Hekate

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Erde, Unterwelt, Geisterwelt

Hekate ist sicherlich eine Nachfahrin dieser steinzeitlichen „starren nackten“ Göttin. Allerdings hat sich ihre Erscheinung im Laufe der Geschichte zweifellos an die Gegebenheiten angepasst; wir müssen insbesondere berücksichtigen, dass ursprünglich matrizentrische Vorstellungen in einen patriarchalen Kontext eingepasst wurden, was dazu führen kann, dass ursprünglich positive Eigenschaften negativ gewertet werden oder ursprünglich sinnvolle Symbole später nicht mehr richtig verstanden oder missdeutet werden. Wenn wir versuchen, Hekates Wesen provisorisch zu umreißen, ergibt sich ungefähr folgendes Bild:

Hekate ist ein Aspekt der großen Erdgöttin. Die Erde steht für alles, was Form und Materie ist; da die weibliche Kraft im Universum die Gestaltgeberin ist, die die ursprünglich ungebundene Energie in eine Form bringt. Die Erde ist auch das Reich der Toten und der Ort der Wiedergeburt: Wenn etwas stirbt, existiert eine subtile Form des Lebewesens weiter, die in die „Unterwelt“ geht und dort aufgesucht oder beschworen werden werden kann. Schon zu Lebzeiten kann sich der subtile Körper von dem grobstofflichen Fleischkörper trennen und im Traum oder in Trance umherwandern; solche Schattenkörper können durchaus Schaden anrichten, weshalb man in der Antike großen Wert darauf legte, sich vor den Seelen der Verstorbenen zu schützen. Der Ort dieser Schattenwelt wird allgemein unter der Erde gedacht. Die Göttin, die diesem Unterweltbereich vorsteht, ist ein Aspekt der Erdgöttin, aber ein eher verborgener, unheimlicher Aspekt, der nicht direkt greifbar ist und das Zwischenreich des Traums, des Todes, des Okkulten, der Hexerei und Magie beherrscht. Dieser Zwischenbereich wird mit der „schwarzen“ Sonne in Verbindung gebracht, die nachts unter der Erde von Westen nach Osten wandert, später wird dieses Reich in den Mond verlegt.

Sehr treffend resümiert der französische Archäologe Alfred Laumonier 1958 in seiner Studie über die einheimischen Kulte im antiken Karien, der Heimat der Hekate:

Der weibliche Aspekt der Gottheit ist die Materie, die Welt der Formen, aber diese lebende Materie ist bald die sichtbare und berührbare physikalische Materie, Pflanzen, Tiere, Menschen (Demeter, Artemis, Aphrodite), bald die subtile psychische und „strahlende“ Materie (Hekate), bald die geistige Materie (Athene). Und jede der Gottheiten Griechenlands, die ursprünglich die Komplexität eben dieser eminent plastischen Materie wiedergab, hat sich nach und nach auf einen Aspekt dieser gewaltigen Weiblichkeit spezialisiert, die die Hindus insgesamt Maya nannten. (…) Hekate ist die Göttin der untersten unsichtbaren Welt – der Welt der Entkörperten, der gespenstischen Gestalten, der Larven, der unbegrabenen Toten, deren Ausgang und Aktivität die Nacht begünstigt. Aber diese Welt ist auch die sublunare Welt, die „astrale“ Welt des Okkultisten, die Welt des Fegefeuers, in der die schwarze Magie gern arbeitet, die Hexerei. Wie alle Göttinnen ist sie ursprünglich eine chthonische Göttin, weil die Erde die Mutter aller unsichtbaren Formen ist, sie, die auf der Erde durch ihre kondensierende Kraft, durch ihre Passivität, die männlich-aktive, aber sublimierende Kraft der Sonne ausgleicht.17

