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Daniela

Frank startet den nagelneuen, roten Firmen-Truck und macht sich auf den Heimweg. Er ist heilfroh, wieder seine regelmäßige Lieblingsroute von Rosenheim nach Bergen in Norwegen und zurück zu fahren. Die Veränderungen der Landschaft bereiten ihm Freude, er kann stundenlang Radio hören und seinen Gedanken nachhängen. Doch die sind seit einiger Zeit so trübsinnig, dass er sich richtig deprimiert fühlt. Dabei könnte alles so schön sein.

Seine Frau Daniela und er haben sich jahrelang auf die Geburt ihres ersten Kindes gefreut und alles liebevoll, bis ins kleinste Detail, vorbereitet. Als Daniela dann endlich mit Maja schwanger war, hat sie Schritt für Schritt begonnen, ihr gemeinsames Leben auf den Kopf zu stellen. In welchem Ausmaß, wird ihm erst jetzt bewusst, als er den LKW vorsichtig durch einen skandinavischen Schneesturm lenkt, doch er mag diese Witterung, die den Trucker ganz fordert.

Nach ihren hektischen Arbeitstagen an einer Discounterkasse hat Daniela schon während der Schwangerschaft alle Freizeitaktivitäten auf Babypflege und Kleinkinderziehung ausgerichtet. Frank verschweigt ihr seine Meinung bis heute, doch sie hat sie eine viel zu teure Elternzeitschrift abonniert und überflüssige, teilweise sogar esoterische Volkshochschulkurse besucht. Er kann nicht einmal genau beschreiben, was seine Frau im Einzelnen gelernt hat. Die Schwangerschaftsgymnastik war für sie absoluter Kult. Vorsichtig wagt er erst zu protestieren, und zwar vergebens, als Daniela ihre gemeinsame Ernährung radikal umstellt. Sie kauft nur noch biologisch erzeugte Lebensmittel und kocht vegetarisch. Eigentlich eine tolle Idee. Insgeheim hofft Frank, langfristig seine Ernährungssünden etwas ausgleichen zu können. Vielleicht nimmt er ja auch etwas ab? Und er gibt auch gerne zu, dass die Fotos in dem Kochbuch, das Daniela im Internet bestellt hat, frisch und richtig appetitlich aussehen. Im Eingangskapitel steht außerdem etwas von Genießerküche. Nur die Kreationen, die Daniela daraus produziert, sind das absolute Gegenteil. Jedes Mal aufs Neue stellen sie sich als fade und völlig ungenießbar heraus. Lässt sie die Gewürze weg oder verdoppelt sie die Garzeit? Er hat keine Ahnung, warum sie plötzlich so ungenießbar kocht. Mittlerweile freut er sich heimlich auf Currywurst und Pommes frites oder einen großen Cheeseburger während seiner langen Touren.

Wenn er jetzt so darüber nachdenkt, hat sich Danielas außergewöhnliches Verhalten seit Majas Geburt noch weit extremer entwickelt. Dazu fällt ihm sofort diese schreckliche Szene ein, die seine Frau sofort nach der Entbindung ihren beiden jüngeren Schwestern, Heike und Andrea, im Krankenhaus gemacht hat. Während des ersten Besuches hat Daniela ihnen eröffnet, dass sie die kiffenden Zwillinge nicht in der Nähe ihrer kleinen Maja dulden wird. Nie wird Frank die entsetzten Gesichter von Heike und Andrea vergessen und er ist heute noch wütend, dass Daniela Familienangelegenheiten einfach alleine entscheidet, denn die Zwillinge sollten die Patinnen der kleinen Maja werden.

Auch die Auswahl des Kindergartens hat Daniela nur wenige Wochen später selbst in die Hand genommen. Obwohl gerade sie es sich während der Schwangerschaft ausgemalt hatte, wie schön es wäre, zusammen für ihr Kind einen geeigneten Kindergarten auszuwählen. Frank kann sich an diese Gespräche ganz genau erinnern. „Wir werden gemütlich auf unserem Sofa sitzen, bei Kaffee und Keksen und alle Info-Blätter durchsehen, die ich bekommen kann. Und natürlich recherchieren wir im Internet. Bis dahin nehme ich auch alle TV-Dokumentationen zu dem Thema auf, die sehen wir uns dann abends an und ich kann auch noch nach einer speziellen Elternzeitschrift suchen, vielleicht gibt's ja ein Sonderheft zu dem Thema? Was meinst du, Frank?“

