Wen die Vergangenheit trifft

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Wen die Vergangenheit trifft
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Das Buch erzählt, was Krieg mit Menschen macht und wie sich dies auf die nächste Generation auswirkt. Stefan Eppinger hat zu seinem Vater kaum noch Kontakt. Das ändert sich erst, als dieser unheilbar an Krebs erkrankt. Nach anfänglichem Zögern beschließt Stefan, sich um seinen Vater zu kümmern. Bald schon wird er mit der Vergangenheit konfrontiert. Es beginnt die Suche nach einer verdrängten Wahrheit.

Die Autorin Vera Sterndorf wurde 1958 in Karlsruhe geboren. Sie ist Juristin und Redakteurin. Seit vielen Jahren arbeitet sie als freie Texterin. Zusammen mit ihrem Mann und ihrer Katze lebt sie in einem alten Haus mit großem Garten nördlich von Berlin. Von ihr erschienen, ebenfalls bei epubli, die Kinderbücher »Annas wundersame Reise« und »Lena hat ’ne Meise«.

Vera Sterndorf

Wen die Vergangenheit trifft

Erzählung

Impressum

Wen die Vergangenheit trifft

Vera Sterndorf

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

Copyright: © 2013 Vera Sterndorf

ISBN 978-3-8442-7041-9

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Ich danke allen, die mich ermutigt haben,

dieses Buch zu schreiben.

Inhalt

Impressum

Die Heimkehr

Am Bahnsteig herrschte die übliche Enge. Menschen drängten und schoben sich mit ihren Koffern und Taschen zu den Zugtüren. Ich zwängte mich durch den Waggon und setze mich in einem Abteil ans Fenster. Gegenüber nahm eine Familie Platz: Vater, Mutter und ein etwa siebenjähriges Mädchen. Der Vater verstaute das Gepäck, während die Mutter eine Brotdose, Möhren und Äpfel auspackte. Die Kleine holte ein »Pippi Langstrumpf«-Buch aus ihrem rosaroten Rucksack. Der Vater schlug die Zeitung auf. Die Mutter zog pinkfarbene Wolle und Stricknadeln aus einem Leinenbeutel. Draußen pfiff der Schaffner. Der Zug setzte sich in Bewegung. Mir fiel der erste Satz aus »Anna Karenina« ein: »Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie dagegen ist unglücklich auf ihre besondere Art.« Ich schloss die Augen und dachte an meine eigene.

Ich war jetzt vierundfünfzig Jahre alt und schon lange geschieden. Bettina war damals, gleich nach der Trennung, weggezogen und hatte unsere Tochter mitgenommen. Sara war inzwischen zwanzig und studierte in Hamburg Medizin. Ich sah sie nur selten. Ich arbeitete, was nicht sonderlich aufregend, aber dennoch befriedigend war, als Staatsanwalt, seit mehr als fünfundzwanzig Jahren in derselben Behörde. Abends trank ich gern ein Glas Wein, las ein gutes Buch, ging mit Freunden oder Kollegen ins Kino, Konzert oder Theater und am Wochenende am Wannsee segeln. Ab und zu gab es auch mal eine neue Frau in meinem Leben. Doch im Großen und Ganzen genoss ich meine Freiheit und Unabhängigkeit. Aber dann kam dieser Anruf. Und am Morgen danach saß ich in diesem Zug, auf dem Weg zu einem anderen, verdrängten Leben.

Ich hatte meinen Vater zuletzt bei seinem zweiundneunzigsten Geburtstag gesehen. Das war vor über einem Jahr gewesen. Vordergründig, weil mir die Arbeit keine Zeit ließ, öfter nach Freiburg zu fahren. In Wahrheit ließ sich so jedoch die Sprachlosigkeit zwischen uns besser ertragen. Ab und zu ein Telefonat: »Mir geht es gut.« »Mir auch.« »Wie ist das Wetter bei euch?« »Die Sonne scheint bei drei Grad plus.« »Wir haben ein Grad minus und Nieselregen.« Darüber hinaus hatten wir uns schon lange nichts mehr zu sagen.

Dabei war das nicht immer so gewesen. Mein Blick fiel auf das Mädchen mir gegenüber. Sie hatte ihr Buch weggelegt und schmiegte sich an ihren Vater. Der flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sie lachte.

Ich war so alt wie sie, als meine Mutter uns verließ. Sie zog mit ihrem Liebhaber davon, den sie später heiratete. Nicht dass ich sie damals nicht vermisst hätte. Doch mit ihrem Auszug kehrte endlich Ruhe ein.