Das Material: die antike Literatur

Für eine ernsthafte Beschäftigung mit Hekate ist es notwendig, sich zunächst mit den antiken Quellentexten zu beschäftigen. Hierzu stellt uns die Altertumswissenschaft eine Menge an Material zur Verfügung, das durch allerlei Nachschlagewerke hervorragend erschlossen ist (und von der gängigen esoterischen Literatur aber offensichtlich weitgehend ignoriert wird). Günstig ist auch, dass sich in den letzten Jahrzehnten in der Altertumswissenschaft ein verstärktes Interesse für die magischen und irrationalen Aspekte der antiken Religion bemerkbar macht, „auch unter dem Einfluß eines gesamtkulturellen Interesses an Esoterik, das sich am aufklärungsmüden Ende des (20.) Jahrhunderts breitgemacht hat“18 . Karl Preisendanz, der erste Herausgeber der antiken Zauberpapyri, berichtet hingegen davon, wie sein Lehrer Albert Dieterich 1905 in Heidelberg ein Seminar über antike Magie im Vorlesungsverzeichnis noch mit einem harmlosen Titel tarnen musste, um nicht „unseriös“ zu erscheinen. Der starre Gegensatz zwischen dem „wüsten Aberglauben der Zauberpapyri“ (Wilamowitz-Moellendorf) und der „echten“ Religion der olympischen Götter, den J. G. Frazer („The Golden Bough“) Ende des 19. Jahrhunderts zum Dogma erhoben hatte, spielt heute keine Rolle mehr. Inzwischen hat die Altertumswissenschaft selbstkritisch aufgearbeit, wie stark solche Anschauungen vom Fortschrittsglauben des 19. Jahrhunderts (der Magie als unvollkommene Vorstufe von monotheistischer Religion und Wissenschaft sah) und von der christlichen Prägung der Forscher abhingen. Die Debatte über die Funktion und den Stellenwert von Magie, die im 20. Jahrhundert in der Ethnologie geführt wurde (Malinowski, Tylor, Mauss, Evans-Pritchard), brachte auch die Altertumswissenschaftler seit den sechziger Jahren dazu, zunehmend neue Wege zu gehen. Forscher wie E. R. Dodds, Walter Burkert, Volkert Haas, Georg Luck, Fritz Graf und Sarah Johnston haben seit den sechziger Jahren das Feld der antiken Mythologie, Religion und Magie neu vermessen. Da Hekate nun einmal die Göttin der Hexen und Zauberer ist, rückt auch sie zunehmend in den Mittelpunkt des Interesses. Auf der anderen Seite hat die feministische Forschung ein ganz neues Interesse an den Göttinnen erzeugt und einige interessante Erkenntnisse gewonnen, auch wenn Forscherinnen wie Marija Gimbutas oder Gerda Lerner im akademischen Milieu nach wie vor ausgegrenzt werden.

Mein Interesse an dem Thema ist aber kein rein wissenschaftliches. Neben altertumswissenschaftlicher Fachliteratur und antiken Quellen zitiere ich daher auch feministische Literatur „unseriöse“ Autoren aus dem Schattenreich des westlichen Okkultismus (etwa den vielgeschmähten Aleister Crowley), soweit ich das Gefühl habe, dass sie Aspekte beleuchten, die bloße Philologie nicht abdecken kann. Außerdem versucht der zweite Teil dieser Studie, die Gegenwärtigkeit der Göttin aufzuzeigen.

Ich konnte auch nicht davon absehen, dass ich zehn Jahre in einer tibetisch-buddhistischen Tradition verbracht habe und mit dem buddhistischen Tantrismus in Berührung kam, wobei sich mir immer mehr die Frage stellte, ob es das, was im Osten „Tantra“ heißt, nicht auch einmal im Westen gegeben hat und heute wieder geben könnte. Die verborgenen, lange verschüttet gebliebenen Spuren des westlichen Tantrismus ein Stück weit freizulegen und zu der überfälligen Renaissance des Heidentums in Europa meinen bescheidenen Beitrag zu leisten, ist deswegen ebenfalls Ziel dieser Arbeit.

Es steht folglich zu befürchten, dass mein Text heillos zwischen Altertumswissenschaft, Buddhismus und Okkultismus, Tantra, Magie und Altertumswissenschaft oszilliert, und ich selber zwischen allen Stühlen sitze. Aber wer sich im Dämmerlicht des Übergangs auf der Kreuzung zwischen den Wegen herumtreibt, hat vielleicht eine Chance, der Enodia, der Wegegöttin, zu begegnen.

1 Ludwig Klages, Der Geist als Widersacher der Seele, 1932, S. 1316

2 Ludwig Klages, Der Geist als Widersacher, Bd. 3/II, S. 1317.

3 Herbert J. Rose: Griechische Mythologie. Ein Handbuch. München: C. H. Beck 2003, S. 1 - 12.

4 C. G. Jung: Gesammelte Werke, Band XIII, Olten 1978, S. 20 f.

5 Jung: GW XIII, S. 43.

6 Jung, GW XIII, S. 44.

7 Jung, GW XIII, S. 45.

8 Jung, GW XIII, S. 48.

9 C. G. Jung: Über die Energetik der Seele (1928). In: GW, Bd. 8, S. 60.

10 Jutta Voss: Das Schwarzmond-Tabu. Stuttgart 1990, S. 59

11 Ralph Metzner: Der Brunnen der Erinnerung. Von den mythologischen Wurzeln unserer Kultur. Braunschweig 1994, S. 166 - 168.