„Ich find die Kekse super! Und übertreibst du nicht? Sollten wir uns nicht zuerst den Kindergarten hier im Viertel ansehen, vielleicht ist der ja schon okay?“ Erst im Rückblick bemerkt er, dass sie schon während dieser Gespräche aneinander vorbeigeredet haben. Und er fragt sich, während er langsam durch die Winterlandschaft fährt, zu langsam, denn der Kunde in Rosenheim hat sich schon zweimal telefonisch erkundigt, wann die Waren endlich ankommen, ob Daniela auch die Termine für die Vorsorgeuntersuchungen absichtlich in die Wochen seiner längeren Touren gelegt hat.

„Die Kinderärztin ist super beliebt. Und die Termine sind ganz schnell vergeben. Maja und ich schaffen das schon, sie macht die Tests mit links, ich bereite sie gut vor.“

„Du bereitest ein Kleinkind auf eine Vorsorgeuntersuchung vor? Spinnst du?“

Seit der Geburt der kleinen Maja scheint Daniela in einer Parallelwelt zu leben, ohne dass Frank es bisher realisiert hat. Das geht ihm erst hier in der weißen, weiten Schneelandschaft so richtig auf.

Daniela ist in Eile. Sie parkt das Auto im Halteverbot, nimmt Maja schnell aus dem Kindersitz und rennt mit ihrer Tochter auf dem Arm den bunt gepflasterten Weg hinauf zum Eingang des privaten Kindergartens „Bienenkorb“. Für Daniela ist das der Weg ins pädagogische Paradies.

„Tschüss, mein Schatz, bis heute Mittag. Ich wünsch dir viel Spaß. Mama holt dich wieder ab.“ Bis jetzt hat Maja kein Wort gesagt und antwortet auch nicht, um sich von ihrer Mutter zu verabschieden. Die kleine Figur trottet traurig in ihren Gruppenraum.

Als Daniela sich umdreht und blitzschnell hinaushasten will, steht Frau Müller-Sorge, die Leiterin des Kindergartens, plötzlich neben ihr. Nur der Mund lächelt, die Augen blicken Daniela kühl und forschend an. Auf der Stelle fühlt Daniela sich unbehaglich.

„Guten Morgen, Frau Fischer, ich sehe, Sie sind in Eile. Haben Sie heute in der Mittagszeit ein paar Minuten Zeit für ein kurzes Gespräch?“

Das Lächeln der Kindergartenleiterin verstärkt sich, doch Daniela fühlt sich sofort verunsichert. Sie bleibt abrupt stehen.

„Natürlich habe ich Zeit, Frau Müller-Sorge. Gibt es Probleme mit Maja?“ Daniela wirkt angespannt, sie beobachtet Frau Müller-Sorge aufmerksam.

„Nein, nein, ich möchte Ihnen nur einige Fragen stellen.“

„Aber?“

„Halb so wild, Frau Fischer, darüber sprechen wir heute Mittag, Sie sind ja jetzt sicher schon spät dran. Auf Wiedersehen!“

„Auf Wiedersehen!“

Daniela verlässt eilig und niedergeschlagen den Kindergarten, viel zu schnell fährt sie Richtung Supermarkt. Sie überschlägt sich fast, um pünktlich an ihrer Kasse zu sitzen. Den ganzen Vormittag über muss sie sich zwingen, nicht mit den Gedanken abzuschweifen. Es hat soviel Energie und Geld gekostet, Maja diesen privaten Kindergartenplatz zu ermöglichen und bis heute weiß Daniela nicht, wie sie es Frank beibringen soll, dass ihr uraltes Sparbuch aus Kindertagen Monat für Monat erheblich für die hohen Beiträge schrumpft. Vor allem die Zusatzangebote belasten das Sparbuch, denn sie hat einfach alles, was der Kindergarten anbietet, für ihre Tochter dazugebucht. Und das ist teuer. Majas Vormittag im Kindergarten wird ergänzt von Englischunterricht, musikalische Früherziehung, begleitet von Blockflötenunterricht und von Rhythmikunterricht. Wenn Frank längere Touren fährt, meldet sie Maja für den ganzen Tag im Kindergarten an und bucht für sie nachmittags noch die Kreativgruppe, die auch extra berechnet wird. An diesen Tagen isst Maja mittags im Kindergarten, Bio-Vollwertkost, die die Erzieherinnen frisch zubereiten. Das bedeutet dann einen weiteren Posten auf Danielas Rechnung. Ganz zu schweigen von den Kosten für die Ausflüge, die die Kleinen schon unternehmen. Aber genau diese Form der frühkindlichen Förderung hat Daniela sich für ihr Kind erträumt.