Soweit ich mich zurückerinnern konnte, hatten meine Eltern bald täglich gestritten. Es war so, als hätten sich Feuer und Wasser geheiratet. Die eine verglühte, der andere versiegte. Es ging ums Geld, von dem es wenig gab, ums Ausgehen und Amüsieren, für das mein Vater, seitdem er 1946 aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrt war, keinen Sinn mehr hatte.

Dabei musste er als junger Mann vor dem Krieg ganz anders gewesen sein. So hatte er es jedenfalls selbst erzählt. Wenn das, was er gesagt hatte, nicht übertrieben war, hatte er damals weder ein Fest noch einen Tanz und erst recht keine Frau, die willig war, ausgelassen.

Ich kicherte. Die Frau gegenüber senkte ihr Strickzeug, schaute mich an und runzelte die Stirn. Ich zog den Mund schief, grinste leicht verlegen und schloss die Augen.

Meine Mutter sah ich nach der Trennung meiner Eltern zweimal im Monat. Sie holte mich dann jedes Mal ab, ging mit mir in den Zirkus oder ins Kino. Sie verwöhnte mich mit Süßigkeiten und Geschenken, die ich gern nahm. Je älter ich wurde, umso mehr machte es Spaß, ihre Versuche, mich zu bestechen, meine Zuneigung zu kaufen, auszunutzen.

Oft wünschte ich mir Sachen, die ich weder wollte noch brauchte, nur um zu sehen, wie weit ich sie bringen würde. Da ihr Neuer recht reich war, hatte ich fast immer Erfolg. Doch je öfter sie mir schenkte, was ich forderte, umso mehr verachtete ich diese Frau, die meinen Vater und mich verlassen hatte.

Nachdem meine Mutter gegangen war, blieben wir allein zurück in der kleinen Buchhandlung, die meinem Vater gehörte, und in der engen Dreizimmerwohnung darüber, wo wir lebten. Eigentlich hatten wir es dort recht gemütlich. Mittags, wenn ich aus der Schule kam, hatte mein Vater den Laden geschlossen und für uns gekocht.

Ich erinnere mich an einen Tag, als es Bohnensuppe gab. Während mein Vater am Herd rührte, erzählte ich von der Schule und spielte mit dem Salzstreuer. Als das Essen fertig war, stellte mein Vater den Topf auf den Tisch. Er nahm mir das Salz aus der Hand, um nachzuwürzen. Dabei löste sich der Deckel, den ich unbewusst fast aufgeschraubt hatte. Der gesamte Inhalt, der nicht wenig war, fiel in den Topf. Die Suppe war verdorben.

Wortlos, ohne zu schimpfen, schüttete mein Vater die Bohnen ins Klo und briet uns Spiegeleier. In solchen Momenten bewunderte ich ihn und seine Ruhe. Meine Mutter wäre vor Wut geplatzt und hätte mich geohrfeigt, zumindest bevor sie uns verlassen hatte.

Oft saß ich in der Buchhandlung, machte dort meine Hausaufgaben und las, wenn ich nicht mit Freunden unterwegs war, oder spielte. Mit meinem Vater konnte ich damals über alles reden. Über Wünsche, Träume, Hoffnungen und sogar Ängste. Er nahm mich ernst und behandelte mich nie wie ein unwissendes Kind.

Sonntags machten wir fast immer einen Ausflug. Wir wanderten durch den Wald, erklommen Berge, fuhren Rad, besuchten Museen und mit unserem blauen VW-Käfer Städte, wie etwa Straßburg und Basel. Im Herbst ließen wir unseren Drachen steigen und sammelten Pilze. Am meisten mochte ich, wenn wir in einem Gasthof einkehrten. Mein Vater trank dann immer ein Bier, und ich bekam eine Cola mit Strohhalm.

Mein Vater erzählte auch vom Krieg. Dass er zunächst in den Niederlanden, Belgien und Frankreich war, später zweimal in Russland, bevor er dann wieder an die Westfront zog.

Er sprach von seinem Schäferhund Wotan, der in Belgien durch eine feindliche Kugel starb, von Kriegskameraden und Freunden, von Willi, der vor Moskau fiel. Er zeigte mir die Narbe der Wunde, die ihn aus Russland nach Hause gebracht und ihm dadurch, wie er meinte, das Leben gerettet hatte. Ich sah das Tagebuch, das er an der Front geschrieben hatte, ohne dass er mir daraus vorlas.