12 Eine eindrückliche Vision der Todesgöttin findet sich auch in Regine Leisners Roman „Unter dem Rabenmond“ (2008).

13 Dank an Regine Leisner für die Zusammenstellung der Korrespondenzen. Auch Erich Neumann geht in seinem klassischen Werk „Die große Mutter“ von vier Aspekten der Göttin aus. In der neueren feministisch-esoterischen Literatur ist in letzter Zeit ebenfalls eine gewisse Tendenz spürbar, von vier Gesichtern der Göttin zu sprechen, vgl. etwa Elizabeth Davis/Carol Leonard: Im Kreis des Lebens, Engerda 2005.

14 Marija Gimbutas: Die Sprache der Göttin. 4. Aufl., Frankfurt 1998, S. 198.

15 Mahlstedt, S. 77.

16 Mahlstedt, S. 92.

17 Alfred Laumonier: Les cultes indigènes en Carie. Paris 1958, S. 414 f. Meine Übersetzung.

18 Fritz Graf: Gottesnähe und Schadenszauber. München 1996, S. 15.

 

Teil I
Hekate in archaischer Zeit


Hekate ist geheimnisvoll und unter den antiken Göttinnen eine der vielgestaltigsten (polymorphos). Die Forschung hat sie lange vernachlässigt, da sie in Kunst und Mythos der Antike weniger augenfällig ist als andere Gottheiten. Hinzu kam, dass sie als unheimliche Göttin der Verstorbenen und der Hexerei alle denkbaren Vorurteile gegen „Okkultismus“, Magie und Aberglauben aktiviert. Mit der spätantiken Überlieferung der Zauberhandschriften, Verfluchungstäfelchen und neuplatonischen Theurgie, in denen unsere Göttin eine überragende Stellung erlangt, mochte man sich in der Altertumswissenschaft lange nicht gern beschäftigen, da diese Epoche als dekadente Verfallszeit nicht hoch im Kurs stand. Man überließ diese Zeit, die ja gleichzeitig die Frühzeit des Christentums ist, lieber den Theologen, von denen man keinen unvoreingenommenen Blick auf das antike Heidentum erwarten konnte.

In den letzten Jahrzehnten hat sich jedoch einiges getan. Es sind einige akademische Arbeiten erschienen, die ein differenzierteres Bild der Göttin gezeichnet haben. Hervorzuheben sind die kunstgeschichtliche Monographie von Theodor Kraus (1960), Sarah Johnstons Studie über Hekate und die chaldäischen Orakel (1990), Stephen Ronans Textsammlung von 1992, von Rudloffs Studie (1999), Bergs kommentierte Ausgabe der Proklos-Hymnen (1999), die Wiener Magisterarbeit von Karin Zeleny (1999) und die Monographien von Wolfgang Fauth (2006) und Nina Werth (2007). Gemeinsam ist diesen Arbeiten, dass sie das herkömmliche Bild der „bösen“ und „dämonischen“ Hekate revidiert haben und stattdessen das Bild einer bipolaren, vermittelnden Wesenheit zeichnen, die Übergänge herstellt und beherrscht: „Sie ist keine ihrem Wesen nach dämonische Gottheit, sondern eine der Grenzbereiche, die damit befasst ist, ihren Verehrer durch gefährliche und unsichere Gebiete des Niemandslandes jenseits des Gewissen und Bekannten zu führen, wie Geburt und Tod und, auf der physikalischen Ebene, Kreuzwege und Türen.“1

Hekates Entwicklung in der Antike lässt sich in drei Phasen gliedern: eine vorklassische, eine klassisch-hellenistische und eine chäldäisch-neuplatonische ab dem 2. Jahrhundert nach Christus. In der ersten Phase ist sie eine kleinasiatische Spielart der Magna Mater (Mêter), die nach und nach in das Pantheon der Griechen integriert wird. Sie trägt ursprünglich eher erdhafte und solare Züge, ihre unheimliche Seite tritt in den ältesten Texten nicht offen zutage. In der Zeit der Klassik und des Hellenismus, also etwa ab dem 5. und 4. Jahrhundert v. Z., steigt sie zur Göttin der Geister, der Magie und der Nacht auf und wird zunehmend mit Artemis-Diana und der Mondgöttin Selene gleichgesetzt. In der dritten Phase, die ab dem 2./3. Jahrhundert nach Chr. anzusetzen ist, wird Hekate bei den Neuplatonikern zur „Göttin Natur“, zur Verkörperung der Weltseele oder des höchsten weiblichen Prinzips, während sie nach wie vor die Göttin der Magie bleibt und als solche eine bedeutende Rolle in der neuplatonischen Theurgie spielt.