Sie unterzieht Maja täglich nach dem Abholen einem eingehenden Verhör, um möglichst viele Einzelheiten über den Kindergartenalltag zu erfahren. Aber ihre Tochter wird immer verschlossener, zeigt ihr nur widerwillig die Ergebnisse der Bastelstunden und ihre Bilder, die Daniela sofort überschwänglich lobt. Sie hört selbst, wie falsch ihre Stimme klingt, wenn sie fassungslos die Kastanienmännchen ohne Arme oder die pechschwarzen Bilder betrachtet. Aber irgendwann muss doch dieser hohe pädagogische und finanzielle Aufwand Früchte tragen. Es muss einfach klappen, weil sie, die Mutter, es so will. In der Grundschule soll Maja eine Einser-Schülerin werden und anschließend das Gymnasium besuchen. Vielleicht möchte die Kindergartenleiterin ihr ja gerade heute weitere Fördermöglichkeiten anbieten? Das wäre toll, aber noch teurer. Überstunden sind unmöglich, sicher fällt ihr noch etwas ein, wie sie schnell regelmäßig Geld beschaffen kann. Vor der Kindergartenleiterin hat Daniela riesigen Respekt, nur will sie sich das auf keinen Fall anmerken lassen.

Als sie mittags wieder am Kindergarten ankommt, findet sie diesmal einen Parkplatz, bewusst ruhig betritt Daniela den Kindergarten. Als erstes schaut sie durch das Fenster in Majas Gruppenzimmer. Der Vormittag klingt mit einer Freispielzeit aus. Mit zwei anderen Kindern springt Maja ausgelassen auf einer dicken Matte auf und ab. So hat sie Maja seit Wochen nicht mehr gesehen. Daniela dreht um und geht aufrecht zum Büro der Leiterin, die sie schon erwartet. Nach der Begrüßung setzen sich die beiden Frauen zum Gespräch. Schon nach wenigen Augenblicken bemerkt Daniela, dass hier etwas völlig falsch läuft.

„Frau Fischer, alles in Ordnung? Geht es Ihnen nicht gut?“

„Doch, doch, alles gut! Ich frage mich nur, ob ich das gerade richtig verstanden habe? Wir sprechen doch über Maja?“

„Aber natürlich sprechen wir über Maja. Frau Fischer, Majas Gruppenleiterin, hat mir erzählt, welche Pläne Sie in nächster Zeit mit Maja haben. Deshalb haben wir Maja regelmäßig Bilder und Basteleien mit nach Hause gegeben, damit Sie einen Eindruck von dem Entwicklungsverlauf Ihrer Tochter bekommen. Wir vermuten, dass alles zusammen einfach viel zu viel Förderung für Maja darstellt. Wir sind der Meinung, dass Maja wesentlich mehr Zeit braucht, die pädagogischen Angebote zu verarbeiten. Sie blüht im freien Spiel auf. Ich vermute, das haben Sie gerade auch beobachtet. Frau Fischer, ich lade Sie herzlich ein, hospitieren Sie mal einen Vormittag bei uns und Sie werden mich verstehen. An einem solchen Vormittag kann ich Ihnen auch in Ruhe Einzelheiten erklären. Jetzt kann ich nur sagen, Sie verlangen zu schnell Ergebnisse von Maja.“

„Hospitieren?“

„Ja, verbringen Sie einen Vormittag als Gast in der Gruppe Ihrer Tochter. Das hat sich wirklich bewährt.“

Daniela runzelt die Stirn, sie versteht die Problematik noch immer nicht.