Er schilderte, wie er mit dem Motorrad bis fast vor Moskau fuhr, wie er nachts, wenn möglich, auf Friedhöfen geschlafen hatte, weil er sich dort am sichersten fühlte. Und er sagte, dass man an der Front im Dunkeln niemals rauchen dürfe, weil das Glühen der Zigarette dem Feind verrate, wo er die Stirn treffen könne. Ich war ja noch klein, keine zehn Jahre alt. Daher verstand ich von all dem, was er erzählte, nur wenig wirklich. Doch es bestätigte mich in meiner Meinung, dass mein Vater etwas ganz Besonderes war.

Ich war sicherlich kein einfaches Kind gewesen. Wenn mir etwas nicht behagte, bekam ich regelrechte Tobsuchtsanfälle. Einmal riss ich meinem Vater den Hut vom Kopf und warf ihn vor die Straßenbahn. Warum, weiß ich nicht mehr. Der Hut war kaputt und mein Vater zornig, doch er schlug mich nicht. Das tat er nie.

Ich glaube, den ersten tieferen Kratzer bekam unsere Beziehung, als ich dreizehn oder vierzehn Jahre alt war. Damals brachte ich einen Pudel mit, als ich von einem Ausflug mit meiner Mutter heimkehrte. Wir waren in der Stadt unterwegs gewesen und dabei an einer Zoohandlung vorbeigekommen. Im Schaufenster hatte ich diesen Hund gesehen und meiner Mutter lautstark erklärt, dass ich ihn unbedingt haben wolle. Vermutlich hätte sie mir sogar einen Löwen geschenkt, wenn ein solcher im Angebot gewesen wäre und ich darauf bestanden hätte. So aber war es bloß ein Pudel.

Schon als er bezahlt war, hatte ich jedes Interesse an dem Tier verloren. Als ich mit ihm nach Hause kam, fragte mein Vater bloß: »Was willst du damit?« »Weiß nicht.«

 

Er schaute mich lange an und sagte nichts. Fortan gehörte der Pudel zum Buchladen und wurde mit der Zeit zu Vaters bestem Freund. Ich glaube, er nannte ihn Heinrich, nach Heinrich von Kleist.

Als ich sechzehn oder siebzehn Jahre alt war, begann die Entfremdung zwischen uns unübersehbar zu werden. Ich ließ mir die Haare bis zur Schulter wachsen, immerhin waren wir schon in den siebziger Jahren. Zudem verachtete ich weder einen gelegentlichen Joint noch gute Rockmusik und ging in einem Bademantel, den ich auf dem Flohmarkt für fünfzig Pfennig erstanden hatte, zur Schule und zu Demos.

Zu Hause ließ ich mich nur noch unregelmäßig blicken. Wenn ich dann mal kam, gab es meist Streit. Mein Vater verlangte, dass ich mich an »die Ordnung« hielt, ankündigte, wohin ich für wie lange gehe, und zur verabredeten Zeit nach Hause kam. Selbstverständlich hatte er auch etwas gegen lange Haare, Joints, Demos, Rockmusik und Bademantel außerhalb des Schlaf- oder Badezimmers.

Eines Tages erklärte ich ihm nach einer besonders hitzigen Diskussion, die wir zum x-ten Mal zu diesem Thema geführt hatten, er rede wie ein Nazi. Ordnung, Gehorsam, Sauberkeit und Fleiß seien schließlich auch die Tugenden der Nazis gewesen, die sie sogar über die Tore ihrer Konzentrationslager geschrieben hätten. Und überhaupt seien ja alle in seiner Generation Nazis gewesen, wenn sie nicht Opfer waren.

Es war das erste und einzige Mal, dass mein Vater völlig außer sich geriet. Ich hatte mich bereits von ihm abgewandt, um hochmütig das Wohnzimmer zu verlassen, wie ich es immer am Ende einer solchen Debatte tat. Da packte er einen schweren Kerzenständer aus Messing, der vor ihm auf dem Tisch stand. Er riss ihn in die Höhe und lief mir nach. Dabei brüllte er: »Ich bin kein Nazi, ich war nie in der NSDAP gewesen und habe sie auch nie gewählt.«

Ich drehte mich zu ihm um und sah, wie er den Kerzenständer mit beiden Händen hochhielt, bereit, ihn mir auf den Kopf zu schlagen. Ich sagte nichts. Stattdessen schaute ich ihn an, mit einem Maß an Verachtung, zu dem einen wohl nur die Arroganz der Jugend befähigt.

