe.

Mein Leben als Assistent

Das Leben mit einem Forscher ist anstrengend. Mit einem, der gerade feststellt, dass die Gegend, die er entdeckt hat, nur das Ufer eines gewaltigen Kontinents ist. Ich bin ihm scheinbar voraus, ich kenne die Grenzen dieses Kontinents, ich kenne die Gegend, in der die Forschungen begannen, aus der Vogelperspektive, und alle anderen auch, die Berge und Täler und Flüsse und Schränke. Aber was weiß ich von der Flora dort unten, vom Teppichland, vom Reiz einer Fluse, ihrem Aroma? Und begriff ich je das Wunder einer Schublade? Man kann sie auf und zu machen, mache ich auch, aber doch ohne die Konstruktion zu bestaunen, immer neu zu überprüfen, wie das fest und beweglich zugleich ist ...

Ich bin der Gehilfe dieses Forschers, ich war einer dieser Typen, die glauben, sie wüssten es besser, aber das wissende Lächeln hat er mir ausgetrieben, ich fange an zu staunen. Er ist eine jener Naturen, die von ihren Interessen so besessen sind, dass man mitunter das Weite suchen möchte, Luft holen, forsch doch alleine! Aber wer weiß, was als Nächstes entdeckt wird, das möchte man nicht verpassen. Außerdem braucht er, wie alle diese Besessenen, jemanden fürs Praktische. Einen, der fürs Essen sorgt, der die Lawinen voraussieht, die der Forscher mit seinen Untersuchungen auslösen kann. Mit bloßer Hand stoppe ich einen herabkrachenden Felsen, will sagen, eine Schublade voller Krimskrams.

So gesehen bin ich mächtig. Ich hätte ja auch längst den Krimskrams aus der Schublade entfernen können. Kostet mich nur einen Handgriff. Aber zugleich einen mentalen Überblick, der des Forschers Interessen alle vorausweiß, und den habe ich nicht. Ich müsste den ganzen Kontinent in Ketten legen, der zu erkunden ist, mit Gießharz einbetonieren. Irgendwas ist aus der Schublade gefallen. Es kommt sofort ins Labor. Das Labor ist der Mund. Dort wird alles überprüft. Forscher! Wo ist die kleine Glühbirne? Mach den Mund auf! Ich muss manchmal rabiat werden. Er hält den Atem an.

Oder kann er nicht atmen? Hat er die Birne im Hals? Ich halte ihn kopfüber. Er brüllt, er hat den Atem nur angehalten vor Wut über die Unterbrechung, die unnötige Panik. Es gibt so viel zu entdecken! Hinter den Hügeln der Schwellen die Küche. Was für Türen, was für glänzende Wunder dahinter! »Töpfe«, lallt der Gehilfe. Raus damit, überprüfen! Und wie soll ich im Basislager das Essen machen, wenn ihm jederzeit ein Topf auf den Kopf fallen kann? Zum ersten Mal greife ich zurück auf Methoden des 19. Jahrhunderts. Ich hole den Laufstall. Der Forscher wird eingekerkert. Schutzhaft.

Es ist ihm recht, er übt Stehen an den Stäben. Demnächst wird er gehen, den ganzen Kontinent wird er erkunden, 145 Quadratmeter, die noch keiner kennt. Ich brauche die Hilfe der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Ich brauche einen Koch, einen Bodyguard, ein Räumungsteam, Minensuchhunde, und ich brauche Schlaf. Viel Schlaf. Morgen um sechs wird er mich wieder hochscheuchen.

Draußen vor der Tür

Natürlich war es rappelvoll, wie immer, wenn ein Blockbuster startet, aber irgendwas war anders. Meine jüngste Mitbewohnerin hatte die Karten besorgt, für ihre Mutter, sich und mich, und ich war mit Proviant beladen: Bier, Limonade, Lakritze. Wir waren bereit für »Mamma mia«. Meryl Streep ist immer gut. Aber ich war nicht gut genug für Meryl Streep. »Den Herrn darf ich nicht reinlassen«, sagte die Kartenabreißerin streng, »heute ist Ladies first.« »Wie bitte?« »Die Vorstellung ist nur für Frauen. Steht doch auf der Karte. Ladies first.« »Und was ist mit dem Herrn dort?« sagte ich und wies auf den einzigen anderen Mann mitten im weiblichen Gewühle. »Bei dem können Sie Ihre Karte eintauschen.«

Da war nichts zu machen. Sowas ist mir noch nie passiert. Und dabei glaubte ich seit Langem, gegen jegliche Türhüter magisch gefeit zu sein. Daran musste ich jetzt denken, während die beiden Damen ohne mich Meryl Streep sahen und ich durch den Regen (denn natürlich regnet es an solchen Abenden!) nach Hause trottete. 1989. Es war mein Bayreuthdebüt. Ich hatte eine Karte, das war nicht das Problem, und Damentage gibt es dort auch nicht. Eine Zeitung hatte es riskiert, mich, festspielmäßig total unerfahren, zum Grünen Hügel zu schicken. Zur Eröffnung gab es »Parsifal«.

Nach dem ersten Aufzug traf ich draußen einen Bekannten und quatschte mich fest. Ich hörte irgendwelche Trompeten blasen, wir redeten weiter. Irgendwann sagte er: »Auch nur als Zaungast hier?« »Wieso?« »Weil du nicht reingegangen bist.« »Und du?« »Ich habe keine Karte gekriegt.« »Aber …« »Ich glaube, die machen grad zu.« Oh ja, das taten sie. Und sie ließen mich nicht rein, als ich gegen die Glastür hämmerte. »Das darf nicht wahr sein.« Ich raste um das ganze Festspielhaus auf der Suche nach einer Tür. Es war wie ein Schiff, das abgelegt hat. Alle Schotten dicht. »Das darf nicht wahr sein.« Mein Debüt! Meine Kritik! Hilfe! Da erreichte ich den Künstlereingang. Ich stand in Flammen.

Ich erklärte dem Pförtner, die Klotür habe geklemmt und ich sei ein Kritiker aus Hannover. Er sah nur einen wahnsinnigen jungen Mann und rief eine Dame herbei. Ich konnte vor Aufregung kaum sprechen. »Klotür«, log ich stammelnd, »Kritiker«, keuchte ich die reine Wahrheit heraus; sie glaubte wohl eher das erste als das zweite, sah aber, dass es ein Leben zu retten galt. Aus Mitleid wissend. Sie führte mich durch Labyrinthe, während von fern das Orchester wogte wie ein Weltmeer, zum Raum ward hier die Zeit, und stieß den Spätling ins dröhnende Dunkel. In den Zuschauerraum. »Wie kommen Sie denn hier rein?!«, zischte eine Platzanweiserin und presste mich in einen Notsessel.

»Die Zeit ist da. Schon lockt mein Zauberschloss den Toren«, erklärte Klingsor gerade. »Mamma mia«, flüsterte ich und grinste im Dunkeln.

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