„Auf keinen Fall! Maja wird im Sommer eingeschult, schreibt gute Noten und besucht dann das Gymnasium!“

„Frau Fischer, Sie haben mich immer noch nicht ganz verstanden, wir bezweifeln stark, dass Maja bis zum Sommer die Schulreife erreichen kann!“

Daniela wird blass, richtet sich aber kerzengerade auf. Sie schreit „Nein, nein, Sie haben ja keine Ahnung, überhaupt keine!“

„Frau Fischer, es ist ausgeschlossen, dass Maja bis dahin zur Schulreife gelangt! Das brauchen wir gar nicht zu diskutieren. Bitte überlegen Sie zu Hause noch einmal in Ruhe, ob Sie nicht doch in der Gruppe hospitieren möchten, um sich selbst zu überzeugen. Wir freuen uns. So, und jetzt muss ich sehen, dass alle unsere Kinder gut nach Hause kommen. Wann lernen wir eigentlich mal Ihren Mann kennen?“

Daniela blickt bei dieser Frage entsetzt auf und murmelt etwas Unverständliches. Verstört verlässt sie das Büro und holt ihre Tochter ab. Frau Müller-Sorge wartet schon an der Ausgangstür auf sie.

„Auf Wiedersehen, Frau Fischer, tschüss Maja, bis morgen. Hattest du einen schönen Vormittag, ja? Frau Fischer, bitte lassen Sie sich unser Gespräch noch einmal durch den Kopf gehen und nutzen Sie das Angebot. Vielleicht möchten Sie ja auch noch eine andere professionelle Meinung hören oder Sie besprechen sich mit Ihrem Kinderarzt? Wie wäre das? Also, bis dann, Frau Fischer, alles Gute!“

Daniela blickt die Kindergartenleiterin leer an. Sie nickt ihr zum Abschied nur zu und zerrt Maja ungeduldig hinter sich her.

Zuhause angekommen, parkt Daniela hastig auf dem Parkplatz vor ihrer Wohnanlage. Im Treppenhaus sind ihre Nachbarinnen, Frau Leitinger und Frau Michel, die mit ihrer Familie erst vor ein paar Wochen in das Sechsfamilienhaus eingezogen ist, in ein Gespräch vertieft und grüßen nur flüchtig, als Daniela und Maja vorübergehen. Im ersten Stock, vor ihrer Wohnungstür, steht Daniela und sucht wieder einmal aufgeregt in ihrer Handtasche nach dem Wohnungsschlüssel. Die Haustür unten war nur angelehnt. Plötzlich horcht sie auf, weil unten ihr Namen fällt.

„Ja, die Frau Fischer, müssen Sie wissen, Frau Michel, ist so eine moderne, ehrgeizige Supermutter. Das kleine Mädchen kann einem Leid tun. Das Kind geht ja in so einen teuren, privaten Kindergarten. Wenn Sie mich fragen, hat das kleine Mädchen da nur Stress. Jedenfalls ist das Kind total verändert, seit es in diesen Kindergarten geht, überhaupt nicht mehr fröhlich, spricht nicht mehr, lacht nicht mehr, wirkt richtig verstört. Aber kann man das richtig beurteilen, so von außen? Und die Frau Fischer arbeitet ja im Supermarkt, an der Kasse. Und wissen Sie was? Die kauft doch tatsächlich dieses neumodische Essen für das Kind. damit es besser lernt. Na, wie heißt das noch? Brain food, genau. Bringt sie natürlich aus dem Supermarkt mit, billiger. Kraftfutter für das Kind, sag' ich immer. Kann doch nicht gut sein. Ich frage mich, was wohl der Herr Fischer dazu sagt. So ein netter Mann, und so bodenständig. LKW-Fahrer ist der, richtiger Trucker. Und gut sieht der aus …“

Jetzt kichern sie auch noch.

Mit zitternden Händen schließt Daniela die Wohnungstür auf, ganz leise, den Schlüssel hat sie erst im dritten Anlauf gefunden. Maja sitzt müde und ausgepumpt auf einer Treppenstufe. Plötzlich fasst Daniela einen Entschluss. Sie zieht ihre Tochter von der Treppe hoch.

„Magst du zwei Stunden bei Frau Behrend bleiben, ja? Bis Papa kommt und dich abholt? Wie findest du das?“

Maja nickt nur müde. Die beiden steigen noch eine Treppe weiter nach oben und klingeln. Eine alte, sympathische Dame öffnet. Sie ist klein, ihr eisengraues Haar ist zu einem Haarknoten frisiert. Sie trägt Jeans und einen bunten Fleecepulli.