Als er meinen Blick sah, senkte er zunächst die Arme und dann die Augen. Getroffen wandte er sich ab und ging zur Garderobe. Dort nahm er Hut und Mantel und lief mit Heinrich hinaus in die Nacht.

Ich hingegen fühlte mich als Sieger. Endlich hatte ich dem Alten die Wahrheit gesagt, die er, wie alle anderen seiner Generation, verdrängt hatte. Und ich hatte eine Macht gespürt, die ich zuvor noch nie empfunden hatte. Eine Macht, geboren aus der Scham eines anderen, gezeugt durch dessen Schuld und Verantwortung. Zugleich ergriffen mich Stolz und das beglückende Gefühl, auf der Seite der Wahrheit zu stehen, also auf der richtigen Seite.

Natürlich spielte ich weiter auf der Naziklaviatur. Es war ja so einfach, diese moralische Macht auszuspielen. Ich hatte, wie fast alle Kinder und Jugendlichen, ein unglaubliches Gespür für die Schwachpunkte des eigenen Vaters und keinerlei Scheu, diese auszunutzen. Das galt hier erst recht, da es sich um etwas handelte, was im Bereich des Schattens lag. Es bereitete mir boshafte Freude, das Verdrängte vermeintlich ans Licht zu zerren, den Finger in Wunden zu stecken und mich dabei gut und gerecht zu fühlen. Ich zog sogar nachts gelegentlich mit Freunden los, um an Wände und Türen »Ihr seid alle Nazis!« zu sprühen.

Als ich dann endlich das Abi in der Tasche hatte, war die Beziehung zwischen mir und meinem Vater mehr oder weniger am Ende. Beinahe jedes Thema war so vermint, dass ein Gespräch meist schon nach wenigen Sätzen explodierte. Und so schwiegen wir. Ich zog aus, ging nach Tübingen, um zunächst Politik- und Sozialwissenschaften zu studieren, bevor ich zu Jura wechselte. Anfang der achtziger Jahre landete ich in Berlin, wo ich blieb und schließlich Staatsanwalt wurde.

Mein Vater lebte weiterhin in Freiburg, in der kleinen Dreizimmerwohnung, in der ich aufgewachsen war, nah am Annaplatz. Den Buchladen schloss er erst, als er fünfundsiebzig wurde. Inzwischen hatte er die dreiundneunzig überschritten und fühlte sich nach wie vor gut, wie er mir bei unseren Telefonaten stets versicherte.

*

Es war früher Nachmittag, als ich in Freiburg ankam. Die Sonne schien golden. Menschen umarmten sich auf dem Bahnsteig, lachten vor Wiedersehensfreude. Andere strömten geschäftig zum Ausgang. Ich nahm ein Taxi und fuhr zum Krankenhaus. Dort bezahlte ich den Fahrer und stieg aus. Eine Brise strich durch die Bäume und ließ die Blätter rascheln. Ich fröstelte, obwohl mir eigentlich nicht kalt war.

»Ich möchte zu meinem Vater, Karl Eppinger.« Der Mann am Empfang tippte den Namen in den Computer. »Innere Abteilung, dritter Stock, Zimmer 317.«

Ich nahm die Treppe, um das Wiedersehen noch ein wenig länger aufzuschieben. Schließlich stand ich vor der Tür. Ich klopfte und trat ein. Mein Vater war nicht allein im Zimmer. Im Bett neben ihm lag ein Mann, vielleicht Anfang zwanzig und, soweit zu erkennen, zumindest an den Armen großflächig tätowiert. Er hatte Besuch von zwei jungen Frauen, von denen eine hochschwanger war. Ihr weißes T-Shirt spannte über dem Bauch, am rechten Handgelenk klapperten schmale, bunte Plastikreifen. An der Wand hing ein Fernseher, der halblaut lief.

Mein Blick fiel auf meinen Vater. Der war einmal ein stattlicher Mann gewesen, nicht sonderlich groß und schwer, aber eben stattlich. Nun wog er höchstens noch fünfundfünfzig Kilo.

Klein und schmal lag er in seinem Bett, der Bauch dick aufgetrieben, die Augen fest geschlossen. Die Haut, gelb verfärbt, spannte über Kinn, Stirn und Wangen. Sein greises Gesicht, eingefallen, klar und scharf, glich einer unwirklichen Maske, die über Zeit und Raum erhaben schien, wie der Abdruck eines Menschen, der noch hier und doch schon fort war. Es war das Gesicht eines Sterbenden.