Wie sich das Bild der Göttin über tausend Jahre in der Antike entwickelt hat, will ich im Folgenden aufzeigen. Dabei gehe ich von der Prämisse aus, dass die Göttin in den einzelnen Epochen auf durchaus unterschiedliche Art und Weise erschienen ist, aber im Grunde immer dieselbe blieb. Sie ist die „Vielnamige“ und „Vielgestaltige“ (Polymorphos) mit den tausend Gesichtern und tausend Namen (Isis myriônymos), die sich doch immer gleich bleibt.

Herkunft und Erscheinung

Die Göttin kommt aus dem Osten.2 Ihr Heimatland ist das kleinasiatische Karien, das südlich des Großen Mäanders liegt und ihm Süden an das Ägäische Meer angrenzt. Ins Landesinnere erstreckt sich der Taurus, die Küste ist von vielen tiefen Meeresarmen eingeschnitten. Vor der Küste liegen die Inseln Samos, Rhodos und Kos, bekannte griechische Städte an der Küste waren Milet, Halikarnassos und Knidos. Das benachbarte Phrygien, zu dem auch Troja gehört, ist die Heimat der in orgiastischen Riten gefeierten Muttergottheit Kybele, die seit dem zweiten punischen Krieg auch in Rom von Staats wegen verehrt wurde.

Hekate stammt also aus Kleinasien und ist mit der Magna Mater (meter) verwandt, deren Kult in Anatolien seit der Steinzeit blühte. Ursprünglich hatte sie einen Partner-Gott, der den Namen Hekatos trug. Diese männliche Gottheit wurde schon bald von dem ebenfalls kleinasiatischen Apollon assimiliert, so dass „Hekatos“ zu einem Beinamen des Apollon wurde. Dadurch wurde auch Hekate in die Nähe Apollons gerückt und konnte mit dessen Schwester Artemis (Diana) identifiziert werden, was in der Spätantike auch häufig geschah. Dennoch konnte sich Hekate immer auch als eigenständige Gottheit behaupten und sich über Karien, Thrakien und Thessalien sogar bis nach Athen ausbreiten. Mit Apollon gemeinsam hat sie die Funktion als Hüter der Tore und das Glänzende ihrer Erscheinung, das sich in Beinamen wie epiphanês, epiphanestátê (Leuchtende), megistê (Große) und sôteira (Retterin) ausdrückt.

Bevor wir aber näher auf die frühen griechischen Belege für den Hekate-Kult eingehen, wollen wir ihrer orientalischen Herkunft noch etwas weiter nachgehen. Die kleinasiatische Herkunft der Göttin legt nahe, ähnlich wie bei Aphrodite nach Beziehungen zur hurritischen, hethitischen, mesopotamischen und phönizischen Götterwelt zu forschen.3

Die Bücher des Berliner Hethitologen Volkert Haas liefern hierzu ergiebiges Material.4 Ein erster Hinweis ist die Tatsache, dass es in der hethitischen Kultur eine wichtige Göttin mit dem Namen „Hepat“ (Hebat, Hepit, Khepan) gab, deren Name verdächtig ähnlich klingt. Stutzig macht auch, dass in den spätantiken chaldäischen Orakeln Hekate mit dem syrischen Wettergott Hadad verbunden wird, dessen Partnerin eigentlich die Sonnengöttin Atargatis war. Das Symboltier der Atargatis (und der Hepat!) war der Löwe, der der Hekate allerdings selten zugewiesen wird, jedoch werden beide Göttinnen als „Drachenfrauen“ mit schlangen- oder fischförmigem Unterleib dargestellt und tragen einen leuchtenden Kopfschmuck (polos, seit der Steinzeit ein häufiges Attribut der Erdgöttin).5 Das verbreitete alte Motiv der Göttin als „Herrin der Tiere“ mit zwei Löwen, das wir vor allem von Kybele-Darstellungen her kennen, taucht übrigens auch in der etruskischen Kunst auf, so auf dem Antefix im Kampanischen Provinzmuseum von Capua, das aus dem 6. Jahrhundert v. Z. stammt.6