„Hallo, ihr zwei, schön euch zu sehen! Stimmt etwas nicht, Frau Fischer, Sie sind ja ganz blass?“

„Doch, doch, alles in Ordnung. Frau Behrend, kann Maja für gut zwei Stunden bei Ihnen bleiben bis mein Mann von der Bergen-Tour nach Hause kommt? Ich muss noch etwas ganz Dringendes erledigen und kann Maja unmöglich mitnehmen.“

„Ja, natürlich! Ich hoffe, du hast noch nicht gegessen, Maja, mein Schatz. Ich habe nämlich eine schöne Kartoffelsuppe mit Majoran gekocht. Wieder ein Rezept aus einer Kochshow und das ist viel zu viel für mich alleine.“

Maja schüttelt nur den Kopf.

„Na, dann komm mal rein, du kennst dich ja aus bei mir.“

Frau Behrend ist sichtlich erfreut, Daniela erleichtert, nur Maja macht einen gleichgültigen Eindruck.

„Tschüss, Frau Behrend und ganz herzlichen Dank, ich bin schrecklich in Eile, tschüss Maja!“

Sie küsst ihre kleine Tochter zum Abschied, dreht sich abrupt um, damit die beiden ihre Tränen nicht sehen und eilt die Treppe zu ihrer Wohnungstür hinunter.

In ihrer Wohnung reißt Daniela sofort den Kleiderschrank auf, nimmt ohne lange zu überlegen Kleidung für einen längeren Urlaub in der Sonne heraus, im Bad sammelt sie ihre Kosmetika ein. Dann stürmt sie in den Keller und beginnt in der hintersten Ecke zu suchen. Mit ihrem alten Interrailrucksack auf dem Arm verlässt Daniela den Keller. Oben, in der Wohnung, stopft sie wahllos die Kleidung, die schon auf dem Bett liegt, in den Interrailrucksack, nimmt Brieftasche und Handy aus ihrer Handtasche und verstaut sie sicher im Rucksack. Zum Schluss setzt sie sich noch einmal an den kleinen, wackeligen Küchentisch und schreibt eine kurze Notiz an Frank:

„Hallo, Schatz! Holst du bitte Maja bei Frau Behrend ab? Danke, Daniela“.

Schnell verlässt sie die Wohnung, ohne nachzudenken.

Daniela nimmt die Buslinie 2 zum Flughafen. Seit mehreren Jahren war sie nicht mehr hier und staunt über die Modernisierungen. Zuerst sucht sie das Flughafenreisebüro und erkundigt sich nach günstigen Last-minute-Flügen.

„Wohin soll es denn gehen, so spontan? Sie fliegen doch sicher zu zweit?“

Eine freundliche, junge Angestellte sitzt hinter dem Schalter.

„Ich fliege allein, egal wohin, wichtig ist nur, dass es warm ist.“

Daniela antwortet fest, und hofft, dass ihre Tränen nicht mehr zu sehen sind.

„Wie lange möchten Sie bleiben?“

Daniela zögert kurz. „Vier Wochen?“

„Okay, …“ Die junge Frau, deren Namensschild auf dem Kopf steht, so dass Daniela es nicht lesen kann, greift in das Regal hinter sich und legt zwei Kataloge auf den Schreibtisch. „Sorry, mein Rechner ist gerade abgestürzt.“ Nach einigem Blättern zeigt sie Daniela zwei kleine Hotelanlagen, die eine auf Kuba, die andere in Mexiko. „Beide Flüge gehen noch in den nächsten zwei Stunden. Sie können für vier Wochen buchen, im 3-Sterne-Hotel, Halbpension. Bustransfer inklusive in der Nebensaison. Und, was meinen Sie?“

Daniela überlegt, sagt spontan „Ich nehm' Kuba!“

„Prima!“ Die junge Frau strahlt und beginnt mit der Buchung. Im Hinausgehen sagt Daniela noch „Ich brauche den Rückflug übrigens nicht!“

Die Angestellte blickt ihr überrascht nach. Danach hebt Daniela einen Teil ihrer Ersparnisse ab und gibt den Rucksack auf. Bevor sie eincheckt, entfernt sie die SIM Karte aus ihrem Handy und wirft sie in den nächsten Mülleimer.