Ich griff nach der mageren Hand, spürte jede Faser und jedes Knöchelchen. Mein Vater blinzelte und schlug die Augen auf. Er sah und erkannte mich. »Du hier? Hast du nichts Besseres zu tun?« »Frau Eberle hat mich angerufen und mir gesagt, dass du im Krankenhaus bist.« »Die Adele? So eine Schwatzbase!«

Die Tür öffnete sich. Eine junge Schwester glitt fröhlich herein und brachte dem Mann im Nachbarbett Kaffee und Kuchen. »Ah, wann ist es denn so weit?«, fragte sie die Schwangere. »In drei Wochen.« »Na, dann alles Gute für die Geburt.« Sie drehte sich um zu uns: »Und der Herr Eppinger hat Besuch. Sind Sie der Sohn? Schön, dass Sie hier sind.« Leise bat sie mich, später ins Schwesternzimmer zu kommen. Laut fuhr sie fort: »Ihr Vater mag ja keinen Kuchen mehr und erst recht keinen Kaffee.«

Als sie ging, knurrte mein Vater: »Was hat sie dir ins Ohr geflüstert? Dass ich bald sterbe? Das hätte ich dir auch sagen können.« Verlegen entgegnete ich irgendetwas, das so belanglos war, dass ich es gleich wieder vergaß. Ungefähr eine halbe Stunde blieb ich neben ihm sitzen. Ratlos schwiegen wir uns an. Schließlich begann ich von der Fahrt, meiner Arbeit und meiner Tochter zu berichten, um dem eigentlichen Thema Sterben auszuweichen.

Ich war erleichtert, als ich mich endlich verabschiedete. »Ich habe mir drei Tage freigenommen. Morgen komme ich wieder.« Draußen auf dem Gang bohrte sich der Geruch von Krankenhauskaffee und Desinfektionsmittel in meine Nase. Ich schaute mich suchend um, entdeckte ein Schild »Schwesternzimmer« und machte mich auf den Weg, die Bitte der Schwester zu erfüllen. Sie selbst sah ich zwar nicht. Dafür traf ich eine ältere, ernst blickende Oberschwester, Hanna, laut Schild am Kittel.

»Sie sind der Sohn von Herrn Eppinger? Schwester Steffi hat mich bereits informiert, dass Sie endlich da sind.« Ich wolle doch bestimmt mit dem behandelnden Arzt sprechen, was ich bejahte. Sie führte mich zu einem jungen Oberarzt, der, was sein Alter betraf, beinahe mein Sohn hätte sein können.

Dr. Lenhard, so hieß er, klärte mich schnell und effizient über den Zustand meines Vaters auf. Leberkrebs im Endstadium, so lautete der klare Befund. Eigentlich hatten sie ihn bereits vor einem Monat zum Sterben nach Hause entlassen. Dort habe es jedoch an einer Rundumbetreuung gemangelt. Als sich der Zustand weiter verschlechterte, habe ihn der Hausarzt erneut ins Krankenhaus eingewiesen. Aber jetzt sei ich ja da, um mich um ihn zu kümmern, sodass er zum Sterben wieder heimkönne.

Ich war sprachlos. Von alldem hatte mein Vater nie etwas erzählt. Als ich zuletzt mit ihm gesprochen hatte, schien noch alles zum Besten zu stehen. So zumindest hatte es am Telefon gewirkt. Ich versuchte dem Arzt zu erklären, dass ich in drei Tagen wieder nach Berlin müsse, wo meine Arbeit auf mich warte.

Dr. Lenhard schaute mich schweigend an. Ich fühlte mich unbehaglich und begann unter seinem Blick auf meinem Stuhl hin und her zu rutschen. Er nahm seine Brille von der Nase und wischte sie mit einem Taschentuch. »Sie wollen also Ihren Vater hier sterben lassen, derweil im Hintergrund ›Deutschland sucht den Superstar‹ oder ähnlicher Müll läuft?«