Hekate scheint, wie aus ihren Attributen erschlossen werden kann, in ihrer frühesten Form eine Erd- und Sonnengöttin gewesen zu sein, und keinesfalls eine Mondgöttin, wie schon der englische Altphilologe Herbert J. Rose 1928 urteilt:

Eine Göttin, die wie Hekate ursprünglich eine Fruchtbarkeitsgöttin war und von der man glaubte, dass sie nachts erscheine, musste früher oder später mit dem Mond in Verbindung gebracht werden. Es wird nicht selten angenommen, dass die drei Gesichter ihrer Kultbilder für ihre drei Erscheinungen stehen, als Selene am Himmel, als Artemis auf der Erde, als Hekate in der Unterwelt. Aber da unsere früheste Quelle weder etwas von ihrer Beziehung zum Mond noch zu den unterirdischen Regionen weiß und es keinen Hinweis dafür gibt, dass Hekate und Artemis ein und dieselbe waren, sie vielmehr deutlich unterschieden sind, haben wir weder das Recht, anzunehmen, dass Hekate ursprünglich Artemis, noch, dass sie eine Mondgöttin war.7

Auch Robert von Rudloff weist in seiner Studie „Hecate in Ancient Greek Religion“ (1999) schlüssig nach, dass Hekate ursprünglich keine Mondgöttin gewesen sein kann.

Doch wie kann eine Erd- gleichzeitig Sonnengöttin sein? Die Antwort auf diese Frage liegt auf der Hand, wenn man sich einmal in die Weltanschauung eines archaischen Menschen hineinversetzt: Indem die Erde als Erzeugerin der Sonne gedacht wird, die jeden Abend die Sonne wieder in sich aufnimmt und sie am Morgen neu gebiert. Nach antiker, geozentrischer Vorstellung versinkt die Sonne nämlich abends im Westen und reist während der Nacht unterirdisch in den Osten zurück, um dort ihren Lauf von neuem zu beginnen. Die „Sonne um Mitternacht“ (Apuleius, Met. XI) wäre also die Sonne unter der Erde, die in der Nacht gen Westen geführt wird – und zwar von der großen Erdgöttin, die anfänglich auch eins mit dem Himmel gewesen ist, und erst später vom Himmel getrennt wurde, der dann mit männlichen Gottheiten besetzt wurde. Dabei wurde der Himmel (Uranos) mit der Sonne und dem Symboltier Stier assoziiert, während die Erde (Gaia) mit der unterirdischen Sonne und der Nacht verbunden wurde und das Symboltier Löwe erhielt. Da die Göttin aber nach wie vor der Ursprung von allem war, war sie natürlich auch nach wie vor die große Lichtbringerin, wie es auch die ägyptische Hathor, die keltische Brigid oder die Sternengöttin Nut (Nu, Nuit) sind.

Auch die Ekliptik, d. h. der jährliche Weg der Sonne um die Erde, führt die Sonne im Winterhalbjahr scheinbar unter die Erde. Im ptolemäischen System wird die Entstehung der Jahreszeiten dadurch erklärt, dass die Sonne sich auf ihre Bahn ab März über den Himmelsäquator erhebt und im Juni ihren höchsten Stand erreicht. Im September ist wieder auf die Höhe des Himmelsäquators zurückgekehrt und taucht nun scheinbar nach Süden unter die Erde, wobei sie im Dezember den Tiefststand erreicht und erst im März wieder auf der Höhe des Himmelsäquators ankommt. Die Ekliptik war für die Alten sehr wichtig, da sie Sommer und Winter zu machen schien und wurde nach den dahinterliegenden zwölf Sternbildern eingeteilt, die den Zodiacus von Widder, Stier, Zwillinge usw. bilden. Zusammen mit ihrer täglichen Drehung um die Erde ergibt sich im geozentrischen System ein Spirallauf der Sonne um die Erde, die Sonne beschreibt jeden Tag einen vollen Kreis um die Erde, setzt dabei aber in jedem Halbjahr jeweils ein klein wenig höher bzw. tiefer an.8

Hekate ist unserer Meinung nach also ursprünglich die Göttin der unterirdischen, nächtlichen Sonne. Diese These lässt sich mit Hilfe der hethitischen Überlieferung stützen, der wir uns nun zuwenden wollen.