Wie in Trance geht Daniela über die Gangway. Sie wirft keinen Blick zurück.

Dieter

Dieter liegt in seinem Bett und streckt sich im morgendlichen Sonnenlicht. Ausgiebig gähnt er, öffnet die Augen. Ein paar Minuten hat er gedöst, um sich seinen Lebenstraum noch einmal intensiv auszumalen. Das war sein letzter Tagtraum, davon ist er fest überzeugt, denn heute will er in sein neues Leben starten. Und zwar genau so, wie es ihm vorschwebt.

Bei Freunden und Arbeitskollegen der Werbeagentur, in der er als Texter angestellt ist, stößt sein Lebenstraum auf entschiedene Ablehnung. Schlicht lautet der Standardkommentar: „Spießer!“

Dieter wird nicht müde zu erklären, dass er sich nichts sehnlicher wünscht, als eine feste, dauerhafte Beziehung zu einer soliden, treuen Frau. Es sind die ganz alltäglichen Dinge, die in seinen Träumen vorkommen, lange Spaziergänge, ein Einkaufsbummel oder ein romantisches Candle-Light-Dinner. Intimeres stellt Dieter sich nicht vor, das verweigert er sich selbst ganz strikt. Umso bunter, lebhafter und detaillierter sieht er bereits vertraute Alltagssituationen vor sich. Seine Kollegen gehen da direkter vor. Für alle Mitarbeiter sichtbar, platzieren sie Erotik-Kataloge auf Dieters Schreibtisch in der Agentur. Hektisch lässt er die Prospekte in einer Schreibtischschublade verschwinden und verbringt die Mittagspause bitterlich weinend im Waschraum. Seine rot geweinten Augen spült er am Waschbecken gründlich mit eiskaltem Wasser und ist froh, dass er den Kollegen niemals ein Wort von seinem größten Wunsch, nämlich möglichst bald zu heiraten, gesagt hat. Niemand vermisst ihn in der Kantine.

„Oh nein! Nein, nein! Ist das geil! Das fass' ich einfach nicht!“ Fasziniert starrt Jenny auf den Computerbildschirm. Sie schüttelt ungläubig den Kopf und fährt sich mit den extravagant in zwei Pinktönen lackierten, langen Fingernägeln durch ihren perfekt geschnittenen, blonden Kurzhaarschnitt.

„Was ist denn los?“, fragt ihre Freundin und Mitbewohnerin Leonie.

„Ich chatte mit Husband2000 doch erst seit zwei Wochen, oder nicht, Leonie?“

„Meinst du etwa diesen Werbe-Spießer aus dem Single-Chat?“

„Ja, und er will sich mit mir treffen, hat eine piekfeine Dinnereinladung geschickt. Italienisch, zum Glück.“

Nervös zupft sie zuerst an ihrem rosafarbenen Pulli, danach bewegt sie den farblich passenden, glitzernden Anhänger blitzschnell an der Halskette auf und ab.

„Gleich reißt er ab, Jenny!“, warnt Leonie und starrt fasziniert auf die Kette, zögernd fragt sie ihre Freundin: „Du willst da doch nicht etwa hingehen, oder?“

„Klar geh' ich! Ich lass mir doch nicht ein Essen bei einem Nobel-Italiener in Bogenhausen entgehen.“

Leonie sieht sie verständnislos an. „Was habt ihr Münchner nur alle mit Bogenhausen? Für ein italiensches Essen in Bogenhausen willst du dich mit einem wildfremden, durchgeknallten, spießigen Werbetexter treffen?“

„Klar! Und er hat extra für mich eine Einladung entworfen. Nur für mich, Leonie. Du bist doch nur neidisch.“

„Ich bin nicht neidisch. Bin ich nie, dass weißt du doch. Schon mal dran gedacht, dass er die Einladung jeder schickt, mit der er chattet?“

Jenny nickt, fast schon schuldbewusst. „Ja, ich weiß, dass du nicht neidisch bist … Aber pessimistisch bist du, wie immer. Und die Einladung ist bestimmt nur für mich, da bin ich sicher, ich fühl' das. Freu dich doch, dass er mich so schnell einlädt.“