Dieser Schlag mit der Moralkeule traf mich mitten in die Magengrube. Mir wurde übel. Ich versuchte nochmals, mit meinen Akten und Fällen zu argumentieren. Dr. Lenhard setzte seine Brille wieder auf und erhob sich. »Nun, Ihr Vater kann hier nicht bleiben. Sein Zimmer ist kein Ort zum Sterben, und extra Zimmer dafür haben wir nicht. Im Übrigen wünscht er sich, wie die meisten Menschen, zu Hause einzuschlafen. Wenn Sie ihn nicht heimholen wollen, besorgen Sie ihm wenigstens einen Hospizplatz. Viel Zeit bleibt nicht.«

Damit war das Gespräch beendet. Ich verließ das Krankenhaus und fuhr zur Wohnung meines Vaters. Dort, wo früher seine Buchhandlung war, gab es jetzt einen Weinladen. Durch das Schaufenster sah ich eine Frau, vielleicht Anfang, Mitte vierzig, mit haselnussbraunen kurzen Haaren. Anscheinend war sie die Inhaberin. Sie bediente gerade zwei Kunden, ein älteres Ehepaar.

Ich wendete meine Augen zur Klingel an der Haustür. Frau Eberle öffnete gleich beim ersten Läuten. Ich lief die Treppe hoch. Als ich vor ihr stand, rief sie: »Grüß Gott, Stefan. Du willst bestimmt den Wohnungsschlüssel holen. Wie geht es deinem Vater? Ich war gestern bei ihm. Da sah er nicht gut aus.«

Ich murmelte irgendetwas und wollte mit dem Schlüssel, den sie mir reichte, schon gehen. Doch da sagte sie: »Moment mal, ich habe noch was für dich.«

Sie verschwand kurz in einem Zimmer am Ende der Diele und kehrte mit einer Katze zurück, die sie mir in den Arm drückte. Ich war so überrascht, dass ich mich nicht dagegen wehrte.

»Das ist Gustav, der Kater deines Vaters. Nun, da du hier bist, brauche ich mich ja nicht mehr um ihn zu kümmern.« Ich stand für einen Augenblick regungslos da. Jetzt, mit dem Tier auf dem Arm, erinnerte ich mich dunkel, dass mein Vater eine Katze besaß.

»Frau Eberle, es tut mir leid, ich kann mich nicht um Gustav kümmern. Ich fahre übermorgen nach Berlin zurück. Können Sie ihn nicht behalten oder ins Tierheim bringen?« Frau Eberle schaute mich schweigend an. Ihr bis dahin freundlicher Blick verdüsterte sich. Sie strich sich eine Strähne ihres kinnlangen weißen Haares hinter das Ohr, kniff zunächst die Augen und dann den Mund zusammen.

»Auf keinen Fall!« Mit diesen Worten knallte sie die Tür zu. Ich zuckte zusammen. Der Kater wand sich in meinen Armen, sodass ich ihn fallen ließ. Ich dachte, dass sich das Problem so vielleicht von allein lösen könne, indem er einfach davonlief. Aber der Kater machte einen Satz zur Wohnungstür meines Vaters gegenüber. Dort setzte er sich auf die Hinterpfoten und begann sich zu putzen. »Also gut, Gustav. Dann komm rein. Wir werden schon eine Lösung finden.«

Ich schloss die Tür auf. Drinnen roch es sauer und abgestanden. Alle Räume waren aber aufgeräumt und blitzsauber. Eilig öffnete ich die Fenster. Der Kater lief in die Küche zum Kühlschrank. Der war zwar leer, doch im Schrank fand ich Trockenfutter, das ich in ein Schälchen füllte. Gustav schnüffelte kurz und wandte sich dann ab. Offenbar gab es bei Frau Eberle etwas Besseres zu fressen.

Ich verließ die Wohnung und ging in den Bioladen gegenüber. Dort kaufte ich Brot, Käse, Butter, Kaffee, Milch, etwas Obst und Schinken. Anschließend betrat ich den kleinen Weinladen in unserem Haus. Verstohlen musterte ich die Frau, die einem Kunden gerade mehrere Weine vorstellte. Sie trug ein dunkelgrünes Samtkleid, das sich eng an ihren Körper schmiegte.

Ich fand die Frau auf eigenartige Weise schön. Sie war klein und zierlich. Die kurzen Haare umrahmten weich das ovale, von Sommersprossen übersäte Gesicht. Das Besondere aber waren die Augen. Das eine grün und das andere grau, zogen sie mich in ihren Bann. Plötzlich konnte ich weder das eine noch das andere mehr loslassen.

 

»Sie wünschen?« Ihre Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Sie klang tief und melodiös, samtweich wie zwanzigjähriger Cognac. Sie sprach zwar Hochdeutsch, doch ihr Akzent erinnerte sowohl an die Schweiz als auch an Frankreich.