Kleinasiatische Sonnengöttinnen

Sonnengöttin von Arinna, meine Herrin, aller Länder Königin! Im Hatti-Lande gabst du dir den Namen Sonnengöttin von Arinna, in dem Lande aber, das du zu dem der Zeder machtest, gabst du dir den Namen Hepat!

Die hethitische Königin Puduhepa, um 1250 v. Chr.

Hierzu müssen wir uns etwas näher mit der kleinasiatischen Erdgöttin beschäftigen, die seit dem Neolithikum in Anatolien nachweisbar ist. Die ältesten Funde (Catal-Hüyük und Hacilar) stammen aus dem 7. Jahrtausend v. Z. und zeigen eine Göttin, die thronend, säugend, gebärend oder in sexueller Vereinigung mit einer männlichen Gottheit dargestellt ist. Ob wir diese Kulturen wirklich als „matriarchal“ oder „matrizentrisch“ bezeichnen können, mag zweifelhaft erscheinen, doch können wir sicherlich davon ausgehen, dass die Frauen in diesen frühen Gesellschaften eine relativ starke Stellung hatte und dass die Göttin in dieser Phase als die eine allumfassende Macht gesehen wurde, die Himmel und Erde, Ober- und Unterwelt umfasste, Leben gab und Leben nahm.

Diese machtvolle Erdgöttin, die zugleich auch „Herrin des Himmels“ (sumerisch: GAŠAN-AN-NA) ist, spaltet sich in verschiedene Hypostasen auf, die verschiedene Funktionen erfüllen. Aus dem „negativen Elementcharakter der Erde“9 (wie Haas sich ausdrückt) gehen ambivalente Todes- und Unterweltsgöttinnen wie Ereškigal, Allatum, Allani und Lelwani hervor. Während Allani durchaus jung und verführerisch sein kann, sind die greisenhaften Schicksalsgöttinnen, die bei den Hethitern dann Istušaya-Papaya heißen, unberechenbar und gefährlich. Auch die Großmuttergöttinnen Hannahanna und Am(m)am(m)a, die mit Schicksal und Geburt zu tun haben, sind bedrohlich. Sie werden in hethitischen Texten als DINGIR.MAH.mes („mächtige Göttinnen“) bezeichnet und sitzen wie die Nornen und Parzen am Ufer des Schwarzen Meeres, wo sie mit ihren Spinnröcken und Spindeln die Lebensjahre des Königs spinnen.10

 

Ab dem 4. Jahrtausend gelingt es den Männern, die Frauen immer stärker von sich abhängig zu machen, und parallel dazu die ersten großen Staaten aufzubauen. Neben die großen Göttinnen treten zunehmend männliche Sturm- und Himmelsgötter, die sich mit der Göttin in der „heiligen Hochzeit“ verbinden, und als deren menschliche Ebenbilder sich die Herrscher der neuen Großreiche sehen. Das Symboltier der Göttin ist der Löwe (Kybele, Ischtar, Atargatis, Hepat), das des Gottes ist der Stier. In einem langwierigen Prozess, der sich vom 4. bis zum 1. Jahrtausend v. Z. hinzieht, bildet sich dann die eigentliche patriarchale Gesellschaft heraus:

Obwohl die Herausbildung der archaischen Staaten (...) deutliche Veränderungen in den Machtbeziehungen zwischen Männern und zwischen Männern und Frauen mit sich brachte, gab es keinen Hinweis auf einen „Umsturz“. Die Periode der „Durchsetzung des Patriarchats“ war nicht „ein Ereignis“, sondern ein Prozess, der sich in einem Zeitraum von etwa 2500 Jahren, ungefähr von 3100 bis 600 v. Chr. vollzogen hat.11

Das zentrale Ritual in dieser Zeit ist die „heilige Hochzeit“. Sie beruht auf dem Glauben, dass die Fruchtbarkeit von Land, Vieh und Mensch abhängig sei von der Zelebrierung der sexuellen Kraft der Fruchtbarkeitsgöttin. Dabei vereinte sich die Göttin (z. B. Inanna in Uruk) mit dem Hohepriester, der den Gott repräsentierte, oder mit dem König. Die jährliche Wiederholung dieser mythischen Vereinigung war eine öffentliche Zeremonie, die für das Wohl der Gemeinschaft von größter Bedeutung war. In einigen Ritualen gingen der Hochzeit der Tod und die Auferstehung des Gottes (Dumuzi, Adonis, Attis) voraus:

Die Entthronung der mächtigen Göttinnen und ihre Ablösung durch einen dominanten männlichen Gott vollzieht sich in den meisten Gesellschaften des Vorderen Orients nach dem Errichten eines starken und imperialistischen Königtums. Zunehmend wird die Funktion der Kontrolle der Fruchtbarkeit, die zuvor ganz den Göttinnen oblag, dargestellt durch die symbolische oder tatsächliche Vermählung des männlichen Gottes oder Gottkönigs mit der Göttin oder ihrer Priesterin. Schließlich werden Sexualität und Fruchtbarkeit voneinander getrennt und durch das Erscheinen von entsprechenden Göttinnen für jede dieser Funktionen symbolisiert, wobei die Muttergöttin zur Gemahlin/Gefährtin des obersten männlichen Gottes wird.12

Als die indogermanischen Luwier, Palaer und Hethiter ab 2000 v. Z. nach Kleinasien einwanderten, fanden sie die einheimische bronzezeitliche Kultur der Hattier vor, die bereits eine recht hohe Kulturstufe erreicht hatte und eine Große Göttin unter verschiedenen Namen verehrte. Die Hethiter hingegen verehrten vor allem den Himmels- und Lichtgott Sius (von idg. *Dieus), der mit dem griechischen Zeus verwandt ist. Dieser Wettergott, der hurritisch Tessub (Teššob, „hoch, herrlich“) bzw. hethitisch Tarhunt hieß, sah sich nun mit der machtvollen hattischen Erd-, Unterwelts- und Sonnengöttin konfrontiert, die Namen wie Estan, Wurunsemu, Šawoška oder Hepat trug:

Ihr hattischer Name Wurunsemu enthält das hattische Wort /wur/ „Erde“; hurritisch heißt sie Allani, gebildet aus allai „Herrin“. In ihrer Eigenschaft als Unterweltsgöttin führt sie den noch ungedeuteten Namen Lelwani oder die sumerische Bezeichnung Ereškigal „Herrin der großen Erde“. Als Mutter- und Schicksalsgöttin heißt sie auch Hannahanna, eine Reduplikation von hann- „Großmutter“. Inara ist ihr hattischer Name, wenn man die Schutzgöttin des Hatti-Landes meint. Zumeist aber verehrt man sie unter dem Namen „Sonnengöttin von Arinna“. Arinna ist wie Nerik, Zippalanda oder Kastama eine alte hattische Kultstadt. In Beschwörungsritualen, aber auch gelegentlich sonst, ruft man sie als Sonnengöttin der Erde an. Sicher bezieht sich dieser Aspekt einer Sonnengöttin der Erde auf die Vorstellung der des Nachts in der Unterwelt weilenden Sonne, die des Morgens als „Sonnengottheit des Wassers“ von der Unterwelt, die tief unterhalb des Meeres gedacht ist, aus den Wassern emporsteigt. Nun ist die Sonne in der hattischen Religion nicht wie bei den Hethitern oder Babyloniern männlich, sondern weiblich. In einem althethitischen Text ist sie noch mit dem Attribut „Tochter“ versehen: „Und die Frau Erde und die Tochter Sonne“.13

Als Sonnengöttin trug sie den Namen Estan (später Arinna und Hepat) und war die Herrin des Landes, das sie dem König in ihrer Funktion als „Throngöttin“ übertrug. Die Legitimität des Königs hing von dieser Bestätigung ab. Nicht zufällig versuchten später illegitime Könige, die die Macht an sich gerissen hatten, die matrilineare Sukzession abzuschaffen. Die Stellung der Königin, die gleichzeitig Hohepriesterin war, blieb bis weit ins 2. Jahrtausend hinein sehr stark. Die späteren Könige übernahmen dann sogar den Titel „meine Sonnengottheit“ für sich selbst.14