Leonie schüttelt den Kopf. „Oh nein, ich find es verdächtig. Und komisch find ich den Kerl auch. Husband2000, was soll das eigentlich für ein Mitgliedsname sein? Hast du darüber mal nachgedacht? Willst du das, Jenny?“

„Du interpretierst da wieder viel zu viel rein, Leonie und siehst viel zu schwarz. Willst du mir den Spaß an dem Abend verderben? In der Parfümerie muss ich immer perfekt aussehen, immer höflich sein, alle neuen Produkt in und auswendig kennen und wehe nicht. Ach, Scheiße.“

„Jenny, ich möchte doch nur, dass du vorsichtig bist und dass du auch wieder nach Hause kommst.“

Jenny sieht ihre Freundin verblüfft an. „Jetzt übertreib' mal nicht, Leonie. Kannst du nicht verstehen, dass ich mich abends mal so richtig aufstylen möchte, nicht nur für die Parfümerie? Und die reichen Tussis behandeln mich dann immer noch so abfällig, als ob ich der letzte Dreck wär'. Wie oft hab ich dir das schon erzählt!“

Leonie verliert allmählich die Geduld mit ihrer Freundin bei soviel Leichtsinn. „Du bist dann wenigstens das schönste Mordopfer des Jahres!“ Sie rauscht aus dem Zimmer, die Tür knallt hinter ihr zu. In aller Ruhe beginnt Jenny, die ersten Kleidungsstücke für den Abend auszuwählen.

Am Abend wartet Dieter im Gallo d'oro. Das kleine Lokal ist stimmungsvoll mit Kerzenlicht beleuchtet, im Hintergrund spielt leise italienische Musik. Weil er fest entschlossen ist, sich heute Abend zu verloben, trägt Dieter einen dunklen Anzug.

Ungeduldig beobachtet er die Tür, zerpflückt allmählich die rote Rose, die vor ihm auf dem Tisch liegt. Immer wieder versucht er in Gedanken, seine einleitenden Worte durchzugehen, aber selbst das misslingt ihm. Wünsche und Satzfetzen wirbeln in seinem Kopf durcheinander. Den festlich gedeckten Tisch hat der Ober schon zweimal diskret wieder hergerichtet und ihm ermutigend zugelächelt. Dieter sieht zur Sicherheit noch einmal auf die Uhr, seine PinkLady hat jetzt mindestens fünfzehn Minuten Verspätung. Sein Handy zeigt keine neue SMS an, obwohl seine PinkLady sich im Chat doch so mitteilungsfreudig gibt. Hektisch blickt er noch mal zur Tür und erstarrt, als eine junge Frau, von Kopf bis Fuß in unterschiedlichen Rosatönen gekleidet, hereinrauscht. Das darf doch nicht wahr sein. Wortwörtlich hatte er sich das eigentlich nicht vorgestellt. Barbie alive, denkt der Werbetexter Dieter und schiebt den Gedanken sofort beiseite. Vielleicht ist sie ja nicht seine PinkLady? So jung, so flippig. Dieter fühlt sich jetzt völlig verunsichert.

Selbstbewusst steht die junge Frau im Lokal. Jung, schlank, attraktiv und sehr auffällig. In aller Ruhe schaut sie sich um, scheint sogar die Aufmerksamkeit der anderen Gäste zu genießen, dann steuert sie lächelnd auf Dieter zu und bleibt vor ihm stehen.

Sie streckt die Hand aus und sagt mit kindlich heller Stimme „Ich bin PinkLady. Ich mein, ich heiße Jenny. Bist du Husband2000? Und wie heißt du?“

Dieter sitzt steif auf seinem Stuhl und macht nicht einmal den Versuch, aufzustehen. Er starrt Jenny nur ungläubig an.

„Du bist gar nicht meine Verabredung? Sorry, Mann!“ Sie dreht sich um und mustert aufmerksam die anderen Tische.

Dieter sagt in ihrem Rücken „Entschuldige, natürlich bin ich deine Verabredung. Ich heiße Dieter. Setz dich doch, bitte.“

Sie blickt über die Schulter, lächelt entwaffnend.