»Kennen wir uns?« »Nein, ich bin nur zu Besuch hier. Mein Vater hatte hier mal seinen Buchladen.« »Der Herr Eppinger? Dann sind Sie der Sohn? Wie geht es ihm? Frau Eberle hat mir erzählt, dass er wieder im Krankenhaus ist.«

Ich antwortete, zerrissen zwischen der Lebendigkeit, die sie ausstrahlte, und dem sterbenden Gesicht meines Vaters, an das mich ihre Frage erinnerte. Leicht benommen hörte ich, wie sie ihren Namen nannte: Miriam, Miriam Weil. Rasch kaufte ich eine Flasche Rotwein und kehrte in die Wohnung zurück.

Ich schnitt mir etwas Brot und Käse ab, öffnete den Wein und kostete den Schinken. Draußen ging die Sonne unter. Ich saß in der Küche an dem alten Tisch, an dem ich mit meinem Vater so oft gesessen hatte, nachdem ich aus der Schule nach Hause gekommen war und er gekocht hatte. Ich sah ihn vor mir, wie er Obst und Gemüse schnippelte, Kartoffeln schälte, Eier oder Fleisch briet. Ich hörte seine Stimme, die nah und doch so fern war.

Plötzlich sprang Gustav auf meinen Schoß. Er war groß und schwer, schwarz, grau und rot getigert. Die Pfoten waren weiß. Vorne glichen sie weißen Pantoffeln und hinten hellen Stiefeln, aus denen rote Socken blitzten. Der Kater musterte mich mit seinen bernsteinfarbenen Augen und begann zu schnurren. Als es an der Tür klingelte, schubste ich ihn vom Schoß und öffnete. Draußen stand Frau Eberle.

»Ich wollte noch das Katzenklo zurückbringen und das restliche Futter für Gustav. Beides braucht er doch.« Ich bedankte mich, nahm die Sachen und schloss die Tür. Das Klo stellte ich ins Badezimmer. Dann ging ich in die Küche zurück, wo der Kater mittlerweile den restlichen Schinken und Käse gefressen hatte. Lang ausgestreckt lag er mitten auf dem Tisch und leckte sich das Maul. Ich räumte Brot und Butter weg, nahm mein Glas und die Weinflasche.

Im Wohnzimmer sah es ebenfalls noch so aus wie damals, als ich zu Hause gelebt hatte. Nur die Bücher hatten sich weiter vermehrt, vermutlich die Restbestände aus dem Laden. Ich setzte mich in den Ohrensessel, auf den Lieblingsplatz meines Vaters. Er stand vor dem Bücherregal, das an beinahe drei Wänden vom Boden bis zur Decke reichte. Ich legte meine Füße auf den Schemel und stellte den Wein auf das kleine runde Tischchen neben mich. Ich betrachtete das alte Sofa, auf dem eine hellgrüne Wolldecke lag. Davor standen ein halbhoher, runder, dunkler Tisch und zwei schwere Sessel, alles aus den dreißiger, vierziger Jahren. Seltsam, dass mein Vater nie das Bedürfnis gehabt hatte, sich von diesen alten Dingen zu trennen.

Ich nahm einen Schluck Rotwein und schaltete den Plattenspieler an, ohne darauf zu achten, was aufgelegt war. Wild und ungestüm tönte eine Art Fanfare. Gleich darauf setzte der Tenor ein: »Schon winkt der Wein im goldenen Pokale, doch trinkt noch nicht, erst sing ich euch ein Lied!«

Natürlich Gustav Mahler, der Lieblingskomponist meines Vaters. Vermutlich nach ihm hieß der Kater Gustav. Die Marotte, Haustiere nach Künstlern zu nennen, hatte mein Vater wohl nie abgelegt. Mahlers »Lied von der Erde«, unendlich dunkel, traurig und doch zugleich unwirklich, himmlisch schön. Ich lehnte mich zurück und lauschte.

Was war geschehen, dass mein Vater und ich uns so entzweit hatten? Er war doch kein übler Mensch. Ich hatte ihm viel zu verdanken. Als ich Kind war, hatte er mir Liebe und Respekt geschenkt. Später bezahlte er mein Studium, obwohl es ihm finanziell schwerfiel und wir bereits kaum noch miteinander sprachen. Und jetzt? Anscheinend hatten wir einander so tief verloren, dass er mir nicht einmal sagen wollte, dass er todkrank war. Warum eigentlich nicht? Wollte er mir ein schlechtes Gewissen bereiten? Sollte ich mich dafür schämen, dass ich ihn in all den Jahren und Jahrzehnten so selten besucht hatte?