In Kilikien entsteht um 1500 v. Z. das hurritische Königreich Kizzuwatna, das „Land der Zauberpriesterinnen“15, das seine Unabhängigkeit von den Hethitern lange behaupten kann. In ihm wird eine Göttertrias verehrt, die aus dem Gott Tessub, der Göttin Hepat und ihrem Sohn Sarruma besteht (ähnlich der Dreiheit Osiris, Isis, Horus). Hepat, die zunächst vor allem in Nordsyrien und Südanatolien verehrt wird, ist auch mit den Namensformen DHA-A-BA-DU (Ebla), hba-eni („Mutter Heba“, Lykien) und Hipta (orphisch als Mutter des Dionysos) bezeugt.16 Kizzuwatna ist ein „Sammelbecken religiöser und magischer Überlieferungen, die manchmal bis in die hellenistische Epoche weitergereicht worden sind“17. Die Macht der Frauen ist bis 1200 v. Chr., als das Hethiterreich im Ansturm der Seevölker zusammenbricht, in ganz Kleinasien politisch und religiös noch sehr stark. Immer wieder klagen hethitische Könige darüber, dass ihre Frauen oder weiblichen Verwandten mithilfe von „Zauberweibern“ und schwarzer Magie gegen sie intrigieren. So beschuldigt König Mursili II. (1345 - 1315) die alte Königin, sie habe seine Frau von der Hexe Mezulla töten lassen und trachte auch ihm selbst und seinen Kindern nach dem Leben. Offensichtlich handelt es sich dabei um einen Machtkampf zwischen dem König, der das Prinzip der männlichen Erbfolge durchsetzten will, und der Königin-Hohepriesterin, die ihre alte Macht verteidigt:

Hier zeigt sich noch deutlich die Macht der alten Königin, die ja höchste priesterliche Würden bekleidete und sich oftmals in innenpolitischer Opposition zum König befand. Dass sich hier einst vorhandene, schon von Hattusili I. unterdrückte politische Rechte Geltung zu verschaffen suchten, steht wohl außer Frage.18

Die hethitische Geschichte liefert also ein besonders gutes Beispiel für den Übergang von einem matrilinearen Königtum mit entsprechender Thronfolge zum patrilinearen Königtum, und wie sich dieser Vorgang in der Mythologie widerspiegelt. Gerda Lerner resümiert:

Die frühe Herrschaftsform bei den Hatti stützte sich auf ein System, demzufolge das Recht der Nachfolge bei der tawananna lag, der Schwester des Fürsten. Das Königshaus der Hatti praktizierte die Geschwisterehe, ähnlich den Regelungen im ägyptischen Königshaus. Ein männlicher Herrscher heiratete seine Schwester, die als tawananna eine Priesterin mit beträchtlicher wirtschaftlicher und politischer Macht war und zum Beispiel das Recht hatte, von den Städten Steuern einzunehmen. Ihr Sohn erbte das Recht auf Thronfolge – nicht weil sein Vater König war, sondern weil das Recht auf die Thronfolge über die tawananna weitergegeben wurde. Das Amt war erblich, so dass die Tochter der tawananna, die ihr Amt erbte, eine ebenso wichtige Machtposition erhielt wie ihr Bruder. Als später die Geschwisterehe verboten wurde, blieb die tawananna in ihrem Amt als Priesterin und behielt die Macht zur Regelung der Nachfolge.19

Dieses System wurde zuerst von König Hattuschili I. in der Mitte des 2. Jahrtausends v. Z. in Frage gestellt, als er seinen Enkel zum Erben ernannte, was diesen in Konflikt mit seiner Tante brachte. Außerdem schaffte er das Amt der tawananna ab, ernannte sich selbst zum Oberpriester und begann, nach eigenem Gutdünken königliche Prinzessinnen als Priesterinnen der Göttin einzusetzen – ganz nach dem Vorbild von Sumer, in dem ähnliches schon viel früher geschehen war. Hattuschilis Dekret konnte die matrilineare Sukzession jedoch nur vorübergehend unterbrechen. Auch der Versuch von Hattuschilis Schwiegersohn Telipinu, um 1500 v. Z. die männliche Thronfolge erneut durchzusetzen, verlief im Sande. Die matrilineare Tradition bewies ihre Stärke noch gut hundert Jahre später, als König Tuthalija mit seiner Schwester in Streit geriet, da er sie beschuldigte, ihm mit Hexerei nach dem Leben zu trachten. Der Familienstreit wurde durch einen Kompromiss beendet, in dem man sich darauf einigte, dass der Sohn des Königs den Thron bestieg, die Tochter des Königs aber wieder tawananna wurde und das Amt der Priesterin des Sonnengottes (!) übernahm. Das war das letzte Mal in der Geschichte der Hethiter, dass ein Geschwisterpaar sich die weltliche und geistliche Macht teilte. Erst Schuppiluliuma I., der Gründer des „Neuen Reichs“, konnte die patrilineare Erbfolge endgültig durchsetzen, indem er das Amt der tawananna per Dekret seiner Frau übertrug.20 Doch noch König Hattuschili III. hielt es um 1250 v. Z. für angebracht, seine Frau Puduhepa zur Mitregentin zu ernennen und seine Usurpation des Thrones durch die Gunst der Göttin Ischtar zu rechtfertigen.

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