Als die beiden bei einem Sanbitter auf ihre Pasta warten, beruhigt sich Dieter etwas, während Jenny zur Hochform aufläuft. Ohne Punkt und Komma plappert sie über italienisches Essen, ihre Vorliebe für die Farbe Pink, Freundin Leonie, Partys, und, und, und. Dieter fragt sich, ob sie überhaupt Luft holt. Ein ernsthaftes Thema streift sie nicht einmal am Rand und Dieters Enttäuschung wird immer größer. Per Internet waren ihre gemeinsamen Gespräche ganz anders verlaufen, erwachsen, manchmal sogar richtig tiefsinnig. Deshalb weiß er ja so genau, dass sein Lebenstraum sich heute erfüllen wird. Soll er sich auf sein Gefühl verlassen und einfach fragen?

Er beobachtet die junge, schrille und egozentrische Person, die ihm gegenübersitzt und die ihm bis jetzt keine einzige persönliche Frage gestellt hat.

Endlich fasst er sich ein Herz und unterbricht Jennys Redestrom. „Wie stellst du dir denn deine Lebensplanung so vor? In den nächsten Jahren, mein ich?“ So einem sensiblen Thema will er sich vorsichtig nähern. Jenny überrascht ihn mit ihrer Antwort.

„Ich möcht' soviel Party wie möglich machen! Bei dem Job in der Parfümerie brauch' ich das einfach, so als Ausgleich.“

Wie versteinert sitzt Dieter auf seinem Stuhl.

„Ja, und geile Klamotten will ich!“

Das darf doch nicht wahr sein! Was geschieht gerade mit seinem Traum, der heute wahr werden soll? So schnell gibt Dieter nicht auf. „Nein, ich meine natürlich ernsthafte Pläne, Jenny, so für die nächsten zwei, drei Jahre.“ Er gibt sich einen Ruck, seine Gefühle können nicht falsch sein, unmöglich. Jetzt! Entschlossen greift er über den kleinen Tisch nach ihrer Hand. „Was ich eigentlich meine … Möchtest du meine Frau werden?“

Jennys fröhliches Lachen schallt durch das ganze Lokal. „Bist du total verrückt? Deshalb dein bescheuerter Mitgliedsname! Ich wollte nur schick italienisch essen, bevor ich nachher auf die angesagte Schwabinger Single-Party gehe.“

Fassungslos sieht Dieter sie an, er hat das Gefühl, alles in ihm wird ausgelöscht, für immer. In seinem Kopf hämmert es ohne Unterlass: „Mein Traum! Mein Lebenstraum! Mein armer Lebenstraum!“

Jennys schrille Stimme holt ihn wieder unsanft in die Realität: „Dieter? Das hast du doch nicht ernst gemeint, oder? Sag doch was!“ Scharf beobachtet sie Dieter ein paar Sekunden. „Scheiße, Mann! Immer hat Leonie Recht mit ihren blöden Andeutungen! Egal. Ich will jetzt zu der Party!“

Dieter gibt sich einen Ruck, versucht zu lächeln. Irgendwie schafft er es zu funktionieren. „Ja, natürlich, die Single-Party. Ich bezahl' die Rechnung, dann bring ich dich zur S-Bahn.“

Jenny nickt erleichtert. Als sie das Lokal verlassen, macht Dieter einen entspannten Eindruck auf sie. Schweigend gehen die beiden Richtung S-Bahn-Station, Dieter wie ein Schlafwandler, Jenny redet schon wieder in Endlos-Schleife, erzählt von den Party-Gästen, die sie kennt und über ihre bevorzugten Outfits. Die Schweigsamkeit ihres Begleiters fällt ihr nicht auf, denn ausführlich beschreibt sie das vierte Partykleid.

Wie immer ist der Bahnsteig am Samstagabend hoffnungslos überfüllt. Als Jenny auf die Anzeigetafel schaut, die ihren Zug in weniger als einer Minute ankündigt, sagt sie beiläufig:

„Ach übrigens, tolles Essen, danke. Aber viel mehr freu' ich mich jetzt auf die Party!“

Dieter nickt, Jenny blickt ungeduldig in den Tunnel. In dem Moment kommt der Zug aus dem Dunkel geschossen. Kurz entschlossen gibt Dieter ihr einen kräftigen Stoß. Als rosa Knäuel fällt Jenny direkt vor den einfahrenden Zug. Im Tumult der schreienden Menschen und kreischenden Bremsen dreht Dieter sich um. Ruhig verlässt er den S-Bahnhof.

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Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
Объем:
270 стр.
ISBN:
9783959632263
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