Ich sprang auf, ballte die Hände in den Taschen meiner Cordhose, lief zum Fenster und zurück. Ich wollte mich nicht schämen! Sicher, so war es bequemer gewesen für mich. Aber die seltenen Besuche hatten uns beide geschützt. So konnten wir wenigstens die Illusion wahren, dass wir uns verstehen. Denn die räumliche Distanz hatte zwischen uns eine Nähe geschaffen, die es in Wahrheit schon lange nicht mehr gab. Jede Begegnung hatte das offenbart.

Am ersten Tag freuten wir uns noch, einander zu sehen, weil das Wunschbild, die Sehnsucht nach einer intakten Beziehung, der Trug überwog. Wir hatten, wenn auch oberflächlich, Themen, indem wir uns erzählten, was wir seit dem letzten Treffen erlebt hatten. Da ich natürlich nicht alles preisgab und im Alltag meines Vaters vermutlich kaum noch Neues geschah, war dieser Gesprächsstoff aber bald erschöpft. Am zweiten Tag begann dann das Schweigen. Spätestens am dritten fing einer an, den anderen zu provozieren.

Häufig war er es. Er machte irgendeine rassistische Bemerkung, indem er beispielsweise von »den kriminellen Ausländern« sprach, die »Deutschland überfluteten, die Sozialsysteme ausnutzten und endlich hinausgeworfen gehörten«.

Es lief dann stets der gleiche Film ab. Ich ging an die Decke, schimpfte ihn einen Rassisten, schämte mich für ihn und seine Haltung, was mich noch wütender machte, versuchte mich zu beherrschen, argumentierte mit Zahlen und Fakten. Er wiederum nannte mich naiv, was mich augenblicklich noch mehr ärgerte.

Nachdem ich diesen zerstörerischen Mechanismus durchschaut hatte, reiste ich, inzwischen seit vielen Jahren, stets am zweiten Tag ab, bevor uns das Schweigen wie Mehltau überzog.

Vielleicht aber hatte mich mein Vater nur schützen wollen, indem er mir sein Sterben verschwieg? Auch dieser Gedanke besänftigte mich kaum. Schließlich war ich kein Kind mehr, das man schonen musste. Allein in meinem Beruf begegnete mir oft genug der Tod.

Ich trank mein Glas leer. Ich spürte, wie der Wein anfing zu wirken, und goss mir gleich noch ein Glas ein. Vielleicht aber war es die Einsamkeit gewesen, die Gabe und die Last, Freude und Leid mit sich allein auszutragen, die meinen Vater verstummen ließ. So lange ich ihn kannte, hatte er nie über seine Gefühle, Ängste, Träume und Hoffnungen gesprochen. Nur damals, als ich Kind war, hatte er manchmal darüber geredet, wenn er von seiner Kindheit, der eigenen Jugend und dem Krieg erzählte.

»Ich weine viel in meinen Einsamkeiten. Der Herbst in meinem Herzen währt zu lang«, sang die Altstimme in Mahlers Lied. Plötzlich fühlte ich mich unendlich traurig und schlecht. Ich spürte eine Einsamkeit, wie ich sie bis dahin noch nie empfunden hatte. Ein Alleinsein, so tief und trostlos, das sich wie ein Faden durch das Leben meines Vaters zog und das ich so lange verdrängt hatte. Ich trank mein Glas in einem Zug leer. Mein Gehirn tobte wirr und wund. Irgendwann schlief ich im Ohrensessel ein.

*

Als ich wieder erwachte, dämmerte bereits der Morgen. Mein Mund brannte staubtrocken. Die Beine, auf denen Gustav ruhte, fühlten sich bleiern an.

Ich stand auf, schlürfte in die Küche und kochte Kaffee. Im Badezimmer stellte ich die Kanne und meine Tasse auf den Rand der Wanne und ließ Wasser ein. Ich zog mich aus und tauchte unter. Langsam weckten mich das warme Wasser und der heiße Kaffee. Ich überlegte, wie es jetzt weitergehen sollte. Klar war, zunächst musste ich einen Hospizplatz finden. Allerdings hatte ich nicht die geringste Ahnung, wie viele davon in Freiburg überhaupt existierten